JudikaturJustiz12Os72/18g

12Os72/18g – OGH Entscheidung

Entscheidung
15. Oktober 2019

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 15. Oktober 2019 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oshidari als Vorsitzenden, den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski, Dr. Brenner und Dr. Setz Hummel in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Jukic in der Strafsache gegen Viktor M***** und andere Beschuldigte wegen des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1 und Abs 3 zweiter Fall StGB, AZ 352 HR 214/11x des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag des Dr. Stefan T***** auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO in Ansehung des Beschlusses des Oberlandesgerichts Wien vom 16. April 2018, AZ 20 Bs 65/18g, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Im Ermittlungsverfahren gegen Viktor M***** und andere Beschuldigte wegen des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1 und 3 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 703 St 3/11t der Staatsanwaltschaft Wien, verfügte die zuständige Staatsanwältin am 29. November 2017 die am 30. November 2017 effektuierte Abfertigung eines an die rumänischen Justizbehörden gerichteten Ersuchens vom 15. Februar 2017 um Übernahme der Strafverfolgung gegen mehrere Beschuldigte, darunter auch gegen Dr. Stefan T*****.

Mit Schriftsatz vom 12. Jänner 2018 erhob Dr. Stefan T***** dagegen Einspruch wegen Rechtsverletzung und erblickte im Vorgehen der Staatsanwaltschaft – kurz gefasst – eine Verletzung von Art 6 MRK und des Beschleunigungsgebots gemäß § 9 Abs 1 StPO.

Mit Beschluss vom 20. Februar 2018, GZ 352 HR 214/11x 608, wies das Landesgericht für Strafsachen Wien den als verspätet erachteten Einspruch zurück, sah diesen darüber hinaus jedoch auch als inhaltlich nicht berechtigt an. Dazu führte die Haft- und Rechtsschutzrichterin insbesondere aus, das Gericht habe die Einhaltung der Bedingungen und Förmlichkeiten des § 1 Abs 1 Z 3, Abs 2 Eu JZG iVm § 74 ARHG nicht zu prüfen. Eine „einspruchsrelevante Verzögerung“ sei nicht ersichtlich (und wäre diesbezüglich in erster Linie Dienstaufsichtsbeschwerde an die Oberstaatsanwaltschaft zu erheben), weil die notwendige Übersetzung des Übernahmeersuchens der zuständigen Staatsanwältin erst am 20. Juni 2017 vorgelegt worden sei und vor dessen Abfertigung die am 3. Oktober 2017 eingetretene Rechtskraft des den Einstellungsantrag vom 14. Juni 2017 (ON 526) abweisenden Beschlusses vom 14. September 2017 (ON 543) habe abgewartet werden müssen (ON 608 S 8).

Das Oberlandesgericht Wien als Beschwerdegericht gab der dagegen erhobenen Beschwerde des Beschuldigten mit Beschluss vom 16. April 2018, AZ 20 Bs 65/18g, nicht Folge und führte insbesondere aus:

Zwar sei der Einspruch wegen Rechtsverletzung rechtzeitig, jedoch inhaltlich nicht berechtigt, weil das in §§ 74 ff ARHG geregelte Verfahren zur Erwirkung der Übernahme der Strafverfolgung keine durch die StPO eingeräumten subjektiven Rechte regle. Das Gericht habe keine Kompetenz, die Einhaltung der Bedingungen und Förmlichkeiten des § 74 ARHG zu prüfen (BS 11). Soweit sich das Einspruchs- und Beschwerdevorbringen nicht nur gegen die Abfertigung des Übernahmeersuchens an sich, sondern auch gegen den späten Zeitpunkt derselben richte, erachtete das Rechtsmittelgericht diese – unter ausdrücklichem Hinweis auf die Erwägungen des Landesgerichts für Strafsachen Wien – im Hinblick auf die Schwere des Tatvorwurfs und die Komplexität der Ermittlungen nicht als unverhältnismäßig (BS 12).

Rechtliche Beurteilung

Gegen diesen Beschluss des Oberlandesgerichts Wien richtet sich der – nicht auf ein Erkenntnis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gestützte – (rechtzeitige) Antrag des Beschuldigten Dr. Stefan T***** auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO, mit welchem dieser eine Verletzung von „Art 6 MRK, Art 47 und 48 GRC“ und des weiteren von Art 50 GRC, Art 54 SDÜ sowie von Art 83 Abs 2 B VG geltend macht.

Indes zu Unrecht.

Mit Entscheidung des verstärkten Senats vom 30. November 2018, AZ 13 Os 49/16d, hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass ein Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens auch im von der Rechtsprechung (13 Os 135/06m, SSt 2007/53; RIS Justiz RS0122228) erweiterten Anwendungsbereich des § 363a StPO – dessen Wortlaut folgend – nur wegen einer Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle gestellt werden kann.

Der Erneuerungsantrag ist daher in Ansehung der Relevierung einer Verletzung der Art 47, 48 und 50 GRC, des Art 54 SDÜ und von Art 83 Abs 2 B VG schon aus diesem Grund unzulässig.

Zum Vorbringen des Erneuerungswerbers im Übrigen:

Für einen – wie hier – nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag (RIS Justiz RS0122228), bei dem es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und Art 35 MRK sinngemäß (RIS-Justiz RS0122737, RS0128394).

Demnach hat – weil die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein ( Grabenwarter/Pabel, EMRK 6 § 13 Rz 16) – ein Erneuerungsantrag deutlich und bestimmt darzulegen, worin eine (vom angerufenen Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende) Grundrechtsverletzung im Sinn des § 363a Abs 1 StPO zu erblicken sei (RIS Justiz RS0122737 [T17]). Dabei hat er sich mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in allen relevanten Punkten auseinanderzusetzen (RIS Justiz RS0124359, RS0128393) und – soweit er (auf Grundlage der Gesamtheit der Entscheidungsgründe) nicht Begründungsmängel aufzuzeigen oder erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit getroffener Feststellungen zu wecken vermag – seine Argumentation auf Basis der Tatsachenannahmen der bekämpften Entscheidung zu entwickeln (RIS Justiz RS0125393 [T1]).

Diesen Erfordernissen wird das gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien gerichtete Vorbringen nicht gerecht, indem es unsubstantiiert behauptet, dass „die Voraussetzungen gemäß § 74 Abs 1 Z 2 ARHG für eine Übernahme schlicht nicht vorliegen“ und vermeint, bereits deshalb werde „dem Betroffenen das Recht auf ein faires Verfahren iSd Art 6 MRK“ verwehrt. Weshalb ungeachtet dessen, dass der Beschuldigte kein subjektives Recht auf die Stellung oder das Unterbleiben eines in die Entscheidungskompetenz des Bundesministeriums für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz fallenden Übernahmeersuchens hat ( Martetschläger in WK 2 ARHG § 74 Rz 5 mwN), eine mittels Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens relevierbare Grundrechtsverletzung nach § 363a Abs 1 StPO vorliegen soll (vgl RIS Justiz RS0128957), leitet der Erneuerungswerber nicht methodengerecht aus dem Gesetz ab (RIS Justiz RS0128393 [T2]).

Zur Erfüllung der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Art 35 Abs 1 MRK bei Reklamation unangemessener Verfahrensdauer mittels Erneuerungsantrags bedarf es der vorherigen Einbringung jener Anträge, die wirksam Abhilfe gegen die Verzögerung versprechen. Gegen eine Verletzung des Beschleunigungsgebots (§ 9 Abs 1 StPO) im Bereich der Staatsanwaltschaft kann gerichtlicher Rechtsschutz erlangt werden, indem ein auf dessen Verletzung gestützter Antrag nach § 106 Abs 1 Z 1 StPO gestellt wird. Auf diesem Weg kann ein konkreter Auftrag des Gerichts erster oder (im Beschwerdefall) zweiter Instanz an die Staatsanwaltschaft erwirkt werden, dem Beschleunigungsgebot durch Maßnahmen, wie etwa einer gehörigen Fortführung, einer Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder einer Anklageerhebung Rechnung zu tragen. Diese Bindung der Staatsanwaltschaft an Aufträge des Gerichts aufgrund der Verletzung eines subjektiven Rechts lässt sich aus § 107 Abs 4 StPO ableiten. Gibt das Gericht dem Einspruch statt, hat die Staatsanwaltschaft, sofern sie diesem nicht schon entsprochen hat (§ 106 Abs 4 StPO), den entsprechenden Rechtszustand herzustellen (11 Os 53/11w mwN).

Soweit der Erneuerungswerber – ohne einen konkreten Bezug zur angefochtenen Entscheidung herzustellen – weitwendig die bisherige Dauer des Ermittlungsverfahrens kritisiert und daraus eine Verletzung des Art 6 MRK abzuleiten sucht, ist er darauf zu verweisen, dass er erstmals am 12. Jänner 2018 im Zusammenhang mit der Abfertigung des Übernahmeersuchens einen dem bekämpften Beschluss zu Grunde liegenden Einspruch wegen Rechtsverletzung erhoben hat. Zuvor ergangene Beschlüsse vom 13. September 2016 (ON 481) und 14. September 2017 (ON 543), mit denen Anträge auf Einstellung des Ermittlungsverfahrens gemäß § 108 StPO abgewiesen und die damit verbundenen, inhaltlich auf – den auf das Verfahren gemäß § 516 Abs 10 StPO nicht anwendbaren – § 108a Abs 3 StPO gestützten Begehren auf „Feststellung der Rechtsverletzung“ zurückgewiesen wurden, blieben jedoch unbekämpft, sodass der Geltendmachung früherer, nicht vom Vorwurf verspäteter Abfertigung des Ersuchens um Übernahme der Strafverfolgung erfasster Verfahrensverzögerungen die mangelnde Rechtswegausschöpfung (Art 35 Abs 1 MRK) entgegensteht.

Schließlich werden grundrechtsrelevante Verfahrensverzögerungen im Zuge der Abfertigung des Ersuchens um Übernahme der Strafverfolgung schon angesichts der Schwere des Tatvorwurfs und des Verfahrensumfangs sowie der Notwendigkeit, die Rechtskraft der Abweisung eines zuvor erhobenen Einstellungsantrags abzuwarten, nicht mit hinreichender Deutlichkeit zur Darstellung gebracht.

Der Erneuerungsantrag war daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung als offenbar unbegründet zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).

Rechtssätze
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