JudikaturJustiz15Os93/97

15Os93/97 – OGH Entscheidung

Entscheidung
28. August 1997

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 28.August 1997 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Reisenleitner als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Strieder, Dr.Ebner, Dr.Schmucker und Dr.Zehetner als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr.Benner als Schriftführer, in der Strafsache gegen Roman H***** wegen des Verbrechens des versuchten Raubes nach §§ 15, 142 Abs 1 StGB und einer anderen strafbaren Handlung über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Beschlüsse des Untersuchungsrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 26.Februar 1997, GZ 7 d Vr 1410/97-18, und des Oberlandesgerichtes Wien vom 11.März 1997, AZ 22 Bs 79/97, sowie den Vorgang, daß der Untersuchungsrichter die Haftverhandlung vom 26. Februar 1997 durchgeführt hat, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr.Tiegs und des Verteidigers Dr.Hartung, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten, zu Recht erkannt:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

Text

Gründe:

Über Roman H***** wurde - nachdem gegen ihn die Voruntersuchung wegen §§ 127, 130 erster Satz, 131 und 15 StGB eingeleitet worden war - mit Beschluß des Untersuchungsrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 13.Februar 1997, GZ 7 d Vr 1410/97-9, aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO die Untersuchungshaft verhängt. Ohne Abgabe einer Rechtsmittelerklärung zu diesem Beschluß beantragte der Beschuldigte sofort seine Enthaftung (103). Daraufhin ordnete der Untersuchungsrichter am 14. Februar 1997 eine Haftverhandlung für den 26.Februar 1997 an, schloß die Voruntersuchung gemäß § 111 StPO und übermittelte den Akt gemäß § 112 StPO der Staatsanwaltschaft. Diese erhob am 18.Februar 1997 eine Anklageschrift gegen Roman H*****, welche am 19.Februar 1997 beim Landesgericht für Strafsachen Wien einlangte (3 b) und noch am selben Tag dem Beschuldigten vom Untersuchungsrichter kundgemacht wurde (ON 14). Roman H***** gab hiezu die Erklärung ab, daß er sich "die 14-tägige Einspruchsfrist vorbehalte".

Am 21.Februar 1997 verzichtete der Verteidiger gegenüber dem Untersuchungsrichter auf Einspruch gegen die Anklage, hielt aber den Enthaftungsantrag aufrecht (3 b verso). Dies Erklärung wiederholte er in einem am 24.Februar 1997 bei Gericht eingelangten Schriftsatz (ON 16).

Noch am 21.Februar 1997 hielt der Untersuchungsrichter mit der zuständigen Vorsitzenden Rücksprache; diese ersuchte, daß der Haftverhandlungstermin "aus terminlichen Gründen" noch vom Untersuchungsrichter eingehalten werden möge (3 b verso). Hierauf verrichtete der Untersuchungsrichter am 26.Februar 1997 die Haftverhandlung und faßte den Beschluß auf Fortsetzung der Untersuchungshaft gemäß § 180 Abs 2 Z 3 lit b und c StPO (ON 17 und 18).

Gegen diesen Beschluß erhob der Angeklagte Beschwerde, in der er ua die Unzuständigkeit des Untersuchungsrichters geltend machte.

Mit Beschluß vom 11.März 1997, AZ 22 Bs 79/97 (ON 21 des Vr-Aktes) gab das Oberlandesgericht Wien der Beschwerde nicht Folge und führte in der Begründung "der Vollständigkeit halber" aus, daß der Untersuchungsrichter bis zur Übermittlung der Akten an den Verhandlungsrichter zur Entscheidung über die Haftfrage "und diesbezügliche weitere Veranlassungen" zuständig sei.

In ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes macht die Generalprokuratur eine Verletzung des Gesetzes in den Bestimmungen der §§ 13 Abs 3, 210 Abs 1 StPO und Art 83 Abs 2 B-VG geltend und führt hiezu aus:

Mit der Rechtskraft der Anklageschrift, also mit dem Beginn des Zwischenverfahrens, gehen die Funktionen des Untersuchungsrichters auf den gemäß § 13 Abs 3 StPO zuständigen Vorsitzenden des dann im Hauptverfahren erkennenden Kollegialgerichtes über. Dies gilt auch für die funktionelle Zuständigkeit zur Entscheidung über die Haft (EvBl 1974/23, 1979/49; Foregger-Kodek StPO6 § 182 Erl V.A.2.; Bertel, Strafprozeßrecht5, Rz 603). Ab dem erwähnten Zeitpunkt hat sich der Untersuchungsrichter jeder weiteren Entscheidung zu enthalten und die Akten - der Vorschrift des § 210 Abs 1 StPO entsprechend - dem Gerichtshof erster Instanz vorzulegen. Die Regelung des § 484 Abs 3 zweiter Satz StPO, die den Untersuchungsrichter nach Einbringung des Antrages auf Bestrafung dazu ermächtigt, die zur Beendigung des Vorverfahrens etwa noch erforderlichen Entscheidungen zu treffen, gilt nur für das Verfahren vor dem Einzelrichter.

Sohin hätte der Untersuchungsrichter im vorliegenden Fall nicht über die Haft entscheiden dürfen, sondern die Akten unverzüglich dem Vorsitzenden des Schöffengerichtes vorlegen müssen. Das Vorgehen des Untersuchungsrichters und der Ausspruch des Oberlandesgerichtes Wien, daß der Untersuchungsrichter bis zur Übermittlung der Akten an den "Verhandlungsrichter" zur Entscheidung über die Haftfrage und diesbezügliche weitere Veranlassungen zuständig sei, widerspricht daher dem Gesetz.

Demgemäß war das Oberlandesgericht bei der gegebenen Verfahrenslage nicht berechtigt, in der Sache selbst zu entscheiden. Eine assertorische oder reformatorische Sachentscheidung setzt nämlich voraus, daß eine von dem nach dem Gesetz zuständigen Entscheidungsorgan erster Instanz erflossene Entscheidung vorliegt, die im Rechtsmittelzug bekämpft wird. Da vorliegend der zur Entscheidung funktionell unzuständige Untersuchungsrichter in erster Instanz entschieden hat, hätte das Oberlandesgericht zum Zwecke der Sicherung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes des Beschuldigten auf seinen gesetzlichen Richter (Art 83 Abs 2 B-VG) - das auch dann verletzt ist, wenn zwar in oberer Instanz das zuständige Organ eingeschritten ist, aber von der entscheidenden unteren Instanz die sachliche Zuständigkeit gesetzwidrig in Anspruch genommen worden ist (vgl VfSlg 9599/1983; 11.061/1986 ua) - vorerst die Entscheidung des gesetzlichen Richters erster Instanz (vorliegend des Vorsitzenden) herbeiführen müssen (EvBl 1993/94).

Hiezu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Rechtliche Beurteilung

Der österreichische Strafprozeß unterscheidet zwischen Vorverfahren, Zwischenverfahren und Hauptverfahren. Im Vorverfahren (eines Landesgerichtes) entscheidet über die Verhängung oder Aufrechterhaltung der Haft der Untersuchungsrichter. Wird gegen einen Beschuldigten eine Anklageschrift erhoben, so entscheidet der Untersuchungsrichter auch über einen zugleich eingebrachten Antrag auf Verhaftung des Beschuldigten (§ 208 Abs 2 StPO). Befindet sich der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Anklageerhebung bereits in Haft, ist ihm die Anklageschrift längstens binnen 24 Stunden zuzustellen (§ 209 Abs 1 StPO). Nach Rechtskraft der Anklage hat der Untersuchungsrichter die Akten dem Gerichtshof erster Instanz vorzulegen, der sofort die Hauptverhandlung anzuordnen hat (§ 210 Abs 1 StPO).

Im Zwischenverfahren gehen grundsätzlich die Funktionen des Untersuchungsrichters - von Beweisaufnahmen abgesehen (EvBl 1996/75) - auf den Vorsitzenden des im Hauptverfahren erkennenden Kollegialgerichtes bzw den Einzelrichter über.

Zur Frage, wer zu entscheiden hat, wenn der Beschuldigte - wie hier - vor Rechtskraft der Anklage beim Untersuchungsrichter seine Enthaftung beantragt und darüber erst nach Rechtskraft entschieden werden kann, enthält die StPO keine ausdrückliche Regelung.

§ 181 Abs 3 StPO bestimmt, daß mit rechtskräftiger Versetzung in den Anklagestand oder Anberaumung der Hauptverhandlung durch den Einzelrichter die laufende Haftfrist erst zwei Monate nach diesem Zeitpunkt endet. Ordnet der Einzelrichter jedoch die Hauptverhandlung innerhalb der ersten Haftfrist (§ 181 Abs 2 Z 1 StPO) an, so endet diese einen Monat nach der Anordnung. Würde die Haftfrist vor dem Beginn der Hauptverhandlung ablaufen und kann der Beschuldigte nicht enthaftet werden, so hat der Vorsitzende (Einzelrichter) eine Haftverhandlung durchzu- führen. Gleiches gilt, wenn der Beschuldigte seine Enthaftung beantragt und darüber nicht ohne Verzug in der Hauptverhandlung entschieden werden kann.

Aus dieser Bestimmung ergibt sich somit, daß der Vorsitzende oder Einzelrichter nur dann zur Entscheidung über die Haftfrage zuständig ist, wenn die Haftfrist vor Beginn der Hauptverhandlung ablaufen würde oder wenn der Beschuldigte nach Rechtskraft der Anklage oder Übersendung des Aktes an den Einzelrichter gemäß § 484 Abs 3 letzter Satz StPO einen Enthaftungsantrag stellt und über diesen nicht ohne Verzug in der Hauptverhandlung entschieden werden kann. Daraus folgt (Umkehrschluß), daß die Rechtskraft der Anklage noch keine unmittelbare Änderung der funktionellen Zuständigkeit für die Haftentscheidung bewirkt, wenn der Enthaftungsantrag vor Rechtskraft der Anklage (oder Übersendung des Aktes an den Einzelrichter) einlangt. In diesem Fall wird die Zuständigkeit des Untersuchungsrichters perpetuiert; dieser hat darüber ungesäumt zu entscheiden. Erst Anträge nach Rechtskraft der Anklageschrift oder Übersendung des Aktes an den Einzelrichter gemäß § 484 Abs 3 letzter Satz StPO fallen in die Zuständigkeit des Vorsitzenden oder des Einzelrichters.

Dies entspricht auch der Intention des Gesetzgebers, wonach Haftsachen mit der notwendigen Schnelligkeit geführt werden sollen und über Enthaftungsanträge ohne Verzug zu entscheiden ist. Der Vorsitzende (Einzelrichter) müßte sich nämlich nach Einlangen eines (allenfalls sehr umfangreichen) Aktes mit einem offenen Enthaftungsantrag erst in die Materie einarbeiten, um auch in der Haftfrage eine sachgerecht begründete Entscheidung fällen zu können. Demgegenüber hat der Untersuchungsrichter bereits die notwendige Aktenkenntnis und kann daher wesentlich schneller entscheiden. Eine bereits vom Untersuchungsrichter anberaumte Haftverhandlung müßte eventuell - wie im vorliegenden Fall wegen Verhinderung der Vorsitzenden oder aber wegen der gebotenen Einarbeitung in den Akt - abberaumt und neu terminisiert werden, was nicht nur der gebotenen Raschheit der Behandlung von Haftsachen, sondern auch prozeßökonomischen Zielsetzungen zuwiderliefe.

Gegen diese Auslegung spricht nicht die Bestimmung des § 484 Abs 3 StPO, wonach der Untersuchungsrichter nach Einlangen eines Strafantrages die Akten dem Einzelrichter zu übersenden hat, nachdem er die zur Beendigung des Vorverfahrens etwa noch erforderlichen Entscheidungen getroffen hat. Im Gegenteil: Der Untersuchungsrichter ist verpflichtet, über allfällige noch nicht erledigte Anträge zu entscheiden. Auch die Schließung der Voruntersuchung gemäß § 111 StPO stellt nicht die abschließende Tätigkeit eines Untersuchungsrichters in einem Verfahren dar; er hat vielmehr auch weiterhin - selbst nach Einlangen der Anklageschrift und nach deren (auf Grund der unmittelbaren Kundmachung an den verhafteten Beschuldigten und einem dabei erklärten Einspruchsverzicht eingetretenen) Rechtskraft - dem Beschleunigungsgebot Rechnung tragend, noch abschließende Tätigkeiten zu verrichten, wie etwa die Bestimmung offener Dolmetsch- und Sachverständigengebühren, Entscheidung über mit der Anklageschrift eingebrachte Ausscheidungsanträge und über nach Schließung der Voruntersuchung eingebrachte Anträge (wie zB Verfügung über Eigengeld, Ausfolgung von bei Gericht oder den Depositen des Beschuldigten befindlichen Gegenstände und ähnliches).

Erst danach hat der Untersuchungsrichter den Akt gemäß § 210 Abs 1 StPO dem Gerichtshof erster Instanz vorzulegen, der sofort die Hauptverhandlung anzuordnen hat. Nur bei besonderer Dringlichkeit wird der Untersuchungsrichter den Akt sofort zu übersenden und die abschließenden Verfügungen - wie in Haftsachen häufig geboten - in einem Kopienakt zu erledigen und diesen sodann dem Vorsitzenden (Einzelrichter) im Nachhang zu übermitteln haben.

Dazu kommt, daß es der Anklagebehörde nicht verboten ist, bereits während der laufenden Voruntersuchung eine Anklage zu erheben, was es umso mehr erforderlich macht, die die Untersuchung abschließenden Entscheidungen auch nach Rechtskraft der Anklage zu treffen.

Eine gegenteilige Lösung hätte die verfassungsrechtlich bedenkliche Konsequenz, daß durch bloßes Untätigbleiben Zuständigkeiten verschoben würden (vgl Art 83 Abs 2 B-VG).

Auch die in der Beschwerde zitierten Entscheidungen EvBl 1974/23, 1979/49 widersprechen nicht der aufgezeigten Lösung, weil sie zu der vor dem Strafprozeßänderungsgesetz 1993 (BGBl 1993/526) geltenden Rechtslage ergangen sind und anders gelagerte Sachverhalte und Rechtsfragen (Haftentscheidungen nach bereits begonnener Hauptverhandlung) betreffen.

In dem zur Beurteilung vorliegenden Fall kam somit ausschließlich dem Untersuchungsrichter die Entscheidungskompetenz zu, weil der Enthaftungsantrag des Beschuldigten vor Rechtskraft der Anklage gestellt wurde und der Untersuchungsrichter somit unverzüglich darüber zu entscheiden hatte. Daraus folgt, daß auch das Oberlandesgericht zutreffend meritorisch über die Beschwerde des Angeklagten erkannt und die Zuständigkeit des Untersuchungsrichters bejaht hat.

Es liegt somit keine der aufgezeigten Gesetzesverletzungen vor, sodaß die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zu verwerfen war.

Rechtssätze
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