JudikaturJustiz13Os7/03

13Os7/03 – OGH Entscheidung

Entscheidung
29. Januar 2003

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. Jänner 2003 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Brustbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Rouschal, Dr. Habl, Dr. Ratz und Dr. Kirchbacher als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Hietler als Schriftführer, in der Strafsache gegen Mag. Gerald O***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB, über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Urteile des Bezirksgerichtes Donaustadt vom 18. Mai 2000, GZ 32 U 113/00v-7, und des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Berufungsgericht vom 28. September 2000, AZ 13a Bl 491/00 (ON 13), nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Raunig, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten, zu Recht erkannt:

Spruch

Die Urteile des Bezirksgerichtes Donaustadt vom 18. Mai 2000, GZ 32 U 113/00v-7, und des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Berufungsgericht vom 28. September 2000, AZ 13a Bl 491/00 (ON 13), verletzen das Gesetz in der Bestimmung des § 90b StPO. Sie werden aufgehoben, und es wird die Sache an das Bezirksgericht Donaustadt mit dem Auftrag verwiesen, nach den Bestimmungen des IXa. Hauptstückes der StPO vorzugehen.

Text

Gründe:

Mit dem Urteil des Bezirksgerichtes Donaustadt vom 18. Mai 2000, GZ 32 U 113/00v-7, wurde Mag. Gerald O***** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB schuldig erkannt.

Danach hat er am 15. November 1999 in Wien als Lenker eines PKW beim Einfahren in die Kreuzung Stadionallee/Praterhauptallee den auf der Hauptallee in Richtung Lusthaus laufenden Roland F***** mangels hinreichender Aufmerksamkeit zu spät bemerkt und durch eine "Schädelprellung, eine zweifache Rissquetschwunde am Stirnbein, eine Prellung und Abschürfung beider Kniegelenke, Abschürfungen des Sprunggelenkes rechts sowie einen Bruch des Endgliedes der zweiten Zehe links" am Körper an sich schwer verletzt.

Mit Urteil vom 28. September 2000, AZ 13a Bl 491/00 (ON 13), gab das Landesgericht für Strafsachen Wien der Strafberufung der Staatsanwaltschaft Folge und schaltete die vom Erstgericht gewährte bedingte Strafnachsicht aus.

Nach den Feststellungen des Erstgerichtes war es bereits dunkel, als der Beschuldigte mit seinem PKW und einer Fahrgeschwindigkeit von 30 bis 40 km/h bei eingeschaltetem Abblendlicht in die Kreuzung einfuhr. Zugleich übersetzte der dunkel gekleidete und sehr schnell laufende Roland F***** die Kreuzung abseits des Schutzweges auf der Praterhauptallee, wobei er vom Beschuldigten zu spät bemerkt wurde, sodass ein Zusammenstoß trotz des eingeleiteten Bremsmanövers nicht mehr vermieden werden konnte. F***** wurde von der Front des PKW erfasst, über die Motorhaube auf die Windschutzscheibe geschleudert und fiel anschließend zu Boden, wodurch er die vorstehend bezeichneten Verletzungen erlitt.

Während das Erstgericht den Auftrag des § 90b StPO unberücksichtigt ließ, kam das Landesgericht für Strafsachen Wien - auch aufgrund eigener, über die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils hinausgehender Sachverhaltsannahmen - zur Überzeugung, dass angesichts schwerer Schuld des Angeklagten und aufgrund generalpräventiver Erfordernisse ein amtswegiger Auftrag zu diversionellem Vorgehen ausscheidet und ließ den Schuldspruch daher unberührt.

In seiner zur Wahrung des Gesetzes gegen die Urteile des Bezirksgerichtes Donaustadt und des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Berufungsgericht erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde führt der Generalprokurator folgendes aus:

Ein Vorgehen nach dem IXa. Hauptstück der StPO setzt neben einem hinreichend geklärten Sachverhalt und dem Fehlen (der) spezial- und generalpräventiver Notwendigkeit der Bestrafung (§ 90a Abs 1 Z 4 StPO) unter anderem eine nicht als schwer anzusehende Schuld des Verdächtigen voraus (Abs 2 Z 2 leg.cit.).

Bei der Bewertung des Grades der Schuld als "schwer" ist von jenem Schuldbegriff auszugehen, der nach §§ 32 ff StGB die Grundlage für die Strafbemessung bildet, wobei stets nach Lage des konkreten Falles eine ganzheitliche Abwägung aller unrechts- und schuldrelevanten Tatumstände vorzunehmen ist. Demnach müssen sowohl das Handlungs- als auch das Gesinnungsunrecht insgesamt eine Unwerthöhe erreichen, die im Wege einer überprüfenden Gesamtwertung als auffallend und ungewöhnlich zu beurteilen ist, wobei hierfür aber keineswegs ein Überwiegen der Erschwerungsumstände vorausgesetzt wird. Dabei kommt auch der vom Gesetzgeber in der Strafdrohung zum Ausdruck gebrachten Vorbewertung des deliktstypischen Unrechts- und Schuldgehaltes eine Indizwirkung für die Schuldabwägung zu (Schroll in WK2, Nachbem zu § 42 StGB Rz 21 f und 27; ferner 13 Os 111/00, 15 Os 164/01 und 14 Os 38, 39/02).

Den Gradmesser der Schuld bilden demnach vorrangig das deliktsspezifische Handlungsunrecht, die als Gesinnungsunwert bezeichnete eigentliche Tatschuld sowie alle (für die Bestimmung der Strafe) sonst noch bedeutsamen Umstände im Sinne der §§ 32 ff StGB, soweit sie nicht als Konsequenz eines tatzeitbezogenen Schuldverständnisses bei der bezüglichen Gewichtung außer Betracht bleiben. Anders als nach § 42 Z 1 StGB und im Falle des § 88 Abs 2 StGB ist nach § 90a Abs 2 Z 2 StPO auch die Intensität der deliktsspezifischen Rechtsgutbeeinträchtigung, dh der zurechenbare Erfolg, im Rahmen der Schuldfrage zu prüfen. Bezieht sich das Handlungsunrecht auf einen erheblich deliktischen Erfolg, so führt dies freilich nicht zwangsläufig zur Annahme einer insgesamt schwerwiegenden Schuld, da insbesondere bei Fahrlässigkeitsdelikten eine geringfügige objektive Sorgfaltswidrigkeit im Zusammenhang mit einem zuzurechnenden erheblichen Erfolgsunrecht noch ein durchschnittliches Verschulden zu begründen vermag (vgl Schroll, aaO, Rz 17 und 20; Schütz in Miklau/Schroll "Diversion - Ein anderer Umgang mit Straftaten", S 23 ff).

Das Schuldgewicht fahrlässigen Verhaltens wird auch vom Erkennbarkeitsgrad der Gefahr eines Schadenseintrittes bestimmt. Je wahrscheinlicher die Rechtsgutverletzung wird, umso schwerer wiegt die Schuld. Dem erkennbaren Gefährlichkeitsgrad des Verhaltens kommt damit maßgebliche Bedeutung zu (14 Os 89/89, 15 Os 92/94). Im vorliegenden Fall ist dem Fahrzeuglenker objektive Sorgfaltswidrigkeit anzulasten, weil er im Kreuzungsbereich nicht die erforderliche besondere Aufmerksamkeit an den Tag gelenkt (gemeint: gelegt) hat.

Erhöhte Sorgfaltsanforderungen, wie etwa nach § 9 Abs 2 StVO gegenüber Verkehrsteilnehmern auf einem Schutzweg, trafen den Beschuldigten dagegen nicht, hat doch der Verletzte - entgegen der für Fußgänger geltenden Verhaltensvorschrift des § 76 Abs 6 StVO - die Fahrbahn nicht unerheblich abseits des vorhandenen Schutzweges überquert. Dazu kommt noch, dass der Fußgänger infolge seiner dunklen Bekleidung nur einen geringen Auffälligkeitswert besaß und durch sein schnelles Einlaufen in den Kreuzungsbereich auch gegen das Behinderungsverbot des § 76 Abs 5 StVO verstieß. Insgesamt gesehen trifft den Fußgänger Roland F***** wegen seines für den vorliegenden Unfall mitursächlichen Verhaltens somit ein nicht unerhebliches Mitverschulden.

Demgemäß hat das Sorgfaltsdefizit des Angeklagten noch nicht jenes Ausmaß erreicht, das als auffallende Sorglosigkeit, verbunden mit einer hohen Unfallswahrscheinlichkeit, zu beurteilen wäre. Fuhr er doch bei einer an sich erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h mit bloß 30 bis 40 km/h in die Kreuzung ein. Demnach ist ihm weder besondere Rücksichtslosigkeit noch ein krasser Aufmerksamkeitsfehler vorzuwerfen, sondern - auch im Hinblick auf das erwähnte Mitverschulden des Fußgängers - nur eine im Straßenverkehr nicht untypische Nachlässigkeit, die für sich allein noch nicht geeignet ist, einen im Sinne des § 90a Abs 2 Z 2 StPO qualifizierten Schuldvorwurf zu begründen.

Besondere generalpräventive Erfordernisse, die einem diversionellen Vorgehen auch im Falle des Vorliegens der sonst hiefür erforderlichen Voraussetzungen entgegenstünden (§ 90a Abs 1 Z 4 StPO), sind nach der Aktenlage gleichfalls nicht gegeben. Gewiss kann im Sinne der Überlegungen des Berufungsgerichtes die angehobene Gefährlichkeit einer Tatortsituation dafür sprechen, dort verübte Fahrlässigkeitstaten zwecks örtlicher Hintanhaltung derartiger Deliquenz anderer Verkehrsteilnehmer zu bestrafen. Aktenmäßige Gegebenheiten deuten allerdings darauf hin, dass die erwogene Problematik nicht in einer speziellen Ausgestaltung der Unfallstelle, sondern in einem ortsbezogenen verbotswidrigen Selbstgefährdungsverhalten des Verletzten zu erblicken ist, welches insoweit auch bei der Entscheidung über generalpräventive Notwendigkeiten Beachtung zu finden und der Annahme eines Sanktionsbedarfs entgegenzuwirken vermag.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

Ausgehend (allerdings allein) von den (im Einklang mit der Aktenlage getroffenen) Feststellungen des Bezirksgerichtes Donaustadt (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 659, Schütz, JBl 2001, 329) vertritt der Oberste Gerichtshof in Übereinstimmung mit der vom Generalprokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde dargelegten Rechtsauffassung die Ansicht, dass die Schuld des Angeklagten nicht als schwer zu bewerten ist (zum Begriff der "schweren Schuld" iS des § 90a Abs 2 Z 2 StPO vgl nochmals Schroll in WK2 Nachbem zu § 42 Rz 17 ff, sowie weiters 13 Os 2/01, 15 Os 110/02), weil den Verletzten, welcher - dunkel gekleidet kaum auszumachen - in schneller Bewegung abseits eines nahe gelegenen Schutzweges die Fahrbahn zu queren suchte, ein schwerwiegendes Mitverschulden am Unfall trifft, wogegen Mag. O***** sich der Unfallstelle mit (gemeint: gegenüber der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 19) "reduzierter Geschwindigkeit von 30 bis 40 km/h" (US 3) näherte. Spezialpräventive Gesichtspunkte stehen diversionellem Vorgehen gegenüber dem geständigen, unbescholtenen Angeklagten ebensowenig entgegen wie solche der Generalprävention, zumal die Überlegung des Berufungsgerichtes, wonach Mag. O***** "wusste, dass diese Kreuzung von zahlreichen Joggern übersetzt wird und daher als besonders gefährlich einzustufen ist" (US 5), in den Entscheidungsgründen des Ersturteils keine Deckung findet.

Von denjenigen des Erstgerichtes abweichende Feststellungen in der Schuldfrage und in jener, ob nach dem IXa. Hauptstück vorzugehen ist oder gewesen wäre, aber konnte das Berufungsgericht nicht wirksam treffen.

Nur die Behandlung einer Schuldberufung darf zur Beweisaufnahme in der Schuldfrage Anlass geben. Demgegenüber darf das Berufungsgericht, welches sich nach der ausdrücklichen Anordnung des § 477 Abs 1 erster Satz StPO auf die in Beschwerde gezogenen Punkte zu beschränken hat, angesichts bloß einer gegen den Sanktionsausspruch oder den Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche ergriffenen Berufung die über schuld- und subsumtionserhebliche (entscheidende) Tatsachen getroffenen Urteilsfeststellungen nicht überprüfen. In Erledigung einer Nichtigkeitsberufung (und nach § 477 Abs 1 zweiter Satz StPO) ist das Berufungsgericht nur insoweit zu (eigenen) Feststellungen über schulderhebliche Tatsachen befugt, als sich diese als begründet erwiesen hat (SSt 30/73), das erstgerichtliche Urteil also aufzuheben ist. Die Beweisaufnahme dient dann dem Ziel, statt einer Rückverweisung eine Entscheidung des Berufungsgerichtes in der Sache selbst zu ermöglichen.

§ 473 Abs 1 und Abs 2 StPO, welche Vorschriften das Beweisverfahren vor dem Berufungsgericht regeln, beziehen sich demnach ausschließlich auf Erkenntnisse über eine Berufung wegen des Ausspruches über die Schuld (§ 464 Z 2 erster Fall StPO) und solche, die aufgrund erfolgreicher Nichtigkeitsberufung oder amtswegiger Wahrnehmung einer Nichtigkeit nach § 477 Abs 1 zweiter Satz (§ 468 Abs 1 Z 4 iVm § 281 Abs 1 Z 9 und 10) StPO - mithin dem Erkenntnis über das Vorliegen von Nichtigkeitsgründen logisch nachgeordnet - in der Sache selbst getroffen werden.

Wird aus § 468 Abs 1 Z 4 iVm § 281 Abs 1 Z 10a StPO mit Berufung (§ 464 Z 1 StPO) geltend gemacht, dass "nach dem IXa. Hauptstück vorzugehen gewesen wäre" oder dieser Nichtigkeitsgrund von Amts wegen wahrgenommen, gilt nichts anderes. Nur ist hier nach § 288 Abs 2 Z 2a StPO auch der Oberste Gerichtshof befugt, die notwendigen Feststellungen zu treffen, weil es sich dabei um sog prozessuale Tatsachen handelt, sodass es zufolge der generellen Verweisung des § 447 zweiter Satz StPO auf die für das Verfahren vor den Gerichtshöfen erster Instanz geltenden Bestimmungen keiner besonderen Anordnungen bedurfte. Auch Feststellungen des Rechtsmittelgerichtes über die aus § 281 Abs 1 Z 10a StPO entscheidenden Tatsachen setzen aber den Erfolg einer Diversionsrüge oder amtswegige Wahrnehmung dieses Nichtigkeitsgrundes logisch voraus (Ratz, WK-StPO § 473 Rz 5, 9 f, 11 ff, § 281 Rz 660 f, § 288 Rz 41; vgl auch den ersten Teilsatz des § 288 Abs 2 StPO).

Zusammenfassend gilt für die Berufung wegen des Ausspruches über die Schuld, die Strafe und die privatrechtlichen Ansprüche kein Neuerungsverbot.

Daher ist bei deren Behandlung eine Beweisaufnahme des Berufungsgerichtes zur Gewinnung der Entscheidungsgrundlagen zulässig und erforderlichenfalls geboten.

In Erledigung einer Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe oder in amtswegiger Wahrnehmung von Nichtigkeitsgründen (§ 477 Abs 1 zweiter Satz StPO) findet eine Beweisaufnahme demgegenüber nur unter der vorläufigen Annahme statt, dass sich die Berufung als begründet erweist oder Anlass zu amtswegigem Vorgehen besteht. Sie dient dann nur dem Ziel, statt einer Rückverweisung eine Entscheidung des Berufungsgerichtes in der Sache selbst zu ermöglichen. Daraus folgt, dass der Oberste Gerichtshof angesichts der Aufhebung des Schuldspruchs aufgrund des Erfolgs der zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde (§ 292 erster Satz iVm § 288 Abs 2 Z 2a StPO) an die vorstehend erwähnte tatsächliche Annahme des Berufungsgerichtes, wonach Mag. O*****, "wusste, dass diese Kreuzung von zahlreichen Joggern übersetzt wird und daher als besonders gefährlich einzustufen ist", nicht gebunden ist.

Schon weil ein derartiges Wissen durch Ergebnisse der Hauptverhandlung nicht indiziert ist (vgl AS 79 und 81 iVm 31), sah sich der Oberste Gerichtshof in der Lage, den im § 288 Abs 2 Z 2a StPO genannten Auftrag zu erteilen, ohne selbst klärende Feststellungen zu den "aus § 281 Abs 1 Z 10a StPO entscheidenden" - prozessualen - Tatsachen treffen zu müssen.

Rechtssätze
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