JudikaturJustiz11Os44/06i

11Os44/06i – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. Juni 2006

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 20. Juni 2006 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Mayrhofer als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner, Dr. Danek, Dr. Schwab und Dr. Lässig als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Gebhart als Schriftführer, in der Strafsache gegen Marco S***** und andere Angeklagte wegen des Verbrechens des teils vollendeten, teils versuchten Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Z 1 und 15 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 292 Ur 155/05w des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, über die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichtes Wien vom 30. August 2005, AZ 21 Ns 232/05h (ON 20 der Ur-Akten) und des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 6. September 2005 (S 1 m) nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin des Generalprokurators, Generalanwältin Mag. Fuchs, jedoch in Abwesenheit der Angeklagten und ihrer Verteidiger zu Recht erkannt:

Spruch

Es verletzen das Gesetz

1) der Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien vom 30. August 2005, AZ 21 Ns 232/05h (GZ 292 Ur 155/05w-20 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien), in seiner Begründung, soweit darin zum Ausdruck gebracht wurde, infolge § 29 JGG gelte § 58 StPO nicht für jugendliche Beschuldigte;

2) der Beschluss des Untersuchungsrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 6. September 2005 (S 1 m) im Umfang der Abtretung des zuvor ausgeschiedenen Verfahrens gegen Alban und Ardian G***** an das Landesgericht Wiener Neustadt

in der Bestimmung des § 58 StPO iVm § 31 JGG.

Text

Gründe:

Gegen die Jugendlichen Marco S*****, Alban G***** und Ardian G***** wurde vom Landesgericht Korneuburg mit Beschlüssen vom 8. August 2005 und vom 11. August 2005 zum AZ 421 Ur 45/05g die Voruntersuchung „wegen §§ 127 ff, und 136 StGB" eingeleitet. Die Beschuldigten standen im dringenden Verdacht, in Gänserndorf und anderen Orten eine Vielzahl von Diebstählen, teilweise durch Einbruch, im gemeinsamen Zusammenwirken begangen und ein Mofa unbefugt in Gebrauch genommen zu haben.

Am 12. August 2005 verfügte der Untersuchungsrichter unter Hinweis auf den gewöhnlichen Aufenthalt Marco S*****s in Wien die Abtretung des Strafverfahrens gegen alle Beschuldigten „gemäß § 29 JGG an das Landesgericht für Strafsachen Wien" (S 1 c iVm S 1 d). Dieses Gericht (AZ 292 Ur 155/05w) erklärte sich jedoch für unzuständig. Zur Zeit der Einleitung des Verfahrens habe zwar Marco S***** seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Wien gehabt, nicht jedoch die Brüder G*****, welche sich vorwiegend bei ihrem Adoptivvater in Strasshof, somit im Sprengel des Landesgerichtes Korneuburg, aufhielten und nur die Wochenenden bei ihrer Mutter in Baden verbrachten. Demgemäß und auf Grund des gewöhnlichen Aufenthaltes des Brüder G***** (§ 29 JGG) hielt der Untersuchungsrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Wien das zuvorgekommene Landesgericht Korneuburg für zuständig und legte den Akt dem Oberlandesgericht Wien gemäß § 64 Abs 1 StPO zur Entscheidung über die strittige Zuständigkeitsfrage vor (S 1e und f iVm ON 12).

Das Oberlandesgericht ordnete mit Beschluss vom 30. August 2005, AZ 21 Ns 232/05h (ON 20 des Strafaktes) die Weiterführung des Verfahrens durch das Landesgericht für Strafsachen Wien an, wobei es vom gewöhnlichen Aufenthalt Marco S*****s in Wien ausging. Hinsichtlich der Beschuldigten Alban G***** und Ardian G***** nahm es hingegen nicht (wie das Landesgericht für Strafsachen Wien) Strasshof, sondern Baden, den „offenbar aufrechten Meldewohnsitz" als Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes an. Im Hinblick darauf wies es das Landesgericht für Strafsachen in der Beschlussbegründung darauf hin, „zu beachten, dass gemäß § 29 JGG für das Verfahren gegen die Brüder G***** die örtliche Zuständigkeit des Landesgerichtes Wiener Neustadt gegeben ist"; zufolge Vorranges der speziellen Normen des JGG 1988 sei gegenständlich auch „§ 58 StPO in der Fassung BGBl I 2004/164 nicht anwendbar und eine Ausscheidung des Verfahrens gegen Alban und Ardian G***** und Abtretung desselben auch zwischen dem Landesgericht für Strafsachen Wien und dem Landesgericht Wiener Neustadt als demselben Gerichtshof zweiter Instanz unterstehenden Gerichtshöfen zulässig" (S 437 bis 441/I).

In Entsprechung dieser Rechtsansicht verfügte der Untersuchungsrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Wien am 6. September 2005 (S 1 m) die Ausscheidung des Verfahrens gegen Alban G***** und Ardian G***** wegen §§ 127, 129 Z 1, 130, 15 StGB sowie - unter Aktenneubildung - dessen Abtretung an das Landesgericht Wiener Neustadt.

Die Verfahren wurden mittlerweile durch rechtskräftige Schuldsprüche beendet.

Rechtliche Beurteilung

Der Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien (ON 20) steht, soweit in seiner Begründung darin zum Ausdruck gebracht wurde, infolge § 29 JGG gelte § 58 StPO nicht für jugendliche Beschuldigte, es sei daher nach einer Ausscheidung des Verfahrens gegen Alban und Ardian G***** in diesem Umfang die Abtretung an das gemäß § 29 JGG zuständige Landesgericht Wiener Neustadt zulässig, ebenso wie der in Entsprechung dieser Ausführungen gefasste Beschluss des Untersuchungsrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, wie der Generalprokurator mit seiner deshalb eingebrachten Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes im Ergebnis zutreffend aufzeigt, mit dem Gesetz nicht im Einklang. Gemäß § 29 JGG ist für Jugendstrafsachen jenes Gericht örtlich zuständig, in dessen Sprengel der Beschuldigte zur Zeit der Einleitung des Verfahrens seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Eine Regelung für den Fall der Verwirklichung einer Straftat durch mehrere Jugendliche mit gewöhnlichen Aufenthalten in Sprengeln verschiedener Gerichte findet sich im Jugendgerichtsgesetz nicht. Gemäß § 31 JGG sind in einem solchen Fall die allgemeinen Vorschriften für das Strafverfahren heranzuziehen und demzufolge die Konnexitätsregeln der §§ 55 ff StPO anzuwenden (Schroll in WK² JGG § 29 Rz 9). Ausgehend von den jeweils eine Sonderzuständigkeit gemäß § 29 JGG begründenden Tatsachenfeststellungen des gewöhnlichen Aufenthaltes der Brüder G***** bei ihrer Mutter in Baden sowie des Marco S***** bei seinen Eltern in Wien wäre das Strafverfahren gegen alle Beschuldigten gemeinsam (§ 56 Abs 1 StPO) vor dem gegenüber dem Landesgericht Wiener Neustadt zuvorgekommenen (§ 56 Abs 2 StPO) Landesgericht für Strafsachen Wien durchzuführen gewesen (WK² JGG § 29 Rz 11).

Weil sich die mit Beschluss des Untersuchungsrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 6. September 2005 umgesetzte irrige Rechtsmeinung des Oberlandesgerichtes Wien nicht zum Nachteil von Alban und Ardian G***** ausgewirkt hat, konnte es mit der Feststellung der Gesetzesverletzung das Bewenden haben.