JudikaturJustiz16Ok1/24v

16Ok1/24v – OGH Entscheidung

Entscheidung
14. März 2024

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Kartellobergericht durch den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs Univ. Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Parzmayr und Dr. Annerl als weitere Richter in der Kartellrechtssache der Antragstellerin Bundeswettbewerbsbehörde, Wien 3, Radetzkystraße 2, gegen die Antragsgegnerinnen 1. H*gesellschaft m.b.H., *, 2. H*gesellschaft m.b.H., *, 3. Ö* GmbH, *, und 4. S* GmbH, *, die Erst und Drittantragsgegnerinnen vertreten durch die Saxinger, Chalupsky Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, die Zweit und Viertantragsgegnerinnen vertreten durch die Haslinger/Nagele Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Verhängung einer Geldbuße gemäß § 29 Z 1 lit a und d KartG, über den Antrag der Einschreiterin Gemeinde *, vertreten durch die Brand Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Akteneinsicht, über den Rekurs der Einschreiterin gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Kartellgericht vom 16. Jänner 2024, GZ 28 Kt 6/20x 94, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Das Verfahren wird bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs über den zu AZ G 26–27/2024 eingebrachten Parteiantrag auf Normenkontrolle, mit dem unter anderem die Aufhebung der Bestimmung des § 39 Abs 2 Satz 1 KartG 2005 als verfassungswidrig angestrebt wird, unterbrochen .

Nach Vorliegen des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs wird das Verfahren von Amts wegen fortgesetzt.

Text

Begründung:

[1] Mit rechtskräftigem Beschluss vom 23. 11. 2022 verhängte das Erstgericht über die Antragsgegnerinnen wegen Zuwiderhandlungen gegen § 1 KartG und Art 101 AEUV durch Preisabsprachen, Marktaufteilungen sowie einen unzulässigen Informationsaustausch bei öffentlichen und privaten Ausschreibungen im Bereich Hoch und Tiefbau im Zeitraum von Juli 2002 bis Oktober 2017 eine Geldbuße. Die Entscheidung wurde im Volltext in der Ediktsdatei veröffentlicht, wobei nur bestimmte Verweise auf Urkunden zu Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen von der Veröffentlichung ausgenommen wurden. Als wettbewerbsbeschränkende Handlungen wurden in der veröffentlichten Entscheidung auch die Abstimmung des Abgabeverhaltens und die Abgabe von Deckangeboten durch zumindest einzelne Antragsgegnerinnen beim Projekt „Straßenbau L* und W*“ genannt.

[2] Mit Schriftsatz vom 9. 11. 2023 beantragte die Einschreiterin Einsicht in den Akt des Kartellgerichts. Sie habe durch die Veröffentlichung der Bußgeldentscheidung davon Kenntnis erlangt, dass sie von wettbewerbswidrigen Handlungen der Antragsgegnerinnen betroffen sei. Sie beabsichtige, den ihr dadurch entstandenen Schaden geltend zu machen, weshalb ihr ein rechtliches Interesse an einer Einsicht in den Kartellakt zukomme.

[3] Die Antragstellerin und der Bundeskartellanwalt stimmten der Akteneinsicht – mit Ausnahme von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen – zu.

[4] Die Antragsgegnerinnen sprachen sich gegen die begehrte Akteneinsicht aus.

[5] Das Erstgericht wies den Antrag der Einschreiterin auf Akteneinsicht ab.

[6] Es legte seiner Entscheidung die beiden in jüngerer Zeit zu Anträgen von Kartellgeschädigten auf Einsicht in den Kartellakt ergangenen Entscheidungen zu 16 Ok 1/22s und 16 Ok 1/23t zugrunde, wonach – hier stark zusammengefasst – der Zugang zu Beweismitteln nicht so ausgestaltet sein dürfe, dass die Erlangung von Schadenersatz durch den Kartellgeschädigten praktisch unmöglich gemacht oder erheblich erschwert werde. Es sei eine Gesamtbetrachtung der Möglichkeiten zur Informationsgewinnung vorzunehmen, die einem durch einen Wettbewerbsverstoß geschädigten Rechtsträger zur Verfügung stünden. Dabei komme vor allem auch der Veröffentlichung kartellgerichtlicher Entscheidungen in der Ediktsdatei Bedeutung zu, die wesentlich zur Informationsgewinnung des Kartellgeschädigten beitrage. Bei Vorliegen einer solchen Veröffentlichung bedürfe es daher konkret zu behauptender Umstände, aus denen sich ergebe, dass die Verweigerung der Akteneinsicht gemäß § 39 Abs 2 KartG die Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs dennoch übermäßig erschwere, etwa weil Kategorien von Dokumenten benötigt würden, die in die veröffentlichte Entscheidung keinen Eingang gefunden hätten oder typischerweise in eine zu veröffentlichende Entscheidung keinen Eingang finden würden. Dies sei von der Akteneinsicht begehrenden Person darzulegen.

[7] Die Einschreiterin habe nicht plausibel dargelegt, warum ihr die Geltendmachung von Ersatzansprüchen ohne Akteneinsicht – trotz der in der Entscheidungsveröffentlichung sowie in den eigenen Geschäftsunterlagen enthaltenen Informationen – erheblich erschwert wäre. Aufgrund der Gesamtzuwiderhandlung der Antragsgegnerinnen erstrecke sich deren Verantwortung auch auf Verstöße einzelner Kartellmitglieder im Rahmen der Grundvereinbarung, sodass insoweit eine solidarische Haftung bestehe. Eine (zivilrechtliche) Durchsetzung des Wettbewerbsrechts gegenüber Personen, die nicht Partei jenes Verfahrens waren, in dem der Antrag auf Akteneinsicht gestellt wurde, bezwecke diese nicht. Dass die Einschreiterin den ihr durch Wettbewerbsverstöße der Antragsgegnerinnen verursachten Schaden ohne Akteneinsicht nicht berechnen könne, sei im Hinblick auf die Rechtsprechung, wonach dafür im Schadenersatzprozess ein Vorbringen zu den „historisch“ bezahlten Preisen ausreiche, nicht nachvollziehbar. Durch die angestrebte Akteneinsicht würden auch Rechte Dritter gefährdet, gegen die noch Kartellverfahren wegen jenes (Bau-)Kartells anhängig seien, an dem auch die Antragsgegnerinnen mitgewirkt hätten. Zusammengefasst sei daher an § 39 Abs 2 Satz 1 KartG festzuhalten, wonach eine Akteneinsicht nur mit Zustimmung der Parteien erfolgen könne.

[8] Dagegen erhob die Einschreiterin einen Rekurs an den Obersten Gerichtshof als Kartellobergericht.

Rechtliche Beurteilung

[9] Das Rekursverfahren wird unterbrochen :

[10] 1. Der Oberste Gerichtshof wurde mit Schreiben des Verfassungsgerichtshofs vom 1. 3. 2024 davon verständigt, dass (in einem anderen Kartellverfahren von einer dort Akteneinsicht begehrenden Person) ein auf Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B VG gestützter Parteiantrag auf Normenkontrolle gestellt wurde, der unter anderem auf eine Aufhebung des § 39 Abs 2 Satz 1 KartG 2005 (BGBl I Nr 61/2005 idF BGBl I Nr 176/2021) als verfassungswidrig abzielt. Das Gesetzesprüfungsverfahren ist beim Verfassungsgerichtshof zu AZ G 26–27/2024 anhängig. Die angefochtene Bestimmung ist auch für das vorliegende Verfahren präjudiziell.

[11] 2. Bei einem eine Gesetzesbestimmung aufhebenden Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs hängt die Auswirkung auf anhängige Verfahren von dessen Ausspruch ab (RS0031419 [T13]). Im vorliegenden Fall kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Wirkung einer allfälligen Aufhebung der angefochtenen Bestimmung über den Anlassfall hinaus erstreckt würde (Art 140 Abs 7 B VG). Dies würde zu einer in jeder Lage des Verfahrens zu beachtenden Änderung der Rechtslage führen (RS0031419 [T7, T22]).

[12] 3. Gemäß § 190 Abs 1 ZPO kann ein Rechtsstreit unterbrochen werden, wenn die Entscheidung ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, welches Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits ist oder welches in einem anhängigen Verwaltungsverfahren festzustellen ist. Das hier anzuwendende (§ 38 KartG) AußStrG enthält in § 25 Abs 2 Z 1 eine vergleichbare Unterbrechungsmöglichkeit. Für den Fall eines vor dem Verfassungsgerichtshof anhängigen präjudiziellen Verfahrens ist eine solche Unterbrechung weder in der ZPO noch im AußStrG vorgesehen. Diese planwidrige Gesetzeslücke ist hier durch eine analoge Anwendung des § 25 Abs 2 Z 1 AußStrG zu schließen, weil der Zweck der Bestimmung widersprechende Entscheidungen im Sinne der Einheit der Rechtsordnung zu verhindern auch im vorliegenden Fall zutrifft (2 Ob 240/08w; vgl auch RS0116275).

[13] 4. Das Rekursverfahren wird daher bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs über die zu AZ G 26–27/2024 erfolgte Anfechtung der Bestimmung des § 39 Abs 2 Satz 1 KartG 2005 unterbrochen.