JudikaturJustiz15Os131/23p

15Os131/23p – OGH Entscheidung

Entscheidung
14. Dezember 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. Dezember 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski, Dr. Mann und Dr. Sadoghi sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Riffel in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Sekljic in der Strafsache gegen * M* wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 11 U 93/22d des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des genannten Gerichts vom 21. Februar 2023, GZ 11 U 93/22d 19, und Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Wehofer, zu Recht erkannt:

Spruch

Im Strafverfahren AZ 11 U 93/22d des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien verletzt

1./ die mit Urteil vom 21. Februar 2023 erfolgte Erledigung (auch) des in der Hauptverhandlung ausgedehnten, dem Vergehen der falschen Beweisaussage nach §§ 15, 12 zweiter Fall, 288 Abs 1 StGB unterstellten Tatvorwurfs durch Schuldspruch § 263 Abs 2 StPO iVm § 31 Abs 4 Z 1 StPO;

2./a./ die im Anschluss an die Verkündung des Urteils erteilte Rechtsmittelbelehrung § 6 Abs 2 StPO iVm § 478 Abs 1 und Abs 2 StPO;

2./b./ das Unterbleiben der Ausfertigung und Zustellung des Abwesenheitsurteils an den Angeklagten § 427 Abs 1 letzter Satz StPO.

Dieses Urteil wird aufgehoben und es wird die Sache an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien zu neuer Verhandlung und Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

[1] Im Verfahren AZ 11 U 93/22d des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien legte die Staatsanwaltschaft Wien * M* ein als Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB beurteiltes Verhalten zur Last (ON 3).

[2] Die am 30. September 2022 in Anwesenheit des Angeklagten durchgeführte Hauptverhandlung vertagte das Bezirksgericht zur (neuerlichen) Ladung der Zeugin * Ma* auf den 30. November 2022 (ON 9).

[3] Am 30. November 2022 blieb der Angeklagte der Hauptverhandlung fern (zur Zustellung der Ladung siehe Zustellkarte laut VJ, wonach M* am 31. Oktober 2022 die – wenngleich an seine [nach eigenen Angaben; ON 9 S 2] nicht mehr aufrechte Wohnanschrift adressierte – Ladung tatsächlich behoben hatte [vgl zur dadurch jedenfalls eingetretenen Heilung der Zustellung § 82 StPO iVm § 7 ZustellG]), woraufhin das Gericht – unter der Annahme der nicht ausgewiesenen Ladung des Angeklagten (vgl ON 12 S 2) – die Verhandlung in dessen Abwesenheit fortsetzte. Nach Anhörung der Zeugin Ma* dehnte die Staatsanwaltschaft die Anklage auf ein als Vergehen der falschen Beweisaussage nach §§ 15, 12 zweiter Fall, 288 Abs 1 StGB beurteiltes Verhalten aus. Daraufhin vertagte das Erstgericht die Verhandlung auf den 25. Jänner 2023 zur neuerlichen Ladung des Angeklagten (ON 12 S 4 f).

[4] Am 20. Dezember 2022 leitete die Staatsanwaltschaft Wien zu AZ 37 St 315/22v ein Ermittlungsverfahren gegen M* wegen des in der Hauptverhandlung am 30. November 2022 neu hervorgekommenem Tatverdachts ein (ON 13).

[5] Aufgrund des neuerlichen Nichterscheinens des Angeklagten vertagte das Bezirksgericht Innere Stadt Wien am 25. Jänner 2023 die Hauptverhandlung (unter der Annahme einer Zustellung der Ladung an den Angeklagten durch Hinterlegung [ON 15 S 2]) zur Vorführung des Angeklagten auf den 21. Februar 2023.

[6] Am 21. Februar 2023 wurde der Angeklagte zur Hauptverhandlung vorgeführt. Die Staatsanwaltschaft dehnte die Anklage – inhaltlich ident wie am 30. November 2022 – aus. Nachdem es den Angeklagten dazu und zum Privatbeteiligtenanschluss des Opfers Ma* vernommen hatte (ON 19 S 2 f), erkannte das Bezirksgericht Innere Stadt Wien M* des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB sowie des Vergehens der falschen Beweisaussage nach §§ 15, 12 zweiter Fall, 288 Abs 1 StGB schuldig und verhängte über ihn (unter verfehlter [vgl § 28 Abs 1 StGB] Bildung des Strafrahmens) „nach § 88 Abs 1 StGB“ eine Geldstrafe und setzte für den Fall der Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe fest. Unter einem verpflichtete es den Genannten (ohne Setzung einer Leistungsfrist; vgl aber RIS Justiz RS0126774) zur Zahlung von 1.200 Euro an die Privatbeteiligte Ma*.

[7] Danach belehrte das Bezirksgericht Innere Stadt Wien den Angeklagten über „die Frist von drei Tagen Bedenkzeit“. Nach dem ohne Anmeldung eines Rechtsmittels erfolgten Verstreichen dieses Zeitraums fertigte es das Urteil gekürzt aus (ON 19).

Rechtliche Beurteilung

[8] Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes ausführt, wurde im Verfahren AZ 11 U 93/22d des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien mehrfach das Gesetz verletzt :

[9] Voranzustellen ist, dass für das Hauptverfahren vor dem Bezirksgericht die Bestimmungen über das Verfahren vor dem Landesgericht als Schöffengericht gelten, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt (§ 447 StPO).

[10] 1./ Der erweiterte Anklagegegenstand (vgl dazu RIS Justiz RS0111828; Lewisch , WK StPO § 263 Rz 19 f) wegen des dem Vergehen der falschen Beweisaussage nach §§ 15, 12 zweiter Fall, 288 Abs 1 StGB unterstellten Tatvorwurfs unterlag gemäß § 31 Abs 4 Z 1 StPO der sachlichen Zuständigkeit des Einzelrichters des Landesgerichts. Für einen solchen Fall sieht § 263 Abs 2 StPO vor, dass sich das Urteil des G erichts auf den Gegenstand der Anklage zu beschränken und dem Ankläger – auf sein Verlangen – die selbständige Verfolgung wegen der hinzugekommenen Tat vorzubehalten hat (RIS Justiz RS0128975). Die meritorische Erledigung jenes Tatvorwurfs (Schuldspruch 2./) verletzt daher § 263 Abs 2 StPO iVm § 31 Abs 4 Z 1 StPO.

[11] 2./ Ein Urteil ist dann in Abwesenheit des Angeklagten gemäß § 427 StPO gefällt worden, wenn dieser zwischen dem Aufruf der Sache (§ 239 erster Satz StPO) und dem Schluss der Verhandlung, sei es auch nur zeitweilig, nicht persönlich anwesend war, ohne dass Sonderregelungen eine Ausnahme angeordnet hätten oder der Angeklagte persönlich und unmissverständlich der Verhandlung in seiner Abwesenheit zugestimmt hätte (vgl RIS Justiz RS0116271; Bauer , WK StPO § 427 Rz 2, 3, 15; Ratz , WK StPO § 478 Rz 1).

[12] Die Hauptverhandlung stellt nach dem System der StPO eine Einheit dar. A uch wenn an mehreren Tagen verhandelt wird, ohne dass eine Wiederholung nach § 276a zweiter Satz StPO stattfindet, liegt nur eine Hauptverhandlung vor (RIS Justiz RS0129952, RS0117403).

[13] Vorliegend vertagte das Gericht die Hauptverhandlung jeweils, nachdem sie – durch Aufruf der Sache (§ 239 erster Satz StPO) – begonnen hatte, auf einen Termin innerhalb der Zweimonatsfrist; insgesamt fand daher eine gemäß § 276a erster Satz StPO fortgesetzte, eine Einheit bildende Hauptverhandlung statt, bei der der Angeklagte zeitweilig nicht persönlich anwesend war.

[14] Unbeschadet seiner (neuerlichen) Anwesenheit vor und bei der Urteilsverkündung am 21. Februar 2023 handelt es sich bei dem verkündeten Urteil daher um ein Abwesenheitsurteil iSd § 427 StPO.

[15] a./ Gegen ein Abwesenheitsurteil im bezirksgerichtlichen Verfahren kann gemäß § 478 Abs 1 StPO binnen vierzehn Tagen nach Urteilszustellung Einspruch erhoben und entweder schon mit diesem oder erst mit der an das Landesgericht gerichteten Beschwerde gegen dessen Verwerfung durch das Bezirksgericht das Rechtsmittel der Berufung verbunden werden (§ 478 Abs 2 StPO), das in diesen Fällen nicht gesondert angemeldet werden muss ( Ratz , WK StPO § 478 Rz 6 f; RIS Justiz RS0101837 [T4]; 11 Os 120/17g).

[16] Im Fall eines Abwesenheitsurteils steht dem Angeklagten das Einspruchsrecht auch zu, wenn das Urteil in seiner Anwesenheit verkündet wurde ( Ratz , WK StPO § 478 Rz 1).

Das Abwesenheitsurteil ist jedenfalls auszufertigen (§ 427 Abs 1 letzter Satz StPO; Danek/Mann , WK StPO § 270 Rz 61) und dem Angeklagten persönlich zu eigenen Handen zuzustellen (§ 83 Abs 3 erster Satz und Abs 4 zweiter Satz). Gemäß § 152 Abs 3 Geo ist mit dem Abwesenheitsurteil stets eine schriftliche – und erschöpfende – Rechtsmittelbelehrung zuzustellen; dies ist vom Richter in der Zustellverfügung ausdrücklich anzuordnen (RIS Justiz RS0096533). Insbesondere ist der Angeklagte darauf hinzuweisen, dass ihm die Möglichkeit des Einspruchs offen steht ( Bauer , WK StPO § 427 Rz 16 mwN). Die vierzehntägige Frist beginnt erst mit der – hier nicht erfolgten – Zustellung der Urteilsausfertigung an den Angeklagten zu eigenen Handen. Somit ist das vorliegende Urteil noch nicht in Rechtskraft erwachsen (vgl 12 Os 61/09a).

[17] Durch die erteilte Rechtsbelehrung verletzte das Bezirksgericht § 6 Abs 2 StPO iVm § 478 Abs 1 und Abs 2 StPO.

[18] b./ Wie bereits dargelegt, ordnet § 427 Abs 1 letzter Satz StPO (jedenfalls; vgl zu § 459 StPO aF 12 Os 61/09a) die schriftliche Ausfertigung eines Abwesenheitsurteils und die Zustellung dieser Ausfertigung an den Angeklagten an. Das Unterbleiben einer solchen Ausfertigung und Zustellung derselben verletzt daher das Gesetz in dieser Bestimmung.

[19] Da nicht auszuschließen ist, dass sich die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt haben, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

Rechtssätze
6
  • RS0111828OGH Rechtssatz

    14. Dezember 2023·3 Entscheidungen

    Unzulässigkeit im Abwesenheitsverfahren. Verletzung des rechtlichen Gehörs. Wurde im Verfahren wegen Verletzung der Unterhaltspflicht der Bestrafungsantrag erst in der in Abwesenheit des Beschuldigten vorgenommenen Hauptverhandlung auf einen weiteren Deliktszeitraum ausgedehnt, so ist die Ausdehnung auch der Verhandlung und des Urteils darauf unzulässig, weil die Sonderbestimmungen des § 263 StPO über die Anklageausdehnung in der Hauptverhandlung nur dann zum Tragen kommen, wenn die Verhandlung in Gegenwart des Beschuldigten stattfindet (so schon SSt 17/116). Kommt hingegen in einer in Abwesenheit des Beschuldigten vorgenommenen Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht eine neue Tat hervor, so hat der Ankläger, wenn er sie verfolgen will, gemäß der allgemeinen Vorschrift des § 451 Abs 1 StPO einen schriftlichen Bestrafungsantrag nachzutragen. War somit schon die Anklageausdehnung zu Protokoll formell verfehlt, so war erst recht die Ausdehnung auch der Verhandlung und des Urteils darauf unzulässig, weil der Beschuldigte solcherart im Verfahren niemals Gelegenheit hatte, zum erweiterten Anklagevorwurf Stellung zu nehmen. Durch das insoweit gepflogene Verfahren und das darüber erlassene Urteil wurde daher das Gesetz in dem in §§ 451 Abs 1 letzter Satzteil, 454 und 459 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art 6 MRK (nicht bloß in der Bestimmung des § 459 StPO) verletzt.