JudikaturJustiz2Ob17/12g

2Ob17/12g – OGH Entscheidung

Entscheidung
07. August 2012

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. mj A***** I*****, geboren ***** 1995, 2. N***** I*****, und 3. A***** I*****, vertreten durch Dr. Charlotte Böhm, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. G***** K*****, 2. K***** GmbH, *****, und 3. G***** AG, *****, alle vertreten durch die Eisenberger Herzog Rechtsanwalts GmbH in Graz, wegen 92.396 EUR sA (Erstklägerin), 27.410 EUR sA (Zweitklägerin) und 24.260 EUR sA (Drittkläger), über die Revision der beklagten Parteien (Revisionsinteresse 51.670 EUR) gegen das Zwischenurteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 23. August 2011, GZ 3 R 47/11y 129, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 28. Jänner 2011, GZ 44 Cg 40/10h-117, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass sie samt dem rechtskräftigen Teil zu lauten hat:

„Das Klagebegehren, die beklagten Parteien zur ungeteilten Hand schuldig zu erkennen, der Erstklägerin 92.396 EUR sA, der Zweitklägerin 27.400 EUR sA und dem Drittkläger 24.600 EUR sA zu bezahlen, besteht dem Grunde nach hinsichtlich der Erstklägerin zur Gänze und hinsichtlich der Zweitklägerin und des Drittklägers zu zwei Drittel zu Recht.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.“

Text

Entscheidungsgründe:

Am 6. März 2004, um 23:35 Uhr, kollidierte auf der zweispurigen Autobahn A2 in Fahrtrichtung Wien im Gemeindegebiet von Ligist (im Unfallbereich war eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h verordnet) der vom Erstbeklagten gelenkte, von der Zweitbeklagten gehaltene und bei der Drittbeklagten gegen Haftpflicht versicherte Lkw mit dem von der Zweitklägerin gelenkten und vom Drittkläger (der auf dem Beifahrersitz mitfuhr) gehaltenen Pkw, auf dessen Rücksitz die Erstklägerin (die im Jahr 1995 geborene Tochter der Zweitklägerin und des Drittklägers) mitfuhr. Die drei Kläger erlitten dadurch Verletzungen am Körper. Mit dem in Rechtskraft erwachsenen Anerkenntnisteilurteil vom 3. Mai 2007 stellte das Erstgericht fest, dass die Beklagten zur ungeteilten Hand der Erstklägerin (die durch den Unfall schwere, mit Spät- und Dauerfolgen verbundene Verletzungen erlitt) für alle aus dem Unfall vom 6. März 2004 noch entstehenden Schäden haften, die Drittbeklagte beschränkt mit der Haftpflichtversicherungssumme des am Unfallstag bestehenden Kfz-Haftpflichtversicherungsvertrags für den Lkw.

Die Kläger begehren zuletzt, die Beklagten zur ungeteilten Hand schuldig zu erkennen, der Erstklägerin 92.396 EUR sA, der Zweitklägerin 27.400 EUR sA und dem Drittkläger 24.600 EUR sA jeweils als Schadenersatz zu bezahlen. Der Erstbeklagte habe den Verkehrsunfall dadurch alleine schuldhaft verursacht, dass er aus einer überhöhten Geschwindigkeit von etwa 85 km/h heraus zu spät auf das vor ihm auf dem ersten Fahrstreifen mit einer Geschwindigkeit von 50 bis 70 km/h fahrende nicht aus einer Pannenbucht herausfahrende Klagsfahrzeug reagiert habe und mit der rechten vorderen Seite des Beklagtenfahrzeugs gegen das Heck des Klagsfahrzeugs gestoßen sei. Darin liege das schuldhafte Verhalten des Erstbeklagten; außerdem stützten die Kläger das Klagebegehren auch auf das EKHG. Ein allfälliger Verstoß gegen den Schutzzweck des § 20 Abs 1 StVO sei nicht unfallkausal gewesen, weil der Erstbeklagte zeitgerecht auslenken oder seine Geschwindigkeit so vermindern hätte können, dass es zu keinem Personenschaden gekommen wäre.

Die Beklagten beantragen die Abweisung aller verbliebenen Klagebegehren mit den Behauptungen, die Zweitklägerin, deren Verschulden sich der Drittkläger als Fahrzeughalter zurechnen lassen müsse, habe den Verkehrsunfall dadurch allein schuldhaft verursacht, dass sie, ohne auf den Verkehr auf der Autobahn zu achten, unmittelbar vor dem Beklagtenfahrzeug aus einer Pannenbucht in den rechten Fahrstreifen der Autobahn eingefahren sei. Der Erstbeklagte habe ohne (kausal) überhöhte Ausgangsgeschwindigkeit und ohne Reaktionsverspätung auf das aus der Pannenbucht mit geringer Geschwindigkeit herausfahrende Klagsfahrzeug reagiert, weshalb ihn kein Mitverschulden treffe. Schließlich behaupteten die Beklagten, die Zweitklägerin habe die Autobahn mit einer Geschwindigkeit von nur 20 bis 25 km/h befahren und dadurch den übrigen Verkehr behindert. Dieser Verstoß gegen § 20 Abs 1 StVO sei eine Schutznormverletzung (§ 1311 ABGB), die zu einem Mitverschulden der Zweitklägerin von zumindest 50 % führe. Gegenüber der Zweitklägerin und dem Drittkläger erhoben die Beklagten eine Gegenforderung, weil sie die Erstklägerin, die zum Zeitpunkt des Unfalls auf der Rückbank des Fahrzeugs gelegen sei, nicht durch eine geeignete Rückhaltevorrichtung iSd § 106 KFG fixiert hätten.

Das Erstgericht wies das verbleibende Begehren aller drei Kläger ab. Die Zweitklägerin habe beim Herausfahren aus einer Pannenbucht ihre Wartepflicht (§ 11 Abs 1, § 19 Abs 7 StVO) verletzt, indem sie, ohne auf das herannahende Beklagtenfahrzeug zu achten, so herausgefahren sei, dass der Erstbeklagte trotz unverzüglicher Reaktion nicht mehr unfallverhütend anhalten oder auslenken habe können. Sie trage daher das Alleinverschulden am Zustandekommen des Verkehrsunfalls.

Das Berufungsgericht erkannte mit Zwischenurteil, dass die Begehren der Kläger dem Grunde nach zu Recht bestehen. Es stellte nach Beweiswiederholung und -ergänzung fest, dass sich der Erstbeklagte mit dem Lkw auf dem ersten Fahrstreifen der A2 mit einer Geschwindigkeit von etwa 82 km/h und eingeschaltetem Abblendlicht einer an den ersten Fahrstreifen angrenzenden 52 m langen Pannenbucht näherte. Das vor ihm ebenfalls auf dem ersten Fahrstreifen aus nicht feststellbaren Gründen mit einer Geschwindigkeit von ca 20 km/h fahrende Klagsfahrzeug war für ihn im Hinblick auf die rückstrahlenden Beleuchtungseinrichtungen an der Heckseite dieses Pkws im Abblendlicht über eine Distanz von 70 bis 75 m wahrnehmbar. Ohne seine Geschwindigkeit zu verringern und ohne nach links auszulenken fuhr der Erstbeklagte bis zu einem Tiefenabstand von 25 bis 27 m auf dem ersten Fahrstreifen weiter darin liegt eine Reaktionsverspätung von mehr als 3 Sekunden , ehe er einen Brems- und Auslenkentschluss fasste. Nach einer Reaktionszeit von einer Sekunde (in dieser Zeit legte der Lkw 23 m zurück) verzögerte der Erstbeklagte den Lkw mit 4 m/sec² über eine Bremsstrecke von 11 m bis zum Anstoß; er fasste daher 34 m (1,5 Sekunden) vor dem Anstoß seinen Bremsentschluss. Durch seine Auslenkbewegung nach links kam es zu einer Fahrlinienverlagerung nach links um 1,4 m, sodass der Lkw im Kollisionszeitpunkt mit etwa der halben Wagenbreite über der Fahrbahnmitte auf der nördlichen Fahrbahnhälfte war. Etwa auf Höhe der Mitte der Pannenbucht das Klagsfahrzeug fuhr weiterhin mit ca 20 km/h auf dem ersten Fahrstreifen fuhr der Lkw mit einer Differenzgeschwindigkeit zwischen 50 und 60 km/h auf das Heck des Pkws auf. Hätte das Beklagtenfahrzeug eine Ausgangsgeschwindigkeit von 80 km/h eingehalten, hätte sich das Unfallgeschehen nicht geändert. Durch ein Auslenken des Beklagtenfahrzeugs nach links ab der ersten Wahrnehmbarkeit des Pkws hätte der Erstbeklagte die Kollision verhindern können; durch ein Bremsmanöver aus dieser Position hätte er die Differenzgeschwindigkeit im Kollisionszeitpunkt auf 10 km/h verringern können. Die Unfalls- und Verletzungsfolgen wären wesentlich geringer gewesen.

Rechtlich führte das Berufungsgericht aus, dass das langsame Fahren der Zweitklägerin gegenüber dem grob verkehrswidrigen Verhalten des Erstbeklagten derart in den Hintergrund trete, dass es zu keinem Schadensausgleich nach § 11 Abs 1 EKHG bzw § 26 KHVG kommen könne. Die Ansprüche der Kläger bestünden daher dem Grunde nach gegenüber den Beklagten zur ungeteilten Hand zu Recht.

Das Berufungsgericht ließ auf Antrag der Beklagten gemäß § 508 ZPO nachträglich die Revision zur Klärung der haftungsrechtlichen Konsequenzen des rechtswidrigen Langsamfahrens auf Autobahnen zu.

Die Revision der Beklagten richtet sich gegen die Feststellung, dass die Klagebegehren der Zweitklägerin und des Drittklägers dem Grunde nach zu Recht bestehen. Die Revisionswerber beantragen, das angefochtene Zwischenurteil aufzuheben und dem Berufungsgericht die Verfahrensergänzung durch Beiziehung eines weiteren Sachverständigen für die Verkehrsunfallrekonstruktion aufzutragen, in eventu das Zwischenurteil abzuändern und festzustellen, dass die Zahlungsbegehren der Zweitklägerin und des Drittklägers dem Grunde nach lediglich zu zwei Drittel zu Recht bestehen. Das Berufungsverfahren sei mangelhaft geblieben, weil dem Antrag der Beklagten auf Beiziehung eines weiteren Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Verkehrsunfallrekonstruktion keine Folge gegeben worden sei. Der Widerspruch in den vom Erstgericht bzw vom Berufungsgericht eingeholten Sachverständigengutachten hätte die Beiziehung eines weiteren Sachverständigen geboten. Im Übrigen stehe das Berufungsurteil im Widerspruch zur herrschenden Rechtsprechung zu den Schutznormen § 20 Abs 1 StVO und § 46 Abs 1 StVO. Die Vernachlässigung des Fehlverhaltens der Zweitklägerin, die ihr Fahrzeug auf der Autobahn mit einer Geschwindigkeit von nur 20 km/h gelenkt habe, stelle eine krasse Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts dar. Ausgehend von dem durch das Berufungsgericht als erwiesen angenommenen Unfallshergang wäre eine Schadensteilung im Verhältnis 1 : 2 zugunsten der Zweitklägerin vorzunehmen gewesen, da diese eine spezifische Schutznorm, deren Beachtung gerade Unfällen wie dem gegenständlichen vorbeugen solle, verletzt habe, während dem Erstbeklagten ein allenfalls gravierender Aufmerksamkeitsfehler, keinesfalls aber ein grobes Verschulden anzulasten sei.

Die Kläger beantragen in ihrer Revisionsbeantwortung , der Revision nicht Folge zu geben und das angefochtene Zwischenurteil des Berufungsgerichts zu bestätigen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und im Sinne des Eventualantrags auch berechtigt.

1. Ob ein weiteres Sachverständigengutachten eingeholt werden soll, ist eine Frage der Beweiswürdigung und daher nicht revisibel (RIS Justiz RS0043320).

Dem Antrag der Revisionswerber, das angefochtene Zwischenurteil zur Verfahrensergänzung aufzuheben, ist daher nicht Folge zu geben.

2. Gemäß § 20 Abs 1 letzter Satz StVO darf der Lenker eines Fahrzeugs nicht ohne zwingenden Grund so langsam fahren, dass er den übrigen Verkehr behindert.

Gemäß § 46 Abs 1 StVO dürfen Autobahnen nur mit Kraftfahrzeugen benützt werden, die eine Bauartgeschwindigkeit von mindestens 60 km/h aufweisen und mit denen diese Geschwindigkeit überschritten werden darf. Abs 3 dieser Bestimmung verpflichtet den Lenker, im Falle eines Fahrzeuggebrechens unverzüglich über die nächste Abfahrtsstraße die Autobahn zu verlassen.

3. Der Oberste Gerichtshof hat in der Entscheidung 8 Ob 192/83 ausgesprochen, dass das Verschulden eines Kfz-Lenkers, der auf einer Autobahn sein Kfz so abstellt, dass es zur Hälfte auf dem Pannenstreifen und zur anderen Hälfte auf der rechten Fahrspur zu stehen kommt, gegenüber dem Verschulden eines Kfz-Lenkers, der wegen überhöhter Geschwindigkeit ins Schleudern kommt und auf das abgestellte Kfz aufprallt, vernachlässigt werden kann.

Ähnlich kam die Entscheidung 2 Ob 27/87 zum Ergebnis, dass das Fehlverhalten des Klägers, der sein wegen vorhersehbaren Treibstoffmangels zum Stillstand gekommenes Fahrzeug unter Verwendung der Warnblinkanlage am rechten Fahrbahnrand der Autobahn angehalten hatte, gegenüber jenem des Lenkers, der den stehenden Pkw gestreift und den Kläger niedergefahren habe, weitgehend in den Hintergrund trete.

Beide vom Berufungsgericht zitierte Entscheidungen sind jedoch für den vorliegenden Sachverhalt nur eingeschränkt einschlägig, weil hier weder eine relevante Geschwindigkeitsüberschreitung und ein Schleudern des Beklagtenfahrzeugs, noch ein Inbetriebsetzen der Warnblinkanlage des Klagsfahrzeugs gegeben ist.

4. Die Entscheidung 2 Ob 29/87 ging von einem Mitverschulden im Verhältnis von 3 : 1 zugunsten des vorschriftswidrig (§ 46 Abs 3 StVO) die Autobahn in weiterem Umfang als erlaubt zum Abschleppen benützenden Fahrzeuglenker gegenüber dem wegen Unaufmerksamkeit auffahrenden Kfz-Lenker aus. Zweck der genannten Bestimmung sei, dass ein Abschleppvorgang auf der für die Einhaltung hoher Geschwindigkeiten vorgesehenen und daher für relativ langsame Abschleppvorgänge besonders gefährlichen Autobahn nur so lange dauern dürfe, wie dies unbedingt erforderlich sei, um das fahruntaugliche Fahrzeug von der Autobahn zu schaffen (vgl auch 2 Ob 314/00s: Mitverschulden von einem Viertel wegen Abstellens eines Busses am Pannenstreifen und Hineinragen in die erste Fahrspur der Autobahn ohne Aufstellung eines Pannendreiecks).

In diesen Entscheidungen wurde die Gefährlichkeit von Kraftfahrzeugen, die im Autobahnbereich mit unüblich niedriger Geschwindigkeit gelenkt werden oder ein stationäres Hindernis bilden, als (mit-)verschuldensbegründend gewertet.

5. Im vorliegenden Fall hat die (unerklärliche) Fahrweise der Zweitklägerin eine derartige Gefahrensituation herbeigeführt. Es liegt ein grundloses und den übrigen Verkehr behinderndes Langsamfahren des Klagsfahrzeugs vor. Damit ist der Zweitklägerin eine Verletzung der Schutznorm des § 20 Abs 1 letzter Satz StVO vorzuwerfen (vgl 8 Ob 153/80 = RIS Justiz RS0027620 zur Qualifikation der genannten Bestimmung als Schutznorm iSv § 1311 ABGB). Das Fahren mit einer Geschwindigkeit von bloß 20 km/h auf einer Autobahnstrecke mit zulässiger Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h noch dazu bei Dunkelheit und ohne Betrieb der Warnblinkanlage (vgl § 102 Abs 2 letzter Satz Z 3 KFG) stellt ein maßgebliches Fehlverhalten dar, das bei der hier vorzunehmenden Verschuldensteilung nicht zu vernachlässigen ist.

Im Hinblick auf das doch überwiegende Fehlverhalten (Reaktionsverzögerung) des auffahrenden Erstbeklagten hält der Senat eine Schadensteilung von 1 : 2 zugunsten der Zweitklägerin und des Drittklägers für angemessen.

Der Revision war daher in Bezug auf den Eventualantrag Folge zu geben und das angefochtene Zwischenurteil im Sinne einer Haftung der Beklagten gegenüber der Zweitklägerin und dem Drittkläger zu lediglich zwei Drittel abzuändern. Über die Gegenforderung der Beklagten wird im fortgesetzten Verfahren abzusprechen sein (vgl Rechberger in Rechberger ZPO³ § 393 Rz 7; 2 Ob 112/10z).

Die Kostenentscheidung gründet auf § 52 ZPO.