JudikaturJustiz1Ob287/03t

1Ob287/03t – OGH Entscheidung

Entscheidung
17. Mai 2004

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer, Dr. Zechner und Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Sandor B*****, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur, Wien 1., Singerstraße 17-19, wegen 79.708,80 EUR und Feststellung (Streitwert 5.087,10 EUR) infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 6. Oktober 2003, GZ 14 R 66/03h-19, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 7. Jänner 2003, GZ 31 Cg 12/01i-15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der Kläger, ein jugoslawischer Staatsbürger, hielt sich seit dem Jahr 1974 ständig in Österreich auf, arbeitete hier auch, abgesehen von kurzen Unterbrechungen infolge Arbeitslosigkeit, dauernd und war als Arbeiter nach dem ASVG bis 1. Februar 1993 versichert. Am 29. November 1991 stellte er einen Antrag auf neuerliche Erteilung eines Sichtvermerks und übergab zu diesem Zweck der Fremdenbehörde seinen Reisepass, der dort aus unbekannten Gründen in Verstoß geriet. Der Antrag des Klägers wurde nicht erledigt. Der Kläger erkundigte sich zwar immer wieder nach dem Schicksal seines Reisepasses, stellte jedoch vorerst keinen Devolutionsantrag. Auf diese Möglichkeit wurde er auch nicht hingewiesen. Einen solchen Antrag stellte er schließlich am 4. Mai 1998, nachdem er Auskünfte von Hilfsorganisationen eingeholt hatte. Dem Antrag wurde am 15. Juni 1999 Folge gegeben und dem Kläger eine unbefristete Niederlassungsbewilligung für jeglichen Aufenthaltszweck erteilt. Bereits im Dezember 1994 hatte der Kläger beim Arbeitsmarktservice einen Antrag auf Zuerkennung von Arbeitslosengeld gestellt. Der - wegen fehlender "139 Tagen arbeitslosenversicherungspflichtiger Beschäftigung" - abweisende Bescheid vom 24. März 1995, der an die Wohnadresse des Klägers, an der er sich aufhielt, adressiert war, wurde ihm nicht ausgefolgt, weil ein Mitbewohner angab, der Kläger sei dort nicht mehr aufhältig. Am 26. Mai 1999 stellte der Kläger neuerlich einen solchen Antrag, der mit Bescheid vom 2. Juni 1999 mangels Aufenthaltsbewilligung abgewiesen wurde. Infolge Berufung des Klägers wurde dieser Bescheid - nach zwischenzeitlich erlangter Niederlassungsbewilligung - mit Bescheid vom 11. Oktober 1999 aufgehoben. Mit Bescheid vom 12. November 1999 wurde der Antrag erneut abgewiesen, weil der Kläger in der gesetzlichen Rahmenfrist von 24 Monaten keine arbeitslosenversicherungspflichtige Beschäftigung habe nachweisen können. Der dagegen erhobenen Berufung wurde nicht Folge gegeben, der Berufungsbescheid jedoch - infolge Beschwerde des Klägers an den Verwaltungsgerichtshof - mit dessen Erkenntnis vom 20. Dezember 2000 - wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit behoben. Daraufhin wurde der Bescheid vom 12. November 1999 behoben und dem Kläger Notstandshilfe bewilligt, die er seit 26. Mai 1999 bezieht. Nach dem 1. Februar 1993 fand der Kläger keine Beschäftigung. Außer den genannten stellte er keine Anträge an Behörden.

Der Kläger begehrte die Feststellung, die beklagte Partei hafte für sämtliche Schäden aus der zwischen 29. November 1991 und 15. Juni 1999 unterbliebenen Erteilung des Aufenthaltsrechts und der sowohl durch die Fremdenbehörden wie auch durch das Arbeitsmarktservice unterlassenen Belehrung zur Erlangung eines positiv geregelten Aufenthalts, insbesondere durch die Unterlassung der Belehrung über einen Devolutionsantrag gegen die Säumnis der Fremdenbehörde bei Erteilung eines Niederlassungsrechts, und hilfsweise die Feststellung der Haftung für sämtliche, künftig entstehenden Schäden aus der Verweigerung der Notstandshilfe zwischen 2. Februar 1993 und 25. Mai 1999 sowie den Zuspruch von 79.708,80 EUR (1.096.817 ATS) an Verdienstentgang. Er habe am 29. November 1991 neuerlich um einen Sichtvermerk eingereicht; offenbar aufgrund des Umzugs der Fremdenbehörde sei sein Akt mit seinem Reisepass verloren gegangen. Er habe "immer wieder", jeweils etwa in Monatsabstand, bei der Stelle angerufen, bei der er eingereicht hatte, doch habe er immer wieder die Auskunft erhalten, der Sichtvermerk sei noch nicht fertig. Es sei ihm gelungen, ohne gültigen Sichtvermerk eine Beschäftigungsbewilligung mit einer Laufzeit bis 9. Juli 1993 zu erlangen, und bis zum 1. Februar 1993 beschäftigt gewesen. Er habe Angst bekommen, in Schubhaft genommen zu werden, insbesondere, weil er als Angehöriger der ungarischen Minderheit in Jugoslawien besonders gefährdet gewesen sei. Im Jahr 1998 habe er sich 20 Tage in Schubhaft befunden. Der Kläger sei schließlich von einer Hilfsorganisation betreut worden, die herausgefunden habe, dass sein Reisepass verloren gegangen und sein Antrag vom 29. November 1991 nicht bearbeitet worden sei. Diese Unterlassung sei rechtswidrig und grob schuldhaft, den involvierten Behörden sei vorzuwerfen, dass sie den Kläger niemals über die Möglichkeit eines Devolutionsantrags in Kenntnis gesetzt hätten. Dadurch, dass er aufgrund des Fehlverhaltens der Fremdenbehörden ab 1. Februar 1993 an der Aufnahme einer Beschäftigung gehindert worden sei, sei ihm ein Schaden entstanden. Die Differenz zwischen der von ihm bezogenen Notstandshilfe und einem erzielbaren monatlichen Durchschnittseinkommen von mindestens 944,75 EUR (13.000 ATS) ergebe einen Verdienstentgang von 7.152,24 EUR (98.417 ATS). Für den Zeitraum vom 2. Februar 1993 bis 25. Mai 1999 begehre der Kläger den Ersatz eines Verdienstentgangs von 72.556,56 EUR (998.400 ATS), der ihm aufgrund der Abweisung seines Antrags auf Arbeitslosengeld, alternativ aufgrund der verfassungswidrigen Verweigerung der Notstandshilfe, entstanden sei.

Die beklagte Partei wendete ein, es liege kein schuldhaftes Organverhalten vor; im gegenteiligen Fall würde jedenfalls das Mitverschulden des Klägers durch die grobe Sorgfaltswidrigkeit in seinen Angelegenheiten überwiegen. Darüber hinaus habe der Kläger gegen die Rettungspflicht verstoßen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Dem Kläger sei der Umstand, dass er von 1991 bis 1998 keinen Devolutionsantrag gestellt habe, als schuldhafte Verletzung seiner Rettungspflicht anzulasten. Ihm sei auch der (eindeutige) Nachweis, er wäre in dem betreffenden Zeitraum tatsächlich in Österreich einer Erwerbstätigkeit nachgegangen und hätte den geltend gemachten Betrag ins Verdienen gebracht, nicht gelungen.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und erklärte die ordentliche Revision für nicht zulässig. Der Devolutionsantrag falle unter den Rechtsmittelbegriff des § 2 Abs 2 AHG; die Nichterhebung stelle eine schuldhafte Verletzung der Rettungspflicht dar. Der Kläger habe über 15 Jahre lang regelmäßig Aufenthaltstitel beantragt. Dies weise auf eine "einigermaßen vorhandene Vertrautheit mit der Materie" hin, und es sei in keiner Weise nachvollziehbar, dass er plötzlich Angst vor der Abschiebung bekommen habe. Es stelle sich die Frage, was den Kläger gehindert habe, frühere Erkundigungen einzuziehen und früher das ihm jedenfalls zustehende Rechtsmittel des Devolutionsantrags zu ergreifen. Es könne nicht näher präzisiert werden, ab welchem Zeitpunkt er jedenfalls einen Devolutionsantrag hätte stellen müssen. Es sei daher auch nicht feststellbar, in welchem Zeitraum ihn seine diesbezügliche Untätigkeit noch nicht als Verschulden zuzurechnen sei. Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil die Frage, ob die Unterlassung eines Rechtsmittels im Einzelfall verschuldet oder unverschuldet ist, keine über diesen Einzelfall hinausreichenden erheblichen Rechtsfragen aufwerfe. Die außerordentliche Revision des Klägers ist zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der Ansicht des Klägers, die einfachgesetzliche Rechtslage, auf deren Grundlage ihm das Arbeitslosengeld verweigert worden sei, sei verfassungs- bzw menschenrechtswidrig, haben die Vorinstanzen zutreffend entgegengehalten, dass Amtshaftungsansprüche nur bei rechtswidriger Vollziehung der Gesetze in Betracht kommen, nicht aber bei gesetzmäßiger Vollziehung eines verfassungswidrigen Gesetzes (vgl dazu Schragel, AHG³ Rz 55).

Zu den verfassungsrechtlichen Bedenken des Klägers gegen § 2 Abs 2 AHG, der - entgegen der sonst im Zivilrecht verankerten Rechtsfolge der Schadensteilung gemäß § 1304 ABGB - den Grundsatz der Kulpakompensation normiere, ist auf die bereits ausdrücklich ausgesprochene Auffassung des Obersten Gerichtshofs (1 Ob 33/91) zu verweisen, dass für diese Unterscheidung eine sachliche Rechtfertigung vorliegt und daher keine verfassungsrechtliche Bedenken bestehen. Der nach Amtshaftungsrecht allenfalls haftende Rechtsträger kann auch nicht ohne weiteres einem sonstigen Schädiger im Rahmen des Privatrechts gleichgestellt werden, zumal er sich seiner - durchaus schadensgeneigten - Tätigkeit nicht entziehen kann. Soweit der Gesetzgeber diese Sachlage zum Anlass genommen hat, nur für unverbesserbare Akte der Vollziehung Amtshaftungsansprüche zur Verfügung zu stellen, erscheint dies keineswegs willkürlich oder sachlich ungerechtfertigt und damit gleichheitswidrig (vgl. dazu Schragel³ Rz 181).

Der Auffassung des Klägers, die Qualifikation eines Devolutionsantrags als Rechtsmittel im Sinne des § 2 Abs 2 AHG sei unzutreffend, kommt keine Berechtigung zu, geht doch der Oberste Gerichtshof von einem weiten Rechtsmittelbegriff aus, der auch Rechtsbehelfe erfasst. Entscheidend ist, ob der Partei vom Gesetz - regelmäßig in Form eines Antragsrechts - eine Möglichkeit an die Hand gegeben wird, den durch das Organverhalten drohenden Schaden ganz oder teilweise zu verhindern. Dies trifft zweifellos auch auf Devolutionsanträge zu (SZ 54/86). Für ein Abgehen von dieser Rechtssprechung gibt es keinen Anlass.

Die entscheidende Frage ist somit, ob die Nichtausschöpfung der eröffneten Rechtsmittel bzw Rechtsbehelfe im Sinne des § 2 Abs 2 AHG dem Kläger als "Verschulden" zur Last gelegt werden kann. Das Gesetz überlässt zunächst dem Geschädigten selbst die Wahrung seiner Interessen und gewährt ihm Amtshaftungsansprüche nur dort, wo er innerhalb des betreffenden Verfahrens alle "Rechtsmittel" vergeblich ausgeschöpft hat. Nur die Unterlassung von offenbar aussichtslosen Abhilfemaßnahmen lässt die Rechtsfolgen des § 2 Abs 2 AHG nicht eintreten (JBl 1993, 788; SZ 69/15; SZ 71/7; SZ 72/51 ua); dass ein früherer Devolutionsantrag des Klägers nicht offenbar aussichtslos gewesen wäre, steht außer Zweifel.

Der Ausschluss des Ersatzanspruchs nach § 2 Abs 2 AHG setzt ein "Verschulden", genauer die Sorglosigkeit des Geschädigten im Umgang mit seinen eigenen Rechtsgütern voraus (SZ 55/81, 62/176, 71/98 uva). Dabei ist der Vorwurf des Klägers, die Manuduktionspflicht nach § 13a AVG sei sowohl von der Fremdenbehörde als auch vom Arbeitsmarktservice verletzt worden, nicht entscheidend. Es steht fest, dass der Kläger schließlich am 4. Mai 1998 einen Devolutionsantrag gestellt hat. Die Vorinstanzen haben hingegen nicht festgestellt, weshalb er sich nicht früher um eine Beantwortung der naheliegenden Frage, was er gegen den Verzug der Fremdenbehörde mit der Erledigung seines Antrags machen könne, bemüht hat. Die Formulierung des Erstgerichts, der Kläger habe sich zwar "immer wieder nach dem Schicksal seines Reisepasses erkundigt", jedoch keinen Devolutionsantrag gestellt, gibt weder Auskunft über Art und Zeitraum dieser Erkundigungen noch den genauen Inhalt der ihm jeweils erteilten Auskünfte. Daher kann die zentrale Frage einer schuldhaften Säumigkeit des Klägers nicht abschließend beurteilt werden. Wie bereits das Berufungsgericht ausführte, kann regelmäßig ein "Verschulden" desto weniger angenommen werden kann, je ungewöhnlicher das in Betracht kommende Rechtsmittel ist (Schragel³ Rz 192). Der gänzliche Entfall des "Verschuldens" des Klägers kommt aber auch bei einem ungewöhnlichem "Rechtsmittel" und gleichzeitiger Verletzung behördlicher Manuduktionspflichten jedenfalls nach Verstreichen eines gewissen Zeitraums nicht mehr in Betracht. Bei Beurteilung der Frage nach dem "Verschulden" bzw der Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten kommt es einerseits auf die konkreten Kenntnisse und Fähigkeiten des Geschädigten und andererseits auf die gesamten Begleitumstände seines Verhaltens an. Die dazu getroffenen Feststellungen des Erstgerichts reichen insoweit jedoch nicht aus, weshalb auch der Ansicht des Berufungsgerichts, das Klagebegehren sei zur Gänze abzuweisen, da "nicht näher präzisiert werden könne", für welchen Zeitraum dem Kläger die Nichterhebung des Devolutionsantrags noch nicht als Verschulden zuzurechnen sei, nicht gefolgt werden kann. Erst nach Ermittlung des näheren Geschehnisablaufs kann beurteilt werden ab welchem Zeitpunkt dem Kläger die weitere Untätigkeit vorzuwerfen war.

Das Erstgericht wird daher Feststellungen darüber zu treffen haben, ob und wann der Kläger Nachforschungen bei der Fremdenbehörde anstellte, welche Auskünfte ihm jeweils erteilt wurden und warum er nicht früher rechtliche Beratung eingeholt hat. In diesem Zusammenhang könnte dem Hinweis des Klägers, jedenfalls ein Teil seines Schadens sei auch durch einen früheren ("zeitgerechten") Devolutionsantrag nicht mehr abzuwenden gewesen, Bedeutung zukommen. Im Zusammenhang mit der Kausalitätsfrage wird das Erstgericht zu berücksichtigen haben, dass ein hypothetischer Kausalverlauf niemals ebenso eindeutig bewiesen werden kann, wie tatsächliche Geschehnisse. Es reicht daher regelmäßig aus, dass das pflichtgemäße Handeln mit hoher Wahrscheinlichkeit den Schaden verhindert hätte (vgl nur EvBl 2002/42 mwN, RdW 2004/208), also eine erhebliche Chance für den Kläger bestanden hätte, einen Arbeitsplatz zu bekommen und zu behalten.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.