JudikaturJustiz14Os84/20i

14Os84/20i – OGH Entscheidung

Entscheidung
03. November 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 3. November 2020 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz Hummel sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter in Gegenwart des Schriftführers Dr. Koller in der Strafsache gegen ***** M***** und andere Beschuldigte wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 3, 148 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 608 St 1/08w der Staatsanwaltschaft Wien, über den Antrag des Beschuldigten Dr. ***** S***** auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Die Staatsanwaltschaft Wien führt – soweit hier wesentlich – gegen Dr. ***** S***** zu AZ 608 St 1/08w ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 3, 148 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen.

In diesem Verfahren bestellte die Staatsanwaltschaft Wien am 31. Jänner 2019 gemäß § 126 Abs 1 StPO Dr. ***** P***** zum Sachverständigen und beauftragte ihn mit der Erstattung von Befund und Gutachten (ON 8293). In der Folge verlangte der genannte Beschuldigte gemäß § 126 Abs 5 erster Satz StPO die Bestellung eines Sachverständigen im Rahmen gerichtlicher Beweisaufnahme (ON 8354), worauf das Landesgericht für Strafsachen Wien mit Beschluss vom 26. Februar 2020, GZ 334 HR 436/08g 8850, ebenfalls Dr. ***** P***** zum Sachverständigen bestellte.

Die dagegen erhobene (unter anderem) eine Verletzung des Art 6 MRK zufolge Missachtung des Beschleunigungsgebots (§ 9 StPO) behauptende Beschwerde des Erneuerungswerbers (ON 8927) wies das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 15. Juni 2020, AZ 22 Bs 108/20y, ab (ON 9121). Demnach sei die Bestellung eines Sachverständigen mangels eigener Sachkunde der Staatsanwaltschaft zum Zwecke der Schadensberechnung erforderlich. Die durch diese Beweisaufnahme drohende Verzögerung des Verfahrens hindere den Bestellungsvorgang nicht, weil das allgemeine Beschleunigungsgebot (§ 9 Abs 1 StPO) und die in § 126 Abs 2c StPO normierte Verpflichtung zu Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit kein subjektives Recht auf Abstandnahme von der Sachverständigenbestellung einräumten.

Rechtliche Beurteilung

Gegen diesen Beschluss des Oberlandesgerichts richtet sich der Antrag des Beschuldigten auf Erneuerung des Verfahrens nach § 363a StPO. Er behauptet darin, im Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 MRK dadurch verletzt zu sein, dass die Bestellung eines Sachverständigen mangels Notwendigkeit einer solchen das Verfahren verzögernden Beweisaufnahme gegen das Beschleunigungsgebot verstoße und wegen Aussichtslosigkeit der Klärung der zu beantwortenden Fragestellung das Recht auf freie Beweiswürdigung durch das Gericht beeinträchtige.

Bei einem nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag handelt es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf, für den alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß gelten (RIS Justiz RS0122737). Da die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur dann anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein, muss auch ein Erneuerungsantrag deutlich und bestimmt darlegen, worin eine – vom Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende – Grundrechtsverletzung im Sinne des § 363a Abs 1 StPO zu erblicken sei (RIS Justiz RS0122737 [T17], RS0124359). Auf die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft kann der Erneuerungsantrag nicht gestützt werden, weil die Erneuerung des Strafverfahrens voraussetzt, dass das in Rede stehende Grundrecht durch eine (letztinstanzliche) Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichts verletzt wurde.

Der Erneuerungsantrag macht in Ansehung des bekämpften Beschlusses keine behördliche Inaktivität geltend, sondern bestreitet unter Hinweis auf die Dauer, Kosten und fraglichen Erfolgsaussichten die Zweckmäßigkeit der Beweisaufnahme. Davon ausgehend wird die Verpflichtung des Oberlandesgerichts reklamiert, die Bestellung des Sachverständigen zu verweigern. Warum das Gericht in der zuvor beschriebenen Verfahrenssituation zu einer solchen Entscheidung befugt sein soll, erklärt der Erneuerungsantrag jedoch ebenso wenig wie die Gründe, warum ein über Begehren des Erneuerungswerbers erfolgtes Tätigwerden des Einzelrichters im Ermittlungsverfahren mit Blick auf den Umfang seiner Entscheidungsbefugnis Art 6 Abs 1 MRK unter dem Aspekt der Angemessenheit der Verfahrensdauer verletze.

Hier ist nämlich zu berücksichtigen, dass der Übergang der Befugnis zur Bestellung und Führung des Sachverständigen durch das Gericht Rechtsfolge eines darauf gerichteten Verlangens des Beschuldigten gemäß § 126 Abs 5 erster Satz StPO ist ( Hinterhofer , WK StPO § 126 Rz 143 ff; Ratz , Initiative, Bestellung und Führung beim Sachverständigenbeweis der StPO, ÖJZ 2018, 951 [955];

Rebisant , Waffengleichheit beim Sachverständigenbeweis: OGH, VfGH und StPRÄG 2014, in Lewisch [Hrsg] Jahrbuch Wirtschaftsstrafrecht und Organverantwortlichkeit 2015, 205 [214]; vgl Pilnacek/Stricker , WK StPO § 104 Rz 30/4). Die Zweckmäßigkeit der Aufnahme des Sachverständigenbeweises hat das Gericht aber nicht zu prüfen, weil aufgrund des Anklagegrundsatzes (Art 90 Abs 2 B VG, § 4 StPO) allein die Staatsanwaltschaft als Leiterin des Ermittlungsverfahrens entscheidet, welche Ermittlungen zur Aufklärung der Straftat (§ 91 Abs 2 erster Satz StPO) durchzuführen sind (vgl 11 Os 182/08m, 183/08h; Pilnacek/Stricker , WK StPO § 104 Rz 30). Das Gericht muss daher einen Sachverständigen bestellen, selbst wenn es zur Ansicht gelangen sollte, dass dem (erst zu beauftragenden) Gutachten – wie vom Erneuerungswerber geltend gemacht – ein Beweiswert nicht zukommen wird (vgl auch Hinterhofer , WK StPO § 126 Rz 89 ff).

Die behauptete Konventionsverletzung wird demnach nicht schlüssig und nachvollziehbar dargestellt (RIS Justiz RS0128393).

Soweit der Erneuerungsantrag der Sache nach der Staatsanwaltschaft eine in der unangemessenen Verfahrensdauer liegende Verletzung des Art 6 Abs 1 MRK anlastet, die von den Gerichten nicht aufgegriffen worden sei, ist aus Gründen der Vollständigkeit darauf zu verweisen, dass die angesprochene Subsidiarität des nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrags (erneut RIS Justiz RS0122737, RS0124739) die vorherige Einbringung jener Anträge erfordert, die wirksam Abhilfe gegen die Verzögerung versprechen. Gegen eine Verletzung des Beschleunigungsgebots (§ 9 Abs 1 StPO) im Bereich der Staatsanwaltschaft kann durch einen Einspruch wegen Rechtsverletzung (§ 106 Abs 1 Z 1 StPO) gerichtlicher Rechtsschutz erlangt werden (RIS Justiz RS0122737 [T28]; 11 Os 131/13v; 12 Os 72/18g).

Schließlich vermag der Erneuerungsantrag nicht nachvollziehbar darzustellen, warum die gerichtliche Beweisaufnahme die freie Beweiswürdigung (§ 14 StPO) beeinträchtige und daher gegen das Fairnessgebot (Art 6 Abs 1 MRK) verstoße.

Der solcherart unzulässige Erneuerungsantrag war daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung in

sinngemäßer Anwendung des Art 35 Abs 3 MRK zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 StPO; vgl dazu 17 Os 11/12i).

Rechtssätze
5
  • RS0122737OGH Rechtssatz

    18. März 2024·3 Entscheidungen

    Bei einem nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag handelt es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf. Demgemäß gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß auch für derartige Anträge. So kann der Oberste Gerichtshof unter anderem erst nach Rechtswegausschöpfung angerufen werden. Hieraus folgt für die Fälle, in denen die verfassungskonforme Auslegung von Tatbeständen des materiellen Strafrechts in Rede steht, dass diese Problematik vor einem Erneuerungsantrag mit Rechts- oder Subsumtionsrüge (§ 281 Abs 1 Z 9 oder Z 10, § 468 Abs 1 Z 4, § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO) geltend gemacht worden sein muss. Steht die Verfassungskonformität einer Norm als solche in Frage, hat der Angeklagte unter dem Aspekt der Rechtswegausschöpfung anlässlich der Urteilsanfechtung auf die Verfassungswidrigkeit des angewendeten Strafgesetzes hinzuweisen, um so das Rechtsmittelgericht zu einem Vorgehen nach Art 89 Abs 2 B-VG zu veranlassen. Wird der Rechtsweg im Sinn der dargelegten Kriterien ausgeschöpft, hat dies zur Folge, dass in Strafsachen, in denen der Oberste Gerichtshof in zweiter Instanz entschieden hat, dessen unmittelbarer (nicht auf eine Entscheidung des EGMR gegründeter) Anrufung mittels Erneuerungsantrags die Zulässigkeitsbeschränkung des Art 35 Abs 2 lit b erster Fall MRK entgegensteht, weil der Antrag solcherart „im wesentlichen" mit einer schon vorher vom Obersten Gerichtshof geprüften „Beschwerde" übereinstimmt.