JudikaturJustiz1Ob594/79

1Ob594/79 – OGH Entscheidung

Entscheidung
30. Mai 1979

Kopf

SZ 52/88

Spruch

Die Verjährungsfrist für einen Schadenersatzanspruch eines unehelichen Kindes beginnt mit der Kenntnis des Schadens und der Person des Schädigers durch den Amtsvormund, nicht aber schon mit der vorherigen Kenntnis durch die Pflegeaufsichtsbehörde zu laufen

OGH 30. Mai 1979, 1 Ob 594/79 (OLG Linz 1 R 42/79; Kreisgericht Ried im Innkreis 1 Cg 228/78)

Text

Der seit seiner Geburt (6. Juni 1963) unter der Amtsvormundschaft des Stadtjugendamtes Salzburg stehende Kläger hantierte am 3. November 1973 mit einer doppelläufigen Schrotflinte, die der Beklagte, sein Pflegevater, in geladenem Zustand in der Küche des Hauses K, M-Dorf 6, liegengelassen hatte. Dabei lösten sich zwei Schüsse. Die Schrotladung des zweiten Schusses drang in den linken Vorderfuß des Klägers, der in der Folge amputiert werden mußte. Der Beklagte wurde wegen dieses Vorfalles rechtskräftig nach § 335 StG verurteilt. Die Ehegattin des Beklagten hatte den Kläger im Jahre 1967 nach einem Schriftverkehr mit dem Amtsvormund als Pflegekind übernommen. Die Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn erteilte die Pflegegenehmigung. Der Amtsvormund "übertrug" der Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn die Pflegeaufsicht, die diese mit Schreiben vom 28. November 1967 übernahm. Darnach hatte die Pflegemutter nur mehr mit der Bezirkshauptmannschaft Braunau oder deren Außenstelle in Mattighofen, nicht aber mit dem Amtsvormund Kontakt. Sämtliche Angelegenheiten, die den Kläger betrafen, wurden von dieser Jugendfürsorgeaußenstelle erledigt und mit der Pflegemutter geregelt. Hinsichtlich der Pflegegelder hatte sie ausschließlich mit der Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn zu tun, welche auch die diesbezüglichen Bescheide erließ. Die Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn und auch die zuständige Fürsorgerin der Jugendfürsorgeaußenstelle Mattighofen wurden vom Unfall des Klägers verständigt. Die Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn verständigte jedoch das Stadtjugendamt Salzburg nicht. Dieses erfuhr erst am 5. Jänner 1978 vom Unfall. Der Kläger begehrte mit der am 8. Mai 1978 eingebrachten Schadenersatzklage Zahlung von 230 000 S samt Anhang und die Feststellung, daß der Beklagte für alle künftigen Schäden aus diesem Unfall zu haften habe. Der Beklagte wendete u. a. Verjährung ein. Das Erstgericht wies das Klagebegehren wegen Verjährung ab. Es war der Ansicht, daß es bei der Verjährung gegen Minderjährige auf die Kenntnis des gesetzlichen Vertreters vom Schaden und von der Person des Schädigers ankomme. Der Amtsvormund habe sich bei der Pflegeaufsicht über den Kläger der Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn bedient. Die Verjährungsfrist habe mit der Kenntnis des Unfalles durch die Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn zu laufen begonnen, deren Pflicht es gewesen wäre, den Amtsvormund zu verständigen. Dieser sei daher so zu behandeln, als ob er bereits im Jahre 1973 vom Schaden und von der Person des Schädigers erfahren habe. Es liege daher Verjährung vor. Der Einwand der Verjährung sei auch nicht sittenwidrig, da die Ehegattin des Beklagten den Unfall ohnehin der Bezirkshauptmannschaft Braunau gemeldet habe. Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge, hob das Urteil des Erstgerichtes unter Rechtskraftvorbehalt auf und verwies die Rechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlicher Entscheidung an das Erstgericht zurück. Es teilte die Ansicht des Erstgerichtes, daß es für den Lauf der dreijährigen Verjährungsfrist des § 1489 ABGB auf die Kenntnis des gesetzlichen Vertreters des minderjährigen Geschädigten vom Schaden und von der Person des Schädigers ankomme. Entscheidend sei die tatsächliche Kenntnis des gesetzlichen Vertreters, nicht aber ein Kennenmüssen. Der Amtsvormund habe im übrigen keinen Anlaß gehabt, laufend Erkündigungen bezüglich des Wohlergehens des unter Pflegeaufsicht stehenden Mundels einzuholen. Für den Beginn des Laufes der Verjährungsfrist komme es nicht auf die Kenntnis der Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn als Pflegeaufsichtsbehörde, sondern auf die Kenntnis des Amtsvormundes an. Die Tätigkeit des Amtsvormundes sei, auch wenn sie von einer bestimmten Abteilung einer Behörde, nämlich dem Jugendamt, ausgeübt werde und dem Amtsvormund durch § 18 JWG erweiterte Rechte eingeräumt worden seien, privatrechtlicher Art und unterscheide sich damit grundsätzlich von der Tätigkeit der Bezirksverwaltungsbehörde im Rahmen der Pflegeaufsicht. Die Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn sei selbständig zur Entscheidung über die Genehmigung oder Nichtgenehmigung der Pflege des Klägers berufen gewesen. Die grundsätzliche Pflicht zu gegenseitiger Amtshilfe bestehe zwar auch zwischen den Jugendbehörden; auch sei zur Begründung des Pflegeverhältnisses das Einvernehmen mit dem gesetzlichen Vertreter des Pflegekindes herzustellen; dies ändere aber nichts daran, daß neben dem Amtsvormund selbständig und gleichberechtigt die Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn getreten sei, die völlig verschiedene Aufgaben gehabt habe. Das Stadtjugendamt Salzburg sei mangels einer Übertragung der Amtsvormundschaft gemäß § 17 Abs. 4 JWG gesetzlicher Vertreter des Klägers geblieben. Hingegen sei die Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn schon von Gesetzes wegen zur Genehmigung der Pflege und zur Pflegeaufsicht berufen gewesen, bei der es sich im wesentlichen um eine behördliche Verwaltungstätigkeit und um Vollziehung von öffentlichem Recht gehandelt habe. Die Pflegeaufsicht umfasse wohl auch das körperliche Wohlergehen des Pflegekindes, was aber nichts daran ändere, daß nur der gesetzliche Vertreter des Kindes in der Lage gewesen sei, eine Schadenersatzklage zu erheben, so daß es auf dessen Kenntnis vom Schadenseintritt ankomme. Damit sei aber der Anspruch des Klägers nicht verjährt, so daß das Erstgericht, das das Verfahren bisher allein auf die Verjährungsfrage abgestellt habe, den Rechtsstreit in Richtung der schadenersatzbegrundenden Umstände abzuführen habe.

Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs des Beklagten nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Das Berufungsgericht stellte die unterschiedlichen Funktionen, die einerseits dem Stadtjugendamt Salzburg als Amtsvormund und andererseits der Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn im Rahmen der öffentlichen Jugendwohlfahrtspflege zukamen, zutreffend heraus. Der funktionelle Unterschied ihrer Aufgaben ergibt sich schon aus der Überschrift des Jugendwohlfahrtsgesetzes, BGBl. 99/1954 (JWG), womit Grundsätze über die ... Jugendfürsorge aufgestellt und unmittelbar anzuwendende Vorschriften über die Jugendwohlfahrt erlassen werden, insbesondere aber aus dem Aufbau dieses Gesetzes. Der Erste Teil, der in Abschnitt B die öffentliche Jugendwohlfahrtspflege behandelt, ist ein Grundsatzgesetz gemäß Art. 12 Abs. 1 Z. 2 B-VG, das der Ausführung durch Landesgesetze (§ 40 JWG) bedurfte, während der Zweite Teil, zu dem auch die Bestimmungen über die Amtsvormundschaft (§§ 16 bis 20 JWG) gehören, als unmittelbar anzuwendendes Bundesrecht Geltung hat. Bei Erfüllung der Aufgaben im Bereich der öffentlichen Jugendwohlfahrtspflege treten die Jugendämter, die als eigene Abteilungen der Bezirksverwaltungsbehörden einzurichten sind (§ 3 Abs. 2 JWG), als Behörden mit Befehlsgewalt auf; in ihrer Funktion als Amtsvormund ist hingegen die Bezirksverwaltungsbehörde nicht Verwaltungsbehörde, sondern Vormund nach bürgerlichem Recht (vgl. Edlbacher, Der Amtsvormund - Vormund nach bürgerlichem Recht und weisungsgebundener öffentlicher Beamter, ÖAV 1974, 75 ff.; EB zur RV, 140 BlgNR, VII. GP, auszugsweise zitiert bei Feller - Edlbacher, Verfahren außer Streitsachen, MGA, 469 FN 6; Das österreichische Standesamt 1975, 29 FN 9). In der Funktion als Amtsvormund hat die Bezirkshauptmannschaft - und zwar nicht nur gegenüber dem Vormundschaftsgericht, sondern auch gegenüber Verwaltungsbehörden - Parteistellung. Diese Parteistellung allein schließt es aber schon aus, daß das Stadtjugendamt Salzburg als Amtsvormund der Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn die Pflegeaufsicht im Rechtssinn "übertragen" konnte. Die Bewilligung der Übernahme eines Kindes in fremde Pflege (§ 5 JWG; §§ 13 bis 17 oöJWG) und die Durchführung der Pflegeaufsicht (§ 7 JWG; §§ 21 bis 23 oöJWG) gehört zu den behördlichen Aufgaben im Sinne des bereits erwähnten ersten Teiles des Jugendwohlfahrtsgesetzes. Diese Aufgabe steht kraft Gesetzes jener Bezirkshauptmannschaft zu, in deren Bereich das Pflegekind seinen Aufenthaltsort hat (§§ 17, 37 oöJWG; § 3 lit. c AVG).

Die Tätigkeiten der beteiligten Verwaltungsbehörden unterschieden sich aber nicht nur funktionell; vielmehr waren, wie das Berufungsgericht ebenfalls zutreffend erkannte, ihre Aufgabenbereiche auch materiell weitgehend verschieden: Unter Pflege im Sinne des § 13 Abs. 2 oöJWG ist die Sorge um die Bedürfnisse eines Minderjährigen, die sein leibliches Wohl sowie seine geistige, seelische und sittliche Entwicklung betreffen, zu verstehen. Die Pflegeaufsicht besteht gemäß § 21 Abs. 1 oöJWG in der laufenden Prüfung, ob die Pflege eines Minderjährigen sachgemäß ist. § 216 Abs. 1 ABGB bestimmt, daß die Pflege und Erziehung eines Minderjährigen, die nicht den Eltern oder Großeltern zusteht, dem Vormund zukommt, während er sonst nur die Aufsicht darüber hat.

Hinsichtlich der Personenfürsorge überschneiden sich daher die privatrechtlichen Aufgaben, die dem Amtsvormund hinsichtlich aller Mundel zukommen, mit den öffentlich-rechtlichen Befugnissen der Bezirksverwaltungsbehörde, die diese hinsichtlich der Pflegekinder ausübt. Wenn es daher das Stadtjugendamt Salzburg bei der Beaufsichtigung der Pflege durch die dem Aufenthaltsort des Klägers näher gelegene Jugendfürsorgeaußenstelle Mattighofen bewenden ließ und bei dieser Sachlage keinen Anlaß zu einer vormundschaftlichen Aufsichtstätigkeit sah, kann darin eine Übertragung der dem Amtsvormund zustehenden Personenobsorge an die Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn nicht erblickt werden.

Entscheidend ist aber vor allem, daß es nur Aufgabe des Vormundes (und nicht etwa der Pflegeaufsichtsbehörde) ist, das unter Vormundschaft stehende Kind zu vertreten (§ 245 ABGB). Davon, daß das Stadtjugendamt Salzburg dieser Aufgabe nach dem Beginn der Pflegeaufsicht nicht mehr gerecht geworden wäre und diese zumindest stillschweigend der Pflegeaufsichtsbehörde überlassen hätte, kann keine Rede sein. Das Stadtjugendamt Salzburg entwickelte auch nach der "Übertragung" der Pflegeaufsicht weiterhin eine eigene Tätigkeit als Vormund, insbesondere im Zusammenhang mit der Eintreibung der dem Kläger zustehenden Unterhaltsbeträge. Ein Sachverhalt, aus dem geschlossen werden müßte, daß das Stadtjugendamt Salzburg seine Aufgaben als Amtsvormund an die Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn übertragen wollte - eine ausdrückliche Übertragung im Sinne des § 17 Abs. 4 JWG ist nie erfolgt -, liegt daher nicht vor. Es braucht daher nicht untersucht zu werden, ob eine derartige schlüssige Übertragung vormundschaftlicher Aufgaben überhaupt möglich wäre.

Für den Beginn der dreijährigen Verjährungsfrist des § 1489 ABGB kommt es also auf die Kenntnis des Stadtjugendamtes Salzburg als Amtsvormund an. Da dieses erst am 5. Jänner 1978 vom Unfall des Klägers erfuhr, ist die Entschädigungsklage nicht verjährt.