JudikaturJustiz10ObS67/17a

10ObS67/17a – OGH Entscheidung

Entscheidung
13. September 2017

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ. Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Schramm und Mag. Ziegelbauer, sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Jelinek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei F*****, vertreten durch Dr. Herbert Tanzler, dieser vertreten durch Dr. Ralph Mayer, beide Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 25. April 2017, GZ 7 Rs 6/17d 16, mit dem infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits und Sozialgerichts Wien vom 10. Oktober 2016, GZ 42 Cgs 41/16a 10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen, die im Umfang des Zuspruchs von Pflegegeld der Stufe 2 ab dem 1. Juni 2016 unangefochten in Rechtskraft erwachsen sind, werden im Umfang der Abweisung des Mehrbegehrens des Klägers auf Zuerkennung eines höheren Pflegegelds als jenes der Stufe 2 ab dem 1. Juni 2016 aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird in diesem Umfang zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der Kläger bezog seit dem 1. 7. 2012 Pflegegeld der Stufe 4.

Mit Bescheid vom 19. 4. 2016 setzte die Beklagte das Pflegegeld ab 1. 6. 2016 auf Stufe 1 herab, weil nur mehr ein Pflegebedarf von durchschnittlich 69 Stunden pro Monat bestehe.

Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Zuerkennung eines – höheren – Pflegegelds im gesetzlichen Ausmaß.

Die Beklagte wandte dagegen ein, dass der Pflegeaufwand für den Kläger nur mehr die Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 1 rechtfertige.

Das Erstgericht sprach dem Kläger Pflegegeld der Stufe 2 in Höhe von monatlich 290 EUR ab dem 1. 6. 2016 zu. Im Umfang dieses Zuspruchs erwuchs seine Entscheidung unangefochten in Rechtskraft.

Das Mehrbegehren, die Beklagte sei schuldig, dem Kläger ein höheres Pflegegeld als jenes der Stufe 2 ab 1. 6. 2016 zu gewähren, wies das Erstgericht hingegen ab.

Es ging dabei von folgendem Sachverhalt aus:

Der Kläger lebt gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin in einer 70 m² großen Wohnung mit 3 Räumen im 4. Stock, ein Lift ist vorhanden. Die Wohnung ist mit Elektro und Mikrowellenherd, Dusche mit Sitzgelegenheit, WC, Waschmaschine und Fernwärme ausgestattet.

Beim Kläger besteht ein Zustand nach Alkoholabusus, der zu einer Leberzirrhose, Ösophagusvarizen und einer ausgeprägten Polyneuropathie der unteren Extremitäten geführt hat. Weiters liegen eine insulinpflichtige Zuckerkrankheit mit Nierenschädigung, Gallensteine, Bluthochdruck, eine vergrößerte Prostata, ein beginnender Grauer Star, ein beginnendes Karpaltunnelsyndrom, eine Wirbelsäulenfehlhaltung und ein depressives Zustandsbild vor.

Der Kläger kann beide Arme über den Kopf heben, mit Fingerspitzen den Rücken, nicht aber die Zehen erreichen (Finger Boden Abstand: 10 cm). Der Faustschluss ist beidseits gegeben. Der Kläger kann sich innerhalb des Wohnbereichs mit einem Rollstuhl selbst vorwärts bewegen, er kann sich, wenngleich mühevoll und langsam, selbst in den Rollstuhl setzen und diesen eigenständig verlassen. Der Kläger bedarf aber keiner Mobilitätshilfe im engeren Sinn (im häuslichen Bereich).

Der Hilfs und Pflegebedarf beruht auf der Unfähigkeit des Klägers, frei zu stehen, auf der Polyneuropathie in den unteren Extremitäten, auf der Bandscheibenschädigung sowie der Zuckerkrankheit.

Der Kläger ist in der Lage, die tägliche oberflächliche Körperpflege bis auf die Fußpflege selbst vorzunehmen. Hilfe benötigt er bei der gründlichen Körperreinigung sowie bei der Fußpflege, welche aufgrund der Zuckerkrankheit täglich erfolgen muss. Aufgrund des Unvermögens, frei stehen zu können, ist dem Kläger die Zubereitung von Mahlzeiten nicht möglich. Er kann auch kein Fertiggericht aufwärmen. Mahlzeiten und Getränke kann der Kläger selbständig einnehmen.

Der Kläger ist in der Lage, die Notdurft selbst zu verrichten. Dies erfolgt auf einem Leibstuhl (die Toilette ist nicht rollstuhlgerecht befahrbar), der entsorgt werden muss. In der Nacht verwendet der Kläger eine Harnflasche, die ebenfalls entsorgt werden muss. Er ist nicht inkontinent.

Der Kläger kann die obere Körperhälfte selbst an und auskleiden, er benötigt jedoch Hilfe beim An und Auskleiden der unteren Körperhälfte.

Aufgrund kognitiver Einschränkungen müssen Medikamente vorgerichtet und deren Einnahme überwacht werden. Auch die Verabreichung von Insulin (3 mal täglich Insulin spritzen, 3 mal täglich Blutzucker messen) kann der Kläger nicht selbst vornehmen.

Auf Hilfe ist der Kläger bei der Fortbewegung außerhalb des Wohnbereichs, bei der Beschaffung von Lebensmitteln, Medikamenten und Gebrauchsgegenständen, bei der Wohnungsreinigung sowie bei der Pflege der Leib und Bettwäsche angewiesen.

Der zum Gewährungszeitpunkt 1. 7. 2012 zugesprochene Hilfs und Pflegebedarf beruhte auf dem extrem schlechten Allgemeinzustand des Klägers. Infolge einer alkoholischen Leberzirrhose trat ein Aszites (Bauchwassersucht) auf. Der Kläger bedurfte daher der Hilfe bei der kompletten Körperpflege, der Zubereitung von Mahlzeiten, dem An und Auskleiden, der Verrichtung der Notdurft und der Versorgung der Inkontinenz, der Bereitstellung und Einnahme von Medikamenten, der Mobilität sowohl im engeren als auch im weiteren Sinn, der Beschaffung von Lebensmitteln, Medikamenten und Gebrauchsgegenständen, der Wohnungsreinigung und der Pflege der Leib und Bettwäsche.

Weil der Kläger seit 2012 keinen Alkohol trinkt, verbesserte sich der Allgemeinzustand in oben beschriebener Weise und bewirkte damit auch eine Reduktion des Hilfs und Pflegebedarfs. Nach wie vor bestehen jedoch die Polyneuropathie, die Bandscheibenschädigung und die Zuckerkrankheit. Der beschriebene Zustand besteht ab 1. 6. 2016. Von einer weiteren Verbesserung des Gesundheitszustands des Klägers kann nicht ausgegangen werden.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, dass beim Kläger seit 1. 6. 2016 ein Pflegebedarf von 112 Stunden vorliege, davon – soweit für das Revisionsverfahren wesentlich – 5 Stunden für das Verabreichen von Insulin und 3 Stunden für die Medikamenteneinnahme. Im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt, als ein Pflegebedarf von 173 Stunden bestand, sei eine Verbesserung eingetreten, weil der Kläger nunmehr die Körperpflege – mit wenigen Ausnahmen – selbst vornehmen könne und auch keiner Hilfe mehr bei der Verrichtung der Notdurft und der Inkontinenzreinigung bedürfe. Dies rechtfertige daher nur eine Herabsetzung des Pflegegelds auf Stufe 2.

Das Berufungsgericht gab der vom Kläger nur gegen die mit dem angefochtenen Urteil erfolgte Abweisung seines Mehrbegehrens auf Zuerkennung eines höheren Pflegegelds als jenes der Stufe 2 ab 1. 6. 2016 erhobenen Berufung nicht Folge. Für die im Zusammenhang mit der Verabreichung einer Insulinspritze vorzunehmenden Handreichungen sei ein Zeitwert von 5 Minuten – für eine Insulinspritze ohne Blutzuckermessung 3 Minuten – angemessen. Die heute übliche Verabreichung mit Pens, die die Insulinpatronen beinhalten, wobei mittels Knopfdrucks die erforderliche Dosis eingestellt, abgelesen und auch korrigiert werden könne, gestalte sich gegenüber der früher üblichen Insulinspritze wesentlich weniger zeitaufwändig, sodass nicht mehr von dem in der Entscheidung 10 ObS 128/94, SSV NF 8/58, genannten Zeitwert von 10 Minuten pro Insulinspritze ausgegangen werden könne. Letztlich ausschlaggebend sei aber, dass das Erstgericht – wenn auch disloziert im Rahmen der rechtlichen Beurteilung – festgestellt habe, dass der Kläger für die Verabreichung von Insulin einen Betreuungsaufwand von 5 Stunden monatlich benötige. Diese Feststellung gründe auf der gutachterlichen Einschätzung des Sachverständigen für Allgemeinmedizin.

Auch im Zusammenhang mit der Verabreichung von Medikamenten sei der zeitliche Aufwand der Betreuung festgestellt worden. Die in diesem Zusammenhang behauptete sekundäre Mangelhaftigkeit liege nicht vor. Soweit der Rechtsmittelwerber einen höheren Pflegebedarf für die Verabreichung von Medikamenten anspreche, gehe er nicht von diesen Feststellungen aus. Umstände, die eine erhebliche Überschreitung des Richtwerts rechtfertigen könnten, habe der Kläger nicht behauptet, sie ergäben sich auch nicht aus dem Verfahren.

Die Behauptung, der Kläger benötige im Hinblick auf sein depressives Zustandsbild Motivationsgespräche und Beaufsichtigung, finde in den Sachverhaltsfeststellungen keine Grundlage.

Die beim Kläger bestehende Polyneuropathie der unteren Extremitäten sei keiner der im § 4a BPGG aufgezählten Diagnosen gleichzuhalten, sodass eine diagnosebezogene Einstufung nicht in Betracht komme.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die Revision mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, mit der er die gänzliche Stattgebung der Klage anstrebt.

Die Beklagte machte von der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Möglichkeit der Erstattung einer Revisionsbeantwortung keinen Gebrauch.

Die Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulassungsausspruch des Berufungsgerichts zulässig. Sie ist im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionswerber strebt die Berücksichtigung eines weiteren Pflegebedarfs an, weil seines Erachtens Motivationsgespräche erforderlich seien. Als Rollstuhlfahrer sei er mindestens in die Stufe 3 einzustufen. Für die Medikamenteneinnahme und die Verabreichung von Insulin sei ein deutlich höherer Zeitwert als der Richtwert zu berücksichtigen. Dem kommt insofern teilweise Berechtigung zu, als die bisher getroffenen Feststellungen nicht ausreichen, um den Pflegebedarf im Zusammenhang mit der Verabreichung von Insulin und der Blutzuckermessung zu beurteilen:

1. Zu Motivationsgesprächen (§ 4 Abs 2 EinstV zum BPGG, BGBl II 1999/37, BGBl II 2011/453):

1.1 Beim Motivationsgespräch iSd § 4 Abs 2 EinstV handelt es sich um eine eigene Betreuungshandlung, die als Beziehungsarbeit für geistig oder psychisch Behinderte oft eine unerlässliche Basis für deren Aktivierung ist oder Behinderten durch ein Planungsgespräch die selbstständige Lebensführung ermöglicht. Das Motivationsgespräch ist in diesem Sinn als eine übergreifende Betreuungsmaßnahme zu verstehen und bei der Ermittlung des Pflegebedarfs lediglich einmal für alle in den §§ 1 und 2 EinstV angeführten notwendigen Hilfs und Betreuungsmaßnahmen zu berücksichtigen (10 ObS 185/04k, SSV NF 19/13 mwH).

1.2 Nach den Feststellungen besteht beim Kläger Hilfsbedarf ausschließlich aufgrund der oben wiedergegebenen körperlichen Leiden. Weder steht eine geistige oder psychische Behinderung des Klägers fest, noch, dass mit ihm Motivationsgespräche im dargestellten Sinn geführt werden müssten. Soweit der Kläger dem entgegen auch noch in der Revision daran festhält, dass er einen Betreuungsbedarf iSd § 4 Abs 2 EinstV habe, geht die Revision nicht vom festgestellten Sachverhalt aus, weshalb darauf nicht näher einzugehen ist.

2. Auch mit der weiteren Behauptung, dass der Kläger „Rollstuhlfahrer“ und daher mindestens nach Pflegestufe 3 einzustufen sei, zeigt der Kläger keine Korrekturbedürftigkeit der Entscheidung des Berufungsgerichts auf. Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die beim Kläger bestehende Polyneuropathie keine der in § 4a Abs 1 BPGG aufgezählten Diagnosen ist, stellt der Revisionswerber nicht in Frage. Auf seine weiteren Ausführungen, wonach die bei ihm bestehende Polyneuropathie aus verfassungsrechtlichen Gründen einer der in § 4a Abs 1 BPGG genannten Diagnosen gleichzuhalten sei, ist schon deshalb nicht einzugehen, weil der Kläger – worauf das Berufungsgericht hingewiesen hat – kein Rollstuhlfahrer iSd § 4a Abs 1 BPGG ist: denn er ist zur eigenständigen Lebensführung nicht auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen. Der Kläger kann den Rollstuhl eigenständig besteigen und auch wieder verlassen, er benötigt keine Hilfe für Bewegungen im räumlichen Nahebereich (Mobilitätshilfe im engeren Sinn). Da die Ausführungen des Revisionswerbers auch in diesem Punkt nicht vom festgestellten Sachverhalt ausgehen, ist die Revision nicht gesetzmäßig ausgeführt, sodass darauf nicht weiter einzugehen ist.

3. Zum Betreuungsaufwand für die Einnahme von Medikamenten (§ 1 Abs 2 und 3 EinstV):

3.1 Für das „Einnehmen von Medikamenten (auch bei Sondenverabreichung)“ sieht die Einstufungsverordnung zum BPGG in § 1 Abs 3 einen auf den Tag bezogenen Richtwert von 6 Minuten vor. Zu dieser Betreuungsverrichtung gehört auch die Verabreichung von Insulinspritzen bei Diabetikern (10 ObS 129/14i, SSV NF 28/71 mwH).

3.2 Die Richtwerte dienen im Wesentlichen als Orientierungshilfe für die Rechtsanwendung und können in Fällen, in denen ein spezifischer Betreuungsaufwand anfällt, der sich vom üblichen unterscheidet, auch unter oder überschritten werden (10 ObS 129/14i, SSV NF 28/71; RIS Justiz RS0053147). Abweichungen von diesen Zeitwerten sind aber nur dann zu berücksichtigen, wenn der tatsächliche Betreuungsaufwand diese Mindestwerte erheblich überschreitet (§ 1 Abs 3 EinstV). Ein wesentliches (erhebliches) Abweichen des zeitlichen Betreuungsbedarfs vom pauschalierten Richtwert liegt nur dann vor, wenn der tatsächliche Pflegebedarf vom Pauschalwert um annähernd die Hälfte des Pauschalwerts abweicht (10 ObS 197/06b, SSV NF 21/2; 10 ObS 12/08z, SSV NF 22/11; RIS Justiz RS0058292; Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld³ Rz 353). Grundsätzlich ist im Fall der Normierung eines Richtwerts vom Pauschalwert auszugehen (10 ObS 85/03b, SSV NF 17/39), Abweichungen von den Durchschnittswerten bedürfen stets einer besonderen Begründung (RIS Justiz RS0053147 [T5]). Dabei ist auf den im konkreten Fall notwendigen Aufwand abzustellen. Erst wenn dieser Aufwand fest steht, kann beurteilt werden, ob ein Abweichen vom Richtwert gerechtfertigt ist oder nicht (10 ObS 129/14i mwN).

3.3 Eine mögliche Abweichung vom Richtwert kann sich im vorliegenden Fall einerseits daraus ergeben, dass der Kläger eine größere Anzahl an täglich zu verabreichenden Medikamenten einnehmen muss (nach den Angaben des Sachverständigen: 12 ohne Insulin). Andererseits benötigt der Kläger Insulinspritzen und damit verbunden eine Messung des Blutzuckers. Der Revisionswerber zeigt in diesem Zusammenhang zutreffend auf, dass die vom Erstgericht dazu bisher getroffenen Feststellungen noch nicht genügen, um den für den mit der Einnahme von Medikamenten verbundenen Betreuungsaufwand abschließend festzustellen.

3.4 Es trifft zwar zu, dass die Zuordnung einzelner Teile eines Urteils zu den Feststellungen nicht vom Aufbau des Urteils abhängt (RIS Justiz RS0043110) und dass auch in der rechtlichen Beurteilung enthaltene, aber eindeutig dem Tatsachenbereich zuzuordnende Ausführungen als Tatsachenfeststellungen zu behandeln sind (sogenannte „dislozierte Feststellungen“, RIS Justiz RS0043110 [T2]). Für die Beurteilung, ob es sich bei außerhalb der Feststellungen vorzufindenden Urteilsausführungen um Tatsachen-feststellungen handelt, kommt es allerdings auf die Qualität der Aussage in den Entscheidungsgründen eines Urteils an (9 ObA 67/16t mwH).

3.5 Entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts fehlt der Darstellung des zeitlichen Pflegebedarfs von 5 Stunden für das „Verabreichen von Insulin“ und der Angabe des Zeitwerts von 3 Stunden für die Einnahme von Medikamenten in der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts im konkreten Fall die Qualität einer „dislozierten Feststellung“. Bei der Frage, ob aufgrund der Feststellungen ein Pflegebedarf nach der EinstV zum BPGG besteht, handelt es sich um eine vom Gericht zu lösende Rechtsfrage (10 ObS 303/01h; RIS Justiz RS0107433 [T5]). In konsequenter Übereinstimmung damit hat das Erstgericht im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung den Pflegebedarf des Klägers für die Medikamenteneinnahme und die Verabreichung von Insulin „ausgehend vom festgestellten Sachverhalt“ dargestellt und nicht eine „dislozierte Feststellung“ getroffen. Darüber hinaus lässt sich der Zeitwert von 5 Stunden pro Monat nicht mit den Feststellungen des Erstgerichts im Zusammenhalt mit den Angaben des Sachverständigen in Übereinstimmung bringen:

3.6 Der Kläger benötigt nach den Feststellungen drei Insulinspritzen täglich, sodass sich – bei Zugrundelegung eines Betreuungsbedarfs von 5 Stunden monatlich – ein Wert von 3,33 Minuten täglich pro Insulinspritze errechnen würde (5 x 60 = 300 Minuten pro Monat; 300 : 30 = 10 Minuten pro Tag : 3). Dabei bleibt allerdings unklar, ob in diesem Zeitwert auch der zeitliche Aufwand für die ebenfalls 3 mal tägliche Blutzuckermessung enthalten ist, weil das Erstgericht zu dem mit der Blutzuckermessung verbundenen Zeitaufwand keine Feststellungen getroffen hat.

Der Sachverständige hat jedoch – worauf der Revisionswerber hinweist – in der Verhandlung vom 22. 9. 2016 zu Protokoll gegeben, dass „die Insulinspritze“ mit 5 Stunden pro Monat zusätzlich zur Betreuung bei der Einnahme von Medikamenten zu veranschlagen sei. Geht man von diesem Zeitwert für eine Insulinspritze aus, würde sich ein – mit der (bereits älteren) Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs übereinstimmender (10 ObS 128/94, SSV NF 8/58; RIS Justiz RS0058274) – zeitlicher Betreuungsaufwand von 10 Minuten für eine Insulinspritze täglich ergeben (5 x 60 : 30), somit nach den Feststellungen von 15 Stunden monatlich für die Verabreichung von drei Insulinspritzen täglich (10 x 3 x 30 = 900 Minuten; 900 : 60 = 15 Stunden). Ein Zeitwert von 10 Minuten täglich für die Verabreichung einer Insulinspritze steht aber nicht im Einklang mit dem in der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts angenommenen Zeitwert von 5 Stunden pro Monat für die festgestellte Verabreichung von drei Insulinspritzen täglich.

3.7 Ginge man hingegen davon aus, dass sich der Sachverständige in seiner Aussage ungeachtet der wörtlichen Protokollierung auf die Verabreichung von drei Insulinspritzen täglich bezogen hätte, wäre der sich errechnende Zeitwert von 3,33 Minuten pro Spritze wiederum nicht mit den vom Berufungsgericht angegebenen Werten von 5 oder 3 Minuten je Insulinspritze in Einklang zu bringen. Das Berufungsgericht folgt dabei Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld³ Rz 385: diese halten einen Zeitwert von 5 Minuten für eine Insulinspritze mit Blutzuckermessung für angemessen, hingegen einen Zeitwert von 3 Minuten lediglich für eine Insulinspritze ohne Blutzuckermessung: im Fall des Klägers ist jedoch nach den Feststellungen eine Blutzuckermessung erforderlich.

Setzte man darüber hinaus den vom Berufungsgericht angenommenen Zeitwert von (nur) 5 Minuten für die Verabreichung einer Insulinspritze samt damit verbundener Blutzuckermessung an, würde sich daraus für die für den Kläger erforderlichen drei Insulinspritzen täglich ein zeitlicher Betreuungsaufwand von 7,5 Stunden pro Monat errechnen (3 x 5 x 30 = 450 Minuten; 450 : 60 = 7,5 Stunden), nicht aber der vom Erstgericht in seiner rechtlichen Beurteilung angenommene Wert von 5 Stunden.

5. Somit fehlen ausreichende Feststellungen dazu, welcher zeitliche Aufwand im Zusammenhang mit der Verabreichung der drei Insulinspritzen samt Blutzuckermessung täglich tatsächlich notwendig ist. In diesem Zusammenhang wird mit dem Sachverständigen auch der tatsächliche Betreuungsaufwand für die Bereitung und Betreuung bei der Einnahme der weiteren zahlreichen Medikamente für den Kläger vor dem Hintergrund dessen vom Erstgericht festgestellter kognitiver Einschränkungen zu erörtern und werden entsprechende Feststellungen zu treffen sein. Diese Feststellungen werden im fortzusetzenden Verfahren nachzuholen sein, um beurteilen zu können, ob – und gegebenenfalls in welchem Umfang – beim Kläger tatsächlich ein Abweichen vom Richtwert bei der Medikamenteneinnahme (einschließlich der Verabreichung von Insulin samt Blutzuckermessung) gerechtfertigt ist.

Der Revision war daher Folge zu geben und die Rechtssache im dargestellten Umfang zur ergänzenden Erörterung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf den § 2 ASGG, § 52 ZPO.