JudikaturJustiz11Os25/07x

11Os25/07x – OGH Entscheidung

Entscheidung
24. April 2007

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 24. April 2007 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner, Dr. Danek, Dr. Schwab und Dr. Lässig als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Dr. Frizberg als Schriftführerin, in der Jugendstrafsache gegen Sandra N***** wegen des Vergehens des teils vollendeten, teils versuchten (§ 15 StGB) Diebstahls nach § 127 StGB, AZ 1 U 5/06i des Bezirksgerichtes Stockerau, über die vom Generalprokurator gegen die Unterlassung der Verständigung des Jugendwohlfahrtsträgers und des Pflegschaftsgerichts von der Einleitung des Verfahrens (S 1a verso) sowie der Bekanntgabe des Strafantrags (ON 6), der Anordnung der Hauptverhandlung (S 1b verso) und des in dieser ergangenen Urteils (ON 8) an die gesetzlichen Vertreter der Beschuldigten erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Erster Generalanwalt Dr. Weiß, zu Recht erkannt:

Spruch

In der Jugendstrafsache gegen Sandra N*****, AZ 1 U 5/06i des Bezirksgerichtes Stockerau, verletzt das Gesetz die Unterlassung

(1) der Verständigung des Jugendwohlfahrtsträgers und des Pflegschaftsgerichts von der Einleitung des Verfahrens gegen die jugendliche Beschuldigte (S 1a verso) in der Bestimmung des § 33 Abs 1 JGG sowie

(2) der Bekanntgabe des Strafantrags (ON 6), der Anordnung der Hauptverhandlung (S 1b verso) und des in dieser am 29. Mai 2006 ergangenen Urteils (ON 8) an die gesetzlichen Vertreter der jugendlichen Beschuldigten in den Bestimmungen des § 38 Abs 1 bis Abs 3 JGG.

Es werden das Urteil vom 29. Mai 2006 (ON 8) sowie alle darauf beruhenden Entscheidungen und Verfügungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung sowie Entscheidung an das Bezirksgericht Stockerau verwiesen.

Text

Gründe:

Das Bezirksgericht Stockerau führte - beginnend mit 11. Jänner 2006 (S 1a verso) - Vorerhebungen gegen die am 5. November 1988 geborene (S 5), sohin damals jugendliche Sandra N*****, ohne den Jugendwohlfahrtsträger und das Pflegschaftsgericht von der Einleitung des Verfahrens zu verständigen.

Nach Einlangen des Strafantrags der Staatsanwaltschaft Korneuburg vom 28. April 2006 (ON 6) ordnete der Bezirksrichter am 3. Mai 2006 die Hauptverhandlung an (S 1b verso), in der die Beschuldigte am 29. Mai 2006 (ON 7) wegen des teils vollendeten, teils versuchten (§ 15 StGB) Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB verurteilt wurde (ON 8). Den Eltern als gesetzlichen Vertretern der Beschuldigten, deren Identität und - im Inland gelegener - Aufenthalt aktenkundig waren (S 6, 23, 45, 71) wurden weder der Bestrafungsantrag, noch der Hauptverhandlungstermin, noch das Urteil des erkennenden Gerichts bekannt gegeben.

Rechtliche Beurteilung

Wie der Generalprokurator in der gemäß § 33 Abs 2 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, stehen die Unterlassung der Verständigung des Jugendwohlfahrtsträgers und des Pflegschaftsgerichts von der Einleitung des Strafverfahrens sowie der Bekanntgabe des Strafantrags, der Anordnung der Hauptverhandlung und des darin ergangenen Urteils an die gesetzlichen Vertreter mit dem Gesetz nicht in Einklang.

Da die Beschuldigte im betreffenden Zeitpunkt jugendlich iSd § 1 Z 2 JGG war, hatte das Bezirksgericht den Jugendwohlfahrtsträger und das Pflegschaftsgericht von der Einleitung des Verfahrens zu verständigen (§ 33 Abs 1 erster und dritter Satz JGG). Diese Benachrichtigung hat - unbedingt, also von weiteren Erwägungen unabhängig - unmittelbar mit der ersten gerichtlichen Verfügung zu ergehen (Schroll in WK² § 33 JGG Rz 4 f).

Gemäß § 38 Abs 2 JGG sind dem gesetzlichen Vertreter (unter der - hier gegebenen - Voraussetzung, dass sein Aufenthalt bekannt und im Inland gelegen ist) des jugendlichen Beschuldigten ua der Strafantrag sowie das schuldigsprechende Urteil bekannt zu geben und ist er von der Anordnung der mündlichen Verhandlung mit dem Beifügen zu benachrichtigen, dass seine Teilnahme empfohlen werde. Durch die Unterlassung der in § 38 Abs 2 JGG vorgesehenen Verständigungen waren die gesetzlichen Vertreter der Sandra N***** überdies de facto an der Ausübung der ihnen gemäß § 38 Abs 1 JGG zukommenden Rechte (Anhörung, Vorbringen von Tatsachen, Stellen von Fragen und Anträgen, Akteneinsicht) sowie an der Anfechtung des Schuldspruchs (§ 38 Abs 3 JGG) gehindert.

Da nicht auszuschließen ist, dass die bezeichneten Gesetzesverletzungen der - im Übrigen unvertretenen - Beschuldigten zum Nachteil gereichen, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung gemäß § 292 letzter Satz StPO mit konkreter Wirkung zu verknüpfen.

Der Vollständigkeit halber sei festgehalten, dass auch die - von der Kassation mitumfasste - Endverfügung (ON 9) zu Unrecht ergangen ist, weil die Rechtsmittelfrist (hier: § 466 StPO) für den nicht ordnungsgemäß geladenen gesetzlichen Vertreter gemäß § 38 Abs 3 JGG erst ab Zustellung der schriftlichen Entscheidungsausfertigung zu laufen beginnt (Schroll in WK² § 38 JGG Rz 33).

Im erneuerten Verfahren kommen die Bestimmungen des § 33 Abs 1 JGG und des § 38 Abs 1 bis 3 JGG für die mittlerweile über achtzehnjährige Beschuldigte nicht mehr zum Tragen (s auch § 46a Abs 2 JGG), weil die zivilrechtlich zu bestimmende Obsorge und damit die gesetzliche Vertretung, Pflege und Erziehung nur bis zur Volljährigkeit besteht und demgemäß die angeführten Mitwirkungsrechte nur bis zum Ablauf des 18. Lebensjahres Platz greifen (11 Os 26/06t, 15 Os 34/06y; Schroll in WK² § 38 Rz 22).