JudikaturJustiz4Ob35/22h

4Ob35/22h – OGH Entscheidung

Entscheidung
29. März 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ. Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon. Prof. PD Dr. Rassi und MMag. Matzka sowie die Hofrätin Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J* D*, vertreten durch Tischler Tischler Rechtsanwälte GmbH in Klagenfurt am Wörthersee, gegen die beklagte Partei L*, vertreten durch Dr. Elisa Florina Ozegovic und Dr. Ernst Maiditsch, Rechtsanwälte in Klagenfurt am Wörthersee, wegen 35.140,92 EUR sA und Feststellung (Streitwert 3.000 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Teilzwischen und Teilurteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 12. Jänner 2022, GZ 4 R 195/21k 41, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Der Kläger wurde am 30. September 2018 wegen Schmerzen im Gesäß vom Notarzt an die Chirurgie im Krankenhaus der beklagten Anstalt öffentlichen Rechts überwiesen. Der diensthabende Arzt stellte die (falsche) Diagnose einer schmerzhaften Überlastungsreaktion am Sehnenansatz (Ansatztendinopathie) am linken Sitzbeinhöcker, empfahl dem Kläger als Therapie die körperliche Schonung, die Einnahme von Medikamenten, lokale kryotherapeutische Anwendungen sowie eine Wiedervorstellung bei Beschwerdepersistenz oder Beschwerdezunahme.

[2] Wegen zunehmender starker Schmerzen wurde der Kläger am 4. Oktober 2018 mit dem Rettungstransport und neuerlich in die orthopädische Ambulanz der beklagten Partei gebracht, wo letztlich die (richtige) Diagnose eines septischen Perianalabszesses links gestellt und der Kläger noch am gleichen Tag an der Abteilung für Chirurgie der beklagten Partei operiert wurde. Am 5. und 6. Oktober 2018 erfolgten weitere Revisionsoperationen, am 9. Oktober 2018 wurde ein künstlicher Darmausgang gelegt. Der Kläger wurde bis zum 12. Oktober 2018 auf der Intensivstation behandelt und konnte am 19. Oktober 2018 in gutem und schmerzfreien Allgemeinzustand mit blanden Wundverhältnissen entlassen werden. Am 18. März 2019 wurde der künstliche Darmausgang operativ entfernt, wobei ein Kunststoffnetz zum Bruchverschluss verwendet wurde. Am 27. März 2019 wurde der Kläger wiederum entlassen. Aufgrund einer postoperativen Wundheilungsstörung wurde der Kläger am 30. März 2019 erneut stationär bei der beklagten Partei aufgenommen. Diese aufgetretene Komplikation wurde entsprechend behandelt und der Kläger am 1. April 2019 wieder entlassen.

[3] Da die chronische Infektion des verbauten Kunststoffnetzes im Bereich des ehemals künstlichen Darmausgangs trotz der Ausschöpfung lokaler Wundbehandlungsmöglichkeiten nicht beseitigt werden konnte, wurde das Netz während eines weiteren dreitägigen stationären Aufenthalts des Klägers am 13. März 2020 entfernt.

[4] Die (richtige) Diagnose eines Perianalabszesses bzw einer behandlungsbedürftigen entzündlichen Läsion im Perianalbereich links wäre – bei Zuweisung von der zentralen Notaufnahme an die richtige Fachabteilung und Vornahme einer Laboruntersuchung, die einen Hinweis auf das Vorliegen eines entzündlichen Geschehens ergeben hätte – bereits am 30. September 2018 möglich gewesen. Die an jenem Tag erfolgte Abklärung war unvollständig und nicht lege artis.

[5] Aufgrund der verspäteten Diagnose und der dadurch eingetretenen Behandlungsverzögerung von vier Tagen kam es zu einem Fortschreiten der entzündlichen/abszedierenden Läsion im Perianalbereich links. Bei rechtzeitiger Diagnose und früherer Intervention wäre es nicht zu diesem schweren Verlauf gekommen. Die Diagnose und die Behandlung des Klägers ab dem 4. Oktober 2018 erfolgten lege artis. Die aufgetretene Komplikation einer Wundheilungsstörung und eines chronischen Netzinfektes sind schicksalhaft und wurden entsprechend dem aktuellen Stand der Medizinwissenschaft behandelt.

[6] Der Kläger begehrt von der Beklagten 27.000 EUR als Schmerzengeld und 8.140,92 EUR als Verdienstentgang sowie die Feststellung von deren Haftung für sämtliche zukünftige Schäden aus dem Behandlungsfehler vom 30. September 2018. Bei rechtzeitiger Diagnose des Perianalabszesses und umgehender Behandlung wären dem Kläger der komplikationsbehaftete Heilungsverlauf mit multiplen Folgeeingriffen, künstlichem Darmausgang und postoperativer Wundheilungsstörung und die damit einhergehenden Schmerzen erspart geblieben und er hätte früher wieder seine Arbeit als angestellter Elektriker aufnehmen können. Er leide nach wie vor an rezidivierenden Schmerzen im Operationsgebiet und sei zunehmend wetterfühlig.

[7] Die Beklagte wandte ua ein, dass eine um vier Tage frühere Diagnosestellung den weiteren – schicksalhaften – Verlauf nicht wesentlich verändert hätte.

[8] Das Erstgericht sprach dem Kläger 1.100 EUR sA rechtskräftig zu und wies das übrige Zahlungsbegehren und das Feststellungsbegehren ab. Neben dem eingangs referierten Sachverhalt traf es eine Negativfeststellung, wonach nicht festgestellt werden kann, ob alle oder auch nur einzelne der Folgeoperationen samt damit zusammenhängender Komplikationen bei rechtzeitiger Diagnose am 30. September 2018 und Behandlung nicht notwendig geworden wären.

[9] Das Erstgericht warf den Ärzten der Beklagten einen Behandlungsfehler in Form einer verschuldet verspäteten Diagnosestellung vor. Sie habe ihm daher für jene vier Tage Schmerzengeld von 1.100 EUR zu zahlen, an denen er bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung nicht hätte Schmerzen erdulden müssen. Die aufgrund seiner Grunderkrankung erlittenen Schmerzen seien hingegen nicht ersatzfähig. Die Negativfeststellungen gingen zu Lasten des Klägers, sodass sein weiteres Zahlungsbegehren und das Feststellungsbegehren nicht berechtigt seien.

[10] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und änderte das Ersturteil hinsichtlich des Feststellungsbegehrens im stattgebenden Sinn ab. Über das Zahlungsbegehren fasste es ein Teilzwischenurteil, wonach das Klagebegehren von weiteren 25.900 EUR sA (Schmerzengeld) dem Grunde nach zu Recht bestehe. Im Übrigen (Leistungsbegehren wegen des Verdienstentgangs) hob es das Urteil zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung auf.

[11] In rechtlicher Hinsicht vertrat es die Ansicht, dass dem Kläger der Nachweis eines Behandlungsfehlers in der Form einer verzögerten Erstellung der richtigen Diagnose gelungen sei. Es stehe auch fest, dass es bei rechtzeitiger Diagnose und früherer Intervention nicht zu diesem schweren Verlauf gekommen sei. Damit habe der Kläger nachgewiesen, dass die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts durch die Diagnoseverzögerung nicht bloß unwesentlich erhöht worden sei. In einem solchen Fall sei der beklagte Arzt (bzw hier: der Krankenhausträger) dafür beweispflichtig, dass der Behandlungsfehler für die nachteiligen Folgen mit größter Wahrscheinlichkeit unwesentlich geblieben sei. Die Negativfeststellung (zur Notwendigkeit der Folgeoperationen bei rechtzeitiger Diagnose) gehe daher zu Lasten der Beklagten, weshalb auf die Beweisrüge des Klägers, mit der dieser eine positive Feststellung im Sinne seines Vorbringens anstrebte, nicht einzugehen sei.

Rechtliche Beurteilung

[12] In der dagegen erhobenen außerordentlichen Revision der Beklagten zeigt diese keine erhebliche Rechtsfrage auf.

[13] 1. Das Berufungsgericht hat die Grundsätze der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zu Beweisfragen im Arzthaftungsprozess zutreffend referiert.

[14] 1.1 Bei möglicherweise mit ärztlichen Behandlungsfehlern zusammenhängenden Gesundheitsschäden von Patienten sind demnach wegen der besonderen Schwierigkeiten eines exakten Beweises an den Kausalitätsbeweis geringere Anforderungen zu stellen (RIS Justiz RS0038222 [T3]). Steht demnach ein ärztlicher Behandlungsfehler fest und ist es unzweifelhaft, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts dadurch nicht bloß unwesentlich erhöht wurde ( RS0038222 [T7, T9, T11]), kommt es für den Patienten zu einer Beweiserleichterung für das (Nicht )Vorliegen der Kausalität ( RS0038222 [T7, T9, T11]). Dem Beklagten (Arzt oder Krankenanstaltenträger) obliegt nämlich in diesen Fällen der Beweis, dass im konkreten Behandlungsfall das Fehlverhalten mit größter Wahrscheinlichkeit nicht kausal für den Schaden des Patienten war ( RS0026768 [T7]). Es kehrt sich in diesen Fällen also die Beweislast für das (Nicht-)Vorliegen der Kausalität um ( RS0038222 [T7, T9, T11]; RS0026768 [T4]), was aber voraussetzt, dass eben der Patient neben dem Behandlungsfehler auch die nicht bloß unwesentliche Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts durch den ärztlichen Fehler nachweist.

[15] 1.2 Der Senat hat zuletzt klargestellt, dass diese Beweiserleichterung für den Patienten auch bei Diagnosefehlern gilt, die zu einer verspäteten Behandlung geführt haben ( 4 Ob 28/20a ; vgl auch 1 Ob 189/20f [Unterlassung einer Operation zu einem fachlich gebotenen früheren Zeitpunkt]).

[16] 2. Wegen des nachgewiesenen Behandlungsfehlers (von dem auch das Rechtsmittel ausgeht) und der Feststellung, dass es deshalb (arg „aufgrund der verspäteteten Diagnose“) zu einem „Fortschreiten der Läsion“ bzw „zu diesem schweren Verlauf gekommen ist“, wirft die Anwendung der referierten Beweiserleichterung keine erhebliche Rechtsfrage auf. Entsprechendes gilt für die Schlussfolgerung des Berufungsgerichts, die Beklagte habe mit Blick auf die Negativfeststellung nicht nachgewiesen, dass der Behandlungsfehler für die vom Kläger behaupteten nachteiligen Folgen nicht kausal war.

[17] 3. Der Beklagten gelingt es nicht, einen Widerspruch der angefochtenen Entscheidung zu den gesicherten Grundsätzen der herrschenden Rechtsprechung aufzuzeigen. Soweit im Rechtsmittel unter Bezugnahme auf das Sachverständigengutachten behauptet wird, der Kläger habe nicht nachweisen können, dass mit dem Diagnosefehler eine nicht bloß unwesentliche Erhöhung der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts verbunden war, entfernt sich die Beklagte von den getroffenen Feststellungen.

[18] 4. Da die außerordentliche Revision damit insgesamt keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO aufzeigt, die einer Klärung durch den Obersten Gerichtshof bedürfte, ist sie zurückzuweisen.