JudikaturJustiz11Os53/11w

11Os53/11w – OGH Entscheidung

Entscheidung
14. Juli 2011

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. Juli 2011 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl, Mag. Marek, Mag. Michel und Dr. Oshidari als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Einwagner als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Bahrija K***** wegen des Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt nach §§ 15, 12 zweiter Fall, 302 Abs 1 StGB, AZ 022 Hv 4/10g des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag des Verurteilten auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16. Februar 2010, GZ 022 Hv 4/10g 18, wurde Bahrija K***** des Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt nach §§ 15, 12 zweiter Fall, 302 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von neun Monaten verurteilt.

Die dagegen erhobene, auf § 281 Abs 1 Z 5, 9 lit a und 10 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Bahrija K***** wurde mit Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom 15. Juni 2010, GZ 14 Os 64/10h-4, zurückgewiesen und die Akten dem Oberlandesgericht zur Entscheidung über die vom Angeklagten und der Staatsanwaltschaft erhobenen Berufungen zugeleitet (ON 28).

Mit Urteil vom 24. Jänner 2011, AZ 19 Bs 211/10h, gab das Oberlandesgericht Wien der Berufung des Angeklagten nicht, hingegen jener der Staatsanwaltschaft unter gleichzeitiger Bedachtnahme (§ 31 StGB) auf ein Vorurteil durch Ausschaltung der bedingten Strafnachsicht Folge (ON 34).

Bahrija K***** reklamiert mit seinem nicht auf ein Erkenntnis des EGMR gestützten Antrag nach (richtig:) § 363a StPO eine Verletzung von Art 6 MRK, wobei er die überlange Verfahrensdauer von vier Jahren geltend macht. Als konkrete Verfahrensverzögerung wird die erst drei Jahre nach Kenntnis der Strafverfolgungsbehörde vom Sachverhalt erfolgte Anklageerhebung bezeichnet.

Rechtliche Beurteilung

Für den subsidiären Rechtsbehelf eines nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrags gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß (RIS-Justiz RS0122737). So kann der Oberste Gerichtshof unter anderem erst nach Rechtswegausschöpfung angerufen werden. Dem genannten Erfordernis wird entsprochen, wenn von allen effektiven Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht wurde (vertikale Erschöpfung) und die geltend gemachte Konventionsverletzung zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht wurde (horizontale Erschöpfung; vgl Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention 4 § 13 Rz 19, 31; 12 Os 125/08m; 14 Os 187/10x).

Während § 34 Abs 2 StGB keine Ausschöpfung des Rechtswegs erfordert, bedarf es zur Erfüllung der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Art 35 Abs 1 MRK bei Reklamation unangemessener Verfahrensdauer mittels Erneuerungsantrags der vorherigen Einbringung jener Anträge, die wirksam Abhilfe gegen die Verzögerung versprechen (14 Os 187/10x, 12 Os 125/08m, EvBl 2009/49, 325; 15 Os 22/08m jeweils mwN). Gegen eine Verletzung des Beschleunigungsgebots (§ 9 Abs 1 StPO) im Bereich der Staatsanwaltschaft kann gerichtlicher Rechtsschutz erlangt werden, indem ein auf Verletzung des Beschleunigungsgebots gestützter Antrag nach § 106 Abs 1 Z 1 StPO gestellt wird (vgl RIS-Justiz RS0124006 [T2]). Auf diesem Weg kann ein konkreter Auftrag des Gerichts erster oder (im Beschwerdefall) zweiter Instanz an die Staatsanwaltschaft erwirkt werden, dem Beschleunigungsgebot durch Maßnahmen, wie etwa einer gehörigen Fortführung, einer Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder einer Anklageerhebung Rechnung zu tragen. Diese Bindung der Staatsanwaltschaft an Aufträge des Gerichts aufgrund der Verletzung eines subjektiven Rechts lässt sich aus § 107 Abs 4 StPO ableiten. Gibt das Gericht dem Einspruch statt, hat die Staatsanwaltschaft, sofern sie diesem nicht schon entsprochen hat (§ 106 Abs 4 StPO), den entsprechenden Rechtsschutz herzustellen. Demnach steht dem Erneuerungsantrag zufolge der Unterlassung einer derartigen Antragstellung auch die mangelnde Rechtswegausschöpfung (Art 35 Abs 1 MRK) entgegen (12 Os 125/08m, EvBl 2009/49, 325; 15 Os 22/08m mwN).

Der Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens war daher - in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur - bereits bei nichtöffentlicher Beratung zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).

Rechtssätze
2
  • RS0122737OGH Rechtssatz

    18. März 2024·3 Entscheidungen

    Bei einem nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag handelt es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf. Demgemäß gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß auch für derartige Anträge. So kann der Oberste Gerichtshof unter anderem erst nach Rechtswegausschöpfung angerufen werden. Hieraus folgt für die Fälle, in denen die verfassungskonforme Auslegung von Tatbeständen des materiellen Strafrechts in Rede steht, dass diese Problematik vor einem Erneuerungsantrag mit Rechts- oder Subsumtionsrüge (§ 281 Abs 1 Z 9 oder Z 10, § 468 Abs 1 Z 4, § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO) geltend gemacht worden sein muss. Steht die Verfassungskonformität einer Norm als solche in Frage, hat der Angeklagte unter dem Aspekt der Rechtswegausschöpfung anlässlich der Urteilsanfechtung auf die Verfassungswidrigkeit des angewendeten Strafgesetzes hinzuweisen, um so das Rechtsmittelgericht zu einem Vorgehen nach Art 89 Abs 2 B-VG zu veranlassen. Wird der Rechtsweg im Sinn der dargelegten Kriterien ausgeschöpft, hat dies zur Folge, dass in Strafsachen, in denen der Oberste Gerichtshof in zweiter Instanz entschieden hat, dessen unmittelbarer (nicht auf eine Entscheidung des EGMR gegründeter) Anrufung mittels Erneuerungsantrags die Zulässigkeitsbeschränkung des Art 35 Abs 2 lit b erster Fall MRK entgegensteht, weil der Antrag solcherart „im wesentlichen" mit einer schon vorher vom Obersten Gerichtshof geprüften „Beschwerde" übereinstimmt.