JudikaturJustiz11Os168/02

11Os168/02 – OGH Entscheidung

Entscheidung
18. März 2003

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 18. März 2003 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kuch als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner, Dr. Zehetner, Dr. Danek und Dr. Schwab als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Miklau als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Dr. Werner U***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Verletzung der Freiheit der Person oder des Hausrechtes nach § 303 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde des Generalprokurators zur Wahrung des Gesetzes gegen die im Verfahren AZ 18 U 388/02i des Bezirksgerichtes Feldkirch gefassten Beschlüsse des Bezirksgerichtes vom 15. Juli 2002 (ON 19) und des Landesgerichtes Feldkirch als Beschwerdegericht vom 29. August 2002, AZ Bl 110/02 (ON 24), nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Fabrizy, jedoch in Abwesenheit des Beschuldigten zu Recht erkannt:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

Text

Gründe:

Mit Bestrafungsantrag vom 11. März 2002 legte der Bezirksanwalt beim Bezirksgericht Innsbruck dem Richter des Landesgerichtes Innsbruck Dr. Werner U***** das Vergehen der fahrlässigen Verletzung der Freiheit der Person oder des Hausrechtes nach § 303 StGB zur Last. Dr. U***** wurde (zusammengefasst) vorgeworfen, er habe im Dezember 2000 in Innsbruck als Richter des dortigen Landesgerichtes in den gegen Markus D***** (zum AZ 26 Vr 2626/00) und Viktor T***** (zum AZ 26 Vr 2627/00, jeweils des Landesgerichtes Innsbruck) anhängigen Strafverfahren es unterlassen, rechtzeitig vor Ablauf der am 27. Dezember 2000 endenden Zweimonatsfrist des § 181 Abs 3 erster Halbsatz StPO Haftverhandlungen anzuberaumen und hiedurch die in Untersuchungshaft angehaltenen Angeklagten D***** und T***** durch gesetzwidrige Entziehung der persönlichen Freiheit fahrlässig an deren Rechten geschädigt. Die in den beiden Verfahren am 22. Dezember 2000 nur zwölf und dreizehn Minuten dauernden Hauptverhandlungen hätten nicht dazu gedient, die jeweiligen Schöffensenate mit den Aufgaben und Amtsverrichtungen der §§ 232 ff StPO zu befassen, weshalb sie auch nicht den Entfall der Begrenzung der Haftfristen iSd § 181 Abs 6 StPO zu bewirken vermocht hätten. Schließlich habe er am 27. Dezember 2000, sohin am letzten Tag der laufenden Haftfrist, die bezughabenden Strafakten unter Hinweis auf die in den vorgenannten Hauptverhandlungen gefassten, seine Person betreffenden Ablehnungsentscheidungen der Abteilung 22 des Landesgerichtes Innsbruck abgetreten, was zur Folge gehabt hätte, dass der Vertreter des urlaubsbedingt verhinderten Leiters der Abteilung 22 in beiden Strafsachen erst am 28. Dezember 2000, sohin nach Wirksamkeitsablauf der vorangegangenen Haftbeschlüsse, in Unkenntnis des Fristablaufes Haftverhandlungen durchgeführt und dabei die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen beide Angeklagte beschlossen habe, weshalb Markus D***** bis zum 17. Jänner 2001 und Viktor T***** bis zum 9. Jänner 2001 weiter zu Unrecht in Untersuchungshaft angehalten worden seien (Bestrafungsantrag ON 15).

Die beschriebenen Verfahrensvorgänge sind im Bestrafungsantrag aktengetreu wiedergegeben. Zu ergänzen ist, dass das Oberlandesgericht Innsbruck mit Beschluss vom 23. Jänner 2001 (AZ 6 Bs 12, 13/01) eine Verletzung der Bestimmung des § 181 Abs 3 StPO festgestellt und mit weiterem Beschluss vom 2. Juli 2002, AZ 7 Ns 34/02, die verfahrensgegenständliche Strafsache gegen Dr. U***** gemäß § 62 StPO dem Bezirksgericht Feldkirch zugewiesen hat. Mit Beschluss dieses Gerichtes vom 15. Juli 2002, GZ AZ 18 U 388/02i-19, wurde das Verfahren gemäß § 451 Abs 2 StPO eingestellt, der dagegen erhobenen Beschwerde der Staatsanwaltschaft wurde vom Landesgericht Feldkirch nicht Folge gegeben (Beschluss vom 29. August 2002, AZ Bl 110/02 = ON 24 des Strafaktes).

Beide Gerichte vertreten in diesen Entscheidungen die Ansicht, dass das Tatbestandsmerkmal des § 303 StGB der "Schädigung des anderen an seinen Rechten" nicht erfüllt sei, weil die materiellen Haftvoraussetzungen vorgelegen seien.

Nach Auffassung des Generalprokurators verletzen die genannten Beschlüsse das Gesetz in der Bestimmung des § 303 StGB. Zur Begründung wird in der deshalb erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes ausgeführt:

"1. Nach § 303 StGB ist ein Beamter zu bestrafen, der fahrlässig durch eine gesetzwidrige Beeinträchtigung oder Entziehung der persönlichen Freiheit oder durch eine gesetzwidrige Hausdurchsuchung einen anderen an seinen Rechten schädigt.

Zur Frage, inwieweit das Tatbestandsmerkmal der Schädigung eines anderen an seinen Rechten den Anwendungsbereich der Strafnorm einschränkt, liegen unterschiedliche Lehrmeinungen vor. Leukauf/Steininger (Komm3 § 303 RN 4) und Mayerhofer (StGB5 § 303 Anm 3) verneinen die Anwendbarkeit des § 303 StGB im Falle des Vorliegens der materiellen Haftvoraussetzungen. In diesem Sinne erachten Bertel (WK2 § 303 Rz 1) und Bertel/Schwaighofer (BT II3 § 303 Rz 1) eine Schädigung an den Rechten nur dann als gegeben, wenn die Hausdurchsuchung oder Verhaftung auf legalem Wegen nicht zu erreichen wäre, wobei Bertel (aaO Rz 4) den Fall des Übersehens des Ablaufes der Haftfrist nach § 181 Abs 1 StPO durch den Untersuchungsrichter ausdrücklich anführt.

Hingegen sieht Zagler (Triffterer-Komm § 303 Rz 25 ff) den Schutzzweck der Strafbestimmung (in Bezug auf die persönliche Freiheit) in der Absicherung der Verfassungsnorm des Art 1 Abs 2 PersFrSchG, derzufolge niemand aus anderen als den in diesem Bundesverfassungsgesetz genannten Gründen oder auf eine andere als die gesetzlich vorgeschriebene Weise festgenommen oder angehalten werden darf. Wenn also gesetzwidrige Verfahrensschritte gesetzt werden, die sich nachträglich als an sich sachlich gerechtfertigt erweisen, ändere dies nichts an der Schädigung an Freiheitsrechten, weil diese Schädigung eben schon in der Missachtung der verfassungsrechtlich zulässigen Vorgangsweise zu sehen sei. In einer ausführlichen Untersuchung der Strafbestimmung des § 303 StGB und seiner verfassungsrechtlichen Grundlage kommt auch St. Seiler (ÖJZ 1995, 87) zum Schluss, dass jede gesetzwidrige Vorgangsweise, welche das jeweilige Grundrecht unmittelbar tangiert, die Gesetzwidrigkeit der Hausdurchsuchung oder Freiheitsentziehung zur Folge habe. Jede gesetzwidrige Beeinträchtigung oder Entziehung der persönlichen Freiheit bzw jede gesetzwidrige Hausdurchsuchung stelle einen Eingriff in das jeweilige verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht dar und führe damit zu einer Schädigung des Betroffenen an seinen Rechten. Die im Tatbestand des § 303 StGB zusätzlich genannte Voraussetzung einer Schädigung an Rechten sei überflüssig und berühre den Anwendungsbereich der Bestimmung nicht. Eine praxistaugliche Einschränkung der Strafbarkeit sei hingegen in Anlegung eines toleranten Maßstabes in der Frage der Fahrlässigkeit zu erzielen.

Foregger/Fabrizy (StGB7 § 303 Rz 2) neigen dieser strengen Ansicht zu und nehmen eine Rechtsschädigung dann an, wenn die (rechtswidrigen) Beschränkungen staatsbürgerlicher Rechte dem Betroffenen als solche bewusst werden.

2. Die Frage, ob jede Verletzung des Grundrechtes auf persönliche Freiheit (§ 2 Abs 1 GRBG) den objektiven Tatbestand des Vergehens nach § 303 StGB erfüllt, mag dahingestellt bleiben, weil im vorliegenden Fall eine grundlegende Bestimmung des Haftrechtes betroffen war, deren Verletzung die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft verbot. Da am 22. Dezember 2000 dem Gesetz entsprechende Hauptverhandlungen nicht stattfanden, konnte der Entfall der Begrenzung der Haftfristen gemäß § 181 Abs 6 StPO nicht eintreten (s auch den Beschluss des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 23. Jänner 2001, AZ 6 Bs 12, 13/01). Weil der Vorsitzende vor Ablauf der gemäß § 181 Abs 3 erster Halbsatz StPO verlängerten Haftfrist aber auch keine Haftverhandlung durchführte, hätten die in jenem Verfahren Angeklagten nach der zwingenden Bestimmung des § 181 Abs 1 zweiter Satz StPO vor Ablauf der Haftfrist enthaftet werden müssen. Da dies aber nicht geschah, wurden die weiterhin in Untersuchungshaft Angehaltenen in ihrem konkreten Recht auf Freilassung geschädigt. Daran ändere der Umstand nichts, dass die materiellen Haftvoraussetzungen weiterhin gegeben waren (siehe wiederum den Beschluss des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 23. Jänner 2001, AZ 6 Bs 12, 13/01).

Das Strafverfahren gegen Dr. Werner U***** wegen § 303 StGB hätte daher nicht mangels Strafbarkeit der dem Bestrafungsantrag zu Grunde liegenden Tat eingestellt werden dürfen."

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat hiezu erwogen:

Das Vergehen nach § 303 StGB setzt, soweit hier von Bedeutung, eine fahrlässig zu verantwortende Gesetzwidrigkeit voraus, welche die Beeinträchtigung oder Entziehung der persönlichen Freiheit eines anderen zur Folge hat.

Fallbezogen stellt sich zunächst die Frage, inwieweit dem Beschuldigten Dr. U***** objektiv ein gesetzwidriges Verhalten vorgeworfen werden kann, das zu einer Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit der Angeklagten D***** und T***** führte. Die über die beiden Angeklagten verhängte Untersuchungshaft wurde zuletzt vom Untersuchungsrichter des Landesgerichtes Innsbruck hinsichtlich D***** mit Beschluss vom 16. Oktober 2000 bis zum 18. Dezember 2000 (30 Vr 2626/00 ON 95) und hinsichtlich T***** mit Beschluss vom 3. Oktober 2000 bis zum 4. Dezember 2000 (30 Vr 2627/00 ON 115) fortgesetzt. Durch die nach Kundmachung der Anklageschrift (11. Oktober 2000) und Ablauf der Einspruchsfrist (im Hinblick auf § 6 Abs 2 StPO) am Freitag, den 27. Oktober 2000 rechtskräftig gewordene Versetzung in den Anklagestand wurde die Haftfrist gemäß § 181 Abs 3 StPO um zwei Monate verlängert und endete demgemäß mit Ablauf des 27. Dezember 2000.

Die Fortsetzungsbeschlüsse vom 28. Dezember 2000, in welchen, durch das nachfolgende Beschwerdeverfahren bestätigt, die materiellen Voraussetzungen der Untersuchungshaft bejaht wurden, wurden von dem (als Folge der ungeachtet ihrer späteren Aufhebung rechtswirksamen Ablehnungsbeschlüsse - was auch das Oberlandesgericht einräumt ([vgl hiezu auch 11 Os 125/02 = EvBl 2003/24] - nach der Geschäftsordnung im Vertretungsfall berufenen) Richter des Landesgerichtes Dr. Werner Engers demnach erst nach Ablauf der durch § 181 Abs 3 erster Halbsatz StPO determinierten Haftfrist gefasst.

Vorliegend entfiel jedoch durch die am 22. Dezember 2000 durchgeführten Hauptverhandlungen gemäß § 181 Abs 6 StPO die Begrenzungswirkung der Haftfristen. Der Beschwerdeansicht (und jener des Oberlandesgerichtes Innsbruck) zuwider knüpft nämlich § 181 Abs 6 StPO nur an den formalen Akt des Beginns der Hauptverhandlung an, also an den in Anwesenheit des erkennenden Schöffensenates und der Parteien (einschließlich der Verteidiger) erfolgten Aufruf der Sache durch den Schriftführer (§ 239 StPO). Dass die Hauptverhandlung vordergründig nur anberaumt wurde, um über einen erwarteten Ablehnungsantrag zu entscheiden, dessen Stellung das Gericht zudem nicht erzwingen kann, ist daher ebenso unerheblich wie die Dauer desselben (Danek in WK-StPO vor § 220 Rz 11). Das Argument, eine Hauptverhandlung, die nicht dazu diene, den Schöffensenat mit den Aufgaben und Amtsverrichtungen der §§ 232 ff StPO zu befassen, sei keine Hauptverhandlung iSd § 181 Abs 6 StPO, ist schon deshalb verfehlt, weil die Entscheidung über in der Hauptverhandlung gestellte Ablehnungsanträge zu diesen Aufgaben zählt (§ 238 StPO). Dass das Oberlandesgericht die gemäß § 238 StPO gefassten Beschlüsse des Schöffensenates, ungeachtet des in § 238 Abs 1 StPO normierten Rechtsmittelausschlusses und zum Nachteil der antragstellenden Angeklagten, somit in unzulässiger Inanspruchnahme einer ihm auch durch die Bestimmungen des § 114 Abs 4 StPO oder des § 15 StPO nicht eingeräumten Kompetenz als nichtig aufhob, vermag daran nichts zu ändern.

Durch die von der Wahrungsbeschwerde inkriminierten Beschlüsse des Bezirks- und Landesgerichtes Feldkirch wurde somit (ungeachtet ihrer inhaltlichen Begründung) entgegen der in der Beschwerde vertretenen Auffassung, die sich in der Annahme einer vom Beschuldigten zu vertretenden Fristversäumnis nur auf den in diesem Punkte fehlerhaften Beschluss des Oberlandesgerichtes stützt, das Gesetz nicht verletzt, weil Freiheitsrechte der Angeklagten nicht in gesetzwidriger Weise eingeschränkt worden sind.

Die Frage, ob somit durch einen erst nach Ablauf der Wirksamkeit der Haftfrist gefassten Beschluss auf Prolongierung der Untersuchungshaft eine tatbestandsverwirklichende Beeinträchtigung von Freiheitsrechten und damit eine Schädigung der Angeklagten iSd § 303 StGB wegen Vorliegens der materiellen Haftvoraussetzungen zu verneinen ist - wovon die Untergerichte, von der Beschwerde kritisiert, ausgingen - kann demnach auf sich beruhen, zumal die Beschwerde - insoweit unberechtigt - nur allgemein die Verletzung des Gesetzes in der Bestimmung des § 303 StGB durch den Einstellungsbeschluss des Bezirksgerichtes Feldkirch und die diesen bestätigende Beschwerdeentscheidung des Landesgerichtes Feldkirch erblickt, nicht aber - davon unabhängig - durch die zwar problematisierte, aber nicht zum unmittelbaren Gegenstand der Wahrungsbeschwerde gemachte Begründung der genannten Entscheidungen.

Rechtssätze
2