JudikaturJustiz11Os13/22d

11Os13/22d – OGH Entscheidung

Entscheidung
01. März 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 1. März 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Kostersitz als Schriftführer in der Strafsache gegen * A* wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB, AZ 7 U 141/19t des Bezirksgerichts Leopoldstadt, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil dieses Gerichts vom 11. Februar 2021 (ON 20 der U Akten) sowie Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur Generalanwalt Mag. Leitner, des Angeklagten und seiner Verteidigerin Mag. Rathbauer Malcher zu Recht erkannt:

Spruch

Es verletzen

1./ die Unterlassung der Beschlussfassung auf vorläufige Einstellung des Verfahrens in der Hauptverhandlung am 2. Juli 2020 § 203 Abs 1 StPO iVm § 199 StPO;

2./ die in der am 11. Februar 2021 gemäß § 276a StPO neu durchgeführten Hauptverhandlung vorgenommene Verlesung der Protokolle über die Vernehmung des Zeugen * M* vor der Polizei und in der Hauptverhandlung am 8. August 2019 § 252 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO;

3./ das Abwesenheitsurteil vom 11. Februar 2021 in seinem Zuspruch an den „Privatbeteiligten“ * L* §§ 67 Abs 2, 366 Abs 2, 369 Abs 1 StPO.

Das Urteil vom 11. Februar 2021 wird aufgehoben und die Sache zur Durchführung des gesetzmäßigen Verfahrens an das Bezirksgericht Leopoldstadt verwiesen.

Text

Gründe:

[1] Aufgrund einer – der Staatsanwaltschaft Wien am 3. Juli 2018 zur Kenntnis gebrachten – Anzeige vom 30. Juli 2017 führte die Staatsanwaltschaft Wien zu AZ 134 BAZ 556/18t ein Verfahren gegen * A* wegen des Verdachts, dieser habe am 30. Juli 2017 den PKW des * L* vorsätzlich beschädigt (ON 2), und ordnete hiezu am 9. Juli 2018 die Vernehmung des Beschuldigten zum Sachverhalt an (ON 1 S 1; ON 3).

[2] Nach am 21. November 2018 durchgeführter Vernehmung (ON 4 S 11 ff) trat die Staatsanwaltschaft zunächst am 8. Februar 2019 gemäß § 204 Abs 3 StPO zur Herbeiführung eines Tatausgleichs vorläufig von der Verfolgung zurück, setzte nach dessen Scheitern (ON 5) das Verfahren am 13. Mai 2019 gemäß § 205 Abs 2 Z 1 StPO fort (ON 1 S 2) und erhob Strafantrag (ON 6).

[3] In der am 8. August 2019 beim Bezirksgericht Leopoldstadt zu AZ 7 U 141/19t durchgeführten Hauptverhandlung bot die Einzelrichterin nach Vernehmung auch des Zeugen * M* dem Angeklagten (erneut) ein diversionelles Vorgehen (gemäß §§ 199, 203 StPO) an und stellte das Verfahren schließlich nach sofortiger Bezahlung des Pauschalkostenbeitrags und mit der Weisung, den Schaden bis 1. November 2019 gutzumachen, gemäß §§ 199, 203 (Abs 1) StPO unter Setzung einer Probezeit von einem Jahr vorläufig ein (ON 9 S 4).

[4] Nachdem A* der Weisung trotz entsprechender Erinnerung in weiterer Folge nicht nachgekommen war, setzte das Bezirksgericht das Verfahren mit Beschluss vom 10. März (richtig) 2020 gemäß §§ 199, 205 Abs 2 Z 1 StPO fort und beraumte nach dessen (am 16. Mai 2020 eingetretener) Rechtskraft eine weitere Hauptverhandlung für 2. Juli 2020 an (ON 1 S 5 ff, ON 11).

[5] In der am 2. Juli 2020 (gemäß § 276a StPO neu) durchgeführten Hauptverhandlung bekräftigte der Angeklagte erneut seine Bereitschaft, den Schaden gutzumachen, woraufhin das Gericht protokollierte, dass „dem Angeklagten der IBAN des Opfers schriftlich mitgeteilt wird und der Angeklagte den Schaden bis 1. September 2020 wiedergutzumachen hat“, und den Beschluss auf Vertagung der Hauptverhandlung „zur neuerlichen Durchführung der diversionellen Maßnahme“ auf unbestimmte Zeit fasste (ON 13).

[6] Hiezu hielt das Bezirksgericht in einem Aktenvermerk vom 2. Juli 2020 ausdrücklich fest, dass dem Angeklagten hiemit ein Anbot einer vorläufigen Einstellung unter Bestimmung einer Probezeit von einem Jahr gemäß §§ 199, 203 Abs 1 StPO gegen Zahlung eines Pauschalkostenbeitrags und Schadensgutmachung unterbreitet worden sei (ON 14); dem Angeklagten gab es mit Note vom 20. Juli 2020 die Kontodaten des Geschädigten bekannt (ON 1 S 9).

[7] Als der Angeklagte die zugesagte Schadensgutmachung trotz entsprechender Erinnerungen (ON 1 S 9 f, ON 17) nicht nachwies, beraumte das Bezirksgericht am 7. Jänner 2021 schließlich eine Hauptverhandlung für 11. Februar 2021 an, dies mit der neuerlichen, an den Angeklagten gerichteten Aufforderung, eine allfällige zwischenzeitliche Schadensgutmachung umgehend nachzuweisen (ON 1 S 11).

[8] Obwohl A* diese Ladung am 21. Jänner 2021 ausgefolgt worden war (ON 19 S 2), kam er zur Hauptverhandlung am 11. Februar 2021 nicht. Das Bezirksgericht führte die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten (gemäß § 276a StPO neu) durch, verlas unter anderem die Protokolle über die polizeiliche (ON 2 S 13 ff) sowie die am 8. August 2019 erfolgte gerichtliche (ON 9 S 3 f) Vernehmung des Zeugen M* (ON 19 S 2) und sprach den Angeklagten in weiterer Folge mit Urteil vom selben Tag unter Verhängung einer Geldstrafe im Sinn des Strafantrags des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB schuldig. Zudem sprach es dem Geschädigten L* „gemäß § 369 StPO“ den Betrag von 881,30 Euro zu (ON 19 und 20).

[9] Dass das Bezirksgericht in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen wäre, dass sich L* dem Verfahren zuvor als Privatbeteiligter anzuschließen erklärt gehabt hätte, ist dem Urteil nicht zu entnehmen.

[10] Das Abwesenheitsurteil wurde dem Angeklagten zusammen mit dem Protokoll über die Hauptverhandlung und einer entsprechenden Rechtsmittelbelehrung am 22. März 2021 eigenhändig ausgefolgt (ON 1 S 12).

[11] Am 6. April 2021 brachte A* durch Einwurf in den Einlaufkasten des Bezirksgerichts Leopoldstadt ein als „Einspruch“ bezeichnetes Schreiben vom 2. April 2021 ein, in welchem er unter Anschluss eines ausgedruckten „Screenshots“ (einer Banküberweisung) darauf verwies, den Schaden auftragsgemäß bereits am 31. August 2020 beglichen zu haben (ON 22).

Rechtliche Beurteilung

[12] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, stehen folgende Vorgänge mit dem Gesetz nicht in Einklang:

[13] 1./ Liegen die entsprechenden Voraussetzungen für ein Vorgehen gemäß §§ 198 Abs 1 Z 3, 203 StPO vor und hat sich der Angeklagte – wie hier (ON 13 S 2) – ausdrücklich bereit erklärt, bestimmte Pflichten zu erfüllen (§ 203 Abs 2 StPO), hat das erkennende Gericht das Verfahren gemäß §§ 199, 203 Abs 1 StPO vorläufig einzustellen. Eine derartige Einstellung hat in Beschlussform zu ergehen (§§ 199, 209 Abs 2 erster Satz StPO; RIS-Justiz RS0118013; Schroll , WK StPO § 209 Rz 16).

[14] Da der Angeklagte in der Hauptverhandlung vom 2. Juli 2020 ein vom Gericht erkennbar gestelltes Anbot eines diversionellen Vorgehens annahm, hätte das Erstgericht – das gemäß § 205 Abs 3 letzter Satz StPO an sein Anbot gebunden war (Immutabilitätsprinzip; vgl Schroll , WK-StPO § 203 Rz 10) – einen Beschluss auf vorläufige Einstellung des Verfahrens gemäß §§ 199, 203 Abs 1 StPO fassen müssen.

[15] Indem sich das Bezirksgericht darauf beschränkte, die Hauptverhandlung „zur neuerlichen Durchführung der diversionellen Maßnahme“ zu vertagen, dem Angeklagten mit Note vom 20. Juli 2020 die Kontodaten des Opfers (ON 1 S 9) zu übermitteln und ihn mit Note vom 14. September 2020 aufzufordern, dem Gericht die Schadensgutmachung binnen sieben Tagen nachzuweisen (ON 1 S 9 f, ON 17), ohne das Verfahren ausdrücklich beschlussmäßig vorläufig einzustellen, verletzte es §§ 199, 203 Abs 1 StPO.

[16] Im Übrigen wäre nach – hier bei gesetzeskonformer Verfahrensführung vorzunehmender – vorläufiger Verfahrenseinstellung durch das Gericht gemäß § 203 Abs 1 iVm § 199 StPO eine Fortsetzung des Strafverfahrens nur aus den in § 205 Abs 2 Z 2 StPO angeführten Gründen zulässig gewesen, über die das Gericht zwingend mit – entsprechend zuzustellendem – Beschluss entscheiden muss (§ 209 Abs 2 erster Satz StPO; RIS-Justiz RS0131501; vgl Schroll , WK-StPO § 205 Rz 23, § 209 Rz 15) und der bis zur Rechtskraft dieses Beschlusses das (auflösend bedingte) Verfolgungshindernis der vorläufigen Verfahrenseinstellung entgegensteht ( Schroll , WK-StPO § 205 Rz 21). Eine bloße Ladung zu einem (weiteren) Hauptverhandlungstermin entspricht diesen Voraussetzungen nicht (vgl 15 Os 50/18v).

[17] 2./ Nach der gemäß § 447 StPO auch für das Hauptverfahren vor dem Bezirksgericht geltenden Regelung des § 252 Abs 1 StPO dürfen ua Protokolle über die Vernehmung von Zeugen bei sonstiger Nichtigkeit nur in den im Gesetz genannten Fällen (Abs 1 Z 1 bis 4 leg cit) verlesen werden. Da keiner dieser Ausnahmetatbestände vorlag, insbesondere aus dem Fernbleiben eines Angeklagten von der Hauptverhandlung dessen Zustimmung zur Verlesung im Sinn der Z 4 des § 252 Abs 1 StPO nicht abgeleitet werden kann (RIS-Justiz RS0117012; Kirchbacher , WK StPO § 252 Rz 103), war die in der am 11. Februar 2021 gemäß § 276a StPO neu durchgeführten Hauptverhandlung vorgenommene Verlesung der Protokolle über die Vernehmung des Zeugen M* vor der Polizei (ON 2 S 13 ff) und in der Hauptverhandlung am 8. August 2019 (ON 9 S 3 f) unzulässig und verletzte § 252 Abs 1 StPO.

[18] Bleibt anzumerken, dass darin kein Nachteil für den Angeklagten zu erblicken ist, weil dieser Zeuge in einer vorangegangenen Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten zum – weitgehend unstrittigen – Tathergang vernommen worden war (ON 9 S 3 f; vgl 15 Os 56/15x).

[19] 3./ Ein Privatbeteiligtenzuspruch gemäß §§ 366 Abs 2, 369 Abs 1 StPO setzt – nach dem insoweit auch im Strafverfahren geltenden Antragsprinzip (vgl § 405 erster Satz ZPO, wonach das Gericht nicht befugt ist, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist) – voraus, dass sich das Opfer gemäß § 67 Abs 2 StPO dem Strafverfahren als Privatbeteiligter angeschlossen hat ( Korn/Zöchbauer , WK StPO § 67 Rz 8).

[20] Dass diese prozessuale Tatsache vorgelegen wäre , hat das Bezirksgericht im Urteil nicht angenommen (und ist im Übrigen auch den Akten nicht zu entnehmen). Die Teilnahme des Geschädigten am vom Verein Neustart geleiteten Versuch der Herbeiführung des von der Staatsanwaltschaft gemäß § 204 Abs 3 StPO angestrebten, letztlich aber gescheiterten Tatausgleichs (ON 1 S 2, ON 5 S 3) genügt dazu nicht. Der mit Urteil vom 11. Februar 2021 erfolgte Zuspruch von 881,30 Euro an L* (ON 19 S 3, ON 20 S 1) verletzt daher §§ 67 Abs 2, 366 Abs 2, 369 Abs 1 StPO (vgl 13 Os 184/08w).

[21] Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich diese Gesetzesverletzungen (mit Ausnahme jener zu 2./) zum Nachteil des Angeklagten auswirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst , das Urteil aufzuheben und die Sache an das Bezirksgericht Leopoldstadt zur Durchführung des gesetzmäßigen Verfahrens zu verweisen.

Rechtssätze
3
  • RS0118013OGH Rechtssatz

    01. März 2022·3 Entscheidungen

    § 90l Abs 2 zweiter und dritter Satz, Abs 3 und Abs 4 StPO beziehen sich nur auf das Verfahren vor der Hauptverhandlung, nicht auf diese selbst. Da hinsichtlich des Gebotes der Anhörung des Staatsanwaltes vor diversionellem Vorgehen des Gerichtes (vgl § 90l Abs 2 zweiter Satz StPO) und der Befugnis des Staatsanwaltes zur Anfechtung eines Beschlusses auf Einstellung des Verfahrens nach dem IX a.Hauptstück der StPO sowie der hiefür offenstehenden Frist (vgl § 90l Abs 3 erster Satz StPO) ein nach Verfahrensstadien – vor und in der Hauptverhandlung – differenzierender Regelungsplan nicht erkennbar ist, liegt insoweit für das Stadium der Hauptverhandlung eine planwidrige Gesetzeslücke vor. Diese lässt sich durch analoge Heranziehung der in § 90l Abs 2 zweiter Satz und Abs 3 erster Satz StPO getroffenen Regelungen schließen. Dabei ist, weil die für die Hauptverhandlung vorgesehene Form der Bekanntmachung von Entscheidungen die mündliche Verkündung ist, an diese und nicht an die Zustellung anzuknüpfen. Daraus ergibt sich: Auch in der Hauptverhandlung hat das Gericht, wenn es diversionell vorgehen will, vor einer Mitteilung an den Verdächtigen, dass ein solches Vorgehen beabsichtigt sei (§§ 90c Abs 4, 90 d Abs 4, 90 f Abs 3, jeweils iVm § 90 b StPO), und vor einem Beschluss, mit dem das Verfahren nach den Bestimmungen des IX a. Hauptstückes der StPO eingestellt wird, den Staatsanwalt zu hören. Ergeht in der Hauptverhandlung ein Beschluss auf Einstellung des Verfahrens nach dem IX a.Hauptstück der StPO, ist diese Entscheidung mündlich zu verkünden. Dagegen steht dem Staatsanwalt die binnen 14 Tagen nach Verkündung einzubringende Beschwerde an den übergeordneten Gerichtshof zu.