JudikaturJustiz10ObS48/98a

10ObS48/98a – OGH Entscheidung

Entscheidung
09. Februar 1998

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Danzl als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter OSR Dr.Friedrich Weinke (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Walter Benesch (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Rosa H*****, vertreten durch Dr.Christian Winternitz, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27.August 1997, GZ 7 Rs 169/97t-14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 26.November 1996, GZ 20 Cgs 47/96i-7, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen, die hinsichtlich des Zuspruches von Pflegegeld der Stufe 4 als unbekämpft unberührt bleiben, werden im übrigen im Umfang des Differenzbetrages zwischen den Pflegegeldstufen 4 und 5 aufgehoben und die Sozialrechtssache insoweit zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die am 27.8.1911 geborene Klägerin bezieht seit 1.7.1993 das Pflegegeld der Stufe 3. Aufgrund der vom Erstgericht im einzelnen festgestellten gesundheitlichen Behinderungen benötigt sie einen monatlichen Betreuungsaufwand von 155 Stunden; sie ist weiters an einen Rollstuhl angewiesen, den sie selbständig nicht bewegen und aus dem sie auch nicht selbständig aufstehen, sich aber aufrichten kann. Sie ist "de facto immobil" und benötigt dauernde Beaufsichtigung im Sinne eines in regelmäßigen Abständen wiederholten Erscheinens einer Hilfsperson.

Mit Bescheid vom 15.1.1996 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 30.10.1995 auf Erhöhung des Pflegegeldes ab.

Mit ihrer (offenbar von der Tochter maschinschriftlich vorformulierten) Klage begehrte die Klägerin "die Bewilligung der Stufe 4 des Pflegegeldes". Dieses Begehren blieb bis Schluß der Verhandlung erster Instanz unverändert und seitens des Erstgerichtes (nach dem Inhalt des Protokolles der einzigen Streitverhandlung) auch unerörtert. Die Klägerin wurde hiebei bis einschließlich dieser Verhandlung von ihrer Tochter, sohin einer nicht im Sinne des § 40 ASGG qualifizierten Person, vertreten.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren, der Klägerin ein Pflegegeld der Stufe 5 ab 1.10.1995 zu gewähren, ab.

Da ihr monatlicher Betreuungsbedarf unter 180 Stunden liege, erreiche sie das Erfordernis der Stufe 4 nicht. Über Antrag der beklagten Partei während laufender Berufungsfrist wurde der Urteilsspruch mit Beschluß vom 1.4.1997 dahin berichtigt, daß es statt Pflegestufe 5 richtig Stufe 4 zu lauten habe.

Mit ihrer am selben Tag überreichten Berufung stellte die Klägerin unter Geltendmachung ausschließlich des Berufungsgrundes der unrichtigen rechtlichen Beurteilung das Begehren, das angefochtene Urteil "in klagsstattgebendem Sinne" abzuändern, da die Voraussetzungen für die Gewährung der Stufe 5 (des Pflegegeldes) erfüllt seien.

Das Berufungsgericht gab der Berufung Folge und änderte das angefochtene Urteil dahin ab, daß es die beklagte Partei schuldig erkannte, der Klägerin ab dem 1.10.1995 ein Pflegegeld der Stufe 4 zu gewähren. Da sie zur Fortbewegung vorwiegend auf den Gebrauch des Rollstuhles angewiesen sowie festgestelltermaßen "de facto immobil" sei und eine dauernde Beaufsichtigung in der Art und Weise benötige, daß in regelmäßigen Abständen eine Hilfsperson erscheine, erfülle sie die Voraussetzungen des § 8 Z 3 EinstV, weshalb ohne weitere Prüfung nach § 4 BPGG ein Pflegegeldbedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand anzunehmen seien, woraus sich ein Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 5 ableite. Weil die Klägerin jedoch ausdrücklich nur den Zuspruch eines solchen in Höhe der Stufe 4 begehrt und dieses Begehren auch bis Schluß des mündlichen Verhandlung nicht geändert habe, sei eine Korrektur desselben im Sinne des § 82 Abs 4 ASGG nicht möglich; die Klägerin hätte hiezu vielmehr ein Begehren auf Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß stellen müssen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens (inhaltlich auch der unrichtigen rechtlichen Beurteilung) gestützte Revision der Klägerin mit dem Antrag, das Urteil des Berufungsgerichtes im Sinne einer Zuerkennung der Pflegegeldstufe 5 ab 1.10.1995 abzuändern; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt. Die beklagte Partei hat eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet.

Die Revision ist im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Der Schwerpunkt der Rechtsmittelausführungen liegt im Vorwurf der Unterlassung einer entsprechenden Anleitung und Belehrung der in erster Instanz nicht qualifiziert vertreten gewesenen Klägerin, ihr Begehren entsprechend zu ändern. Außerdem sei ein (wie vom Berufungsgericht gefordertes) Klagebegehren auf Zuspruch von Pflegegeld von der Bestimmung des § 82 Abs 1 ASGG nicht erfaßt. Da die Abgrenzungen der einzelnen Pflegegeldstufen dem juristischen Laien nur schwer verständlich seien, müsse man stets davon ausgehen, daß ein Betroffener immer das für ihn günstigste Begehren stellen und daher die für ihn höchstmögliche Pflegegeldstufe verlangen werde - dies auch, wenn ein Betroffener ausdrücklich nur den Zuspruch einer bestimmten Pflegegeldstufe begehre.

Hiezu hat der Oberste Gerichtshof folgendes erwogen:

Rechtliche Beurteilung

Grundsätzlich ist auch in Pflegegeldsachen ein gemäß § 82 Abs 4 ASGG in Sozialrechtssachen allgemein zulässiges und demgemäß als auf das für den Versicherten Günstigste gerichtetes Klagebegehren "im gesetzlichen Ausmaß" möglich (10 ObS 210/97g, 10 ObS 292/97g). In einem solchen Fall hat das Gericht einem Kläger jedenfalls das "Meiste" an gesetzlicher Leistung Mögliche zuzuerkennen (vgl Kuderna, ASGG2 515 f Anm 10). Andererseits gilt gemäß § 2 Abs 1 ASGG auch in Arbeits- und Sozialrechtssachen die Bestimmung des § 405 ZPO, wonach das Gericht nicht befugt ist, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist, wofür es also bis Schluß der mündlichen Verhandlung keinen Urteilsantrag gibt (Rechberger in Rechberger, ZPO Rz 1 zu § 405).

Im vorliegenden Fall ist jedoch im besonderen Maße auch - worauf die Revisionswerberin zutreffend hinweist - auf die Bestimmung des § 39 Abs 2 Z 1 ASGG Bedacht zu nehmen. Danach hat der Vorsitzende bei einer (wie hier) nicht durch eine qualifizierte Person vertretenen Partei diese über die bei derartigen Sozialrechtssachen in Betracht kommenden besonderen Vorbringen und Beweisanbietungen zu belehren, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung dienen können, und sie zur Vornahme der sich anbietenden derartigen Prozeßhandlungen anzuleiten. Unterläßt das Gericht diese erforderlichen Belehrungen bzw Anleitungen, so stellt dies einen erheblichen Verfahrens- mangel im Sinne des § 496 Abs 1 Z 2 ZPO dar, der zur Aufhebung des Urteils führen muß (Feitzinger/Tades ASGG2 Anm 6a zu § 39); beruht diese Verletzung auf einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung, so liegt der Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung vor (Kuderna, aaO 228 Anm 5 mwN). Diese richterliche Anleitungs- und Belehrungspflicht ist für die Erfüllung der sozialen Funktion des Prozesses von ganz besonderer Bedeutung, wonach bei der Beurteilung von Anträgen grundsätzlich im Geiste sozialer Rechtsanwendung vorzugehen ist, d.h. ein Antrag im Zweifel zugunsten eines Versicherten ausgelegt werden muß (SSV-NF 10/38; Fink, Sukzessive Zuständigkeit, 90 ff; Kuderna, aaO 229 f).

Bereits aus dem eingeholten Gutachten des medizinischen Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Chirurgie ergab sich - neben den weiteren Behinderungen - die Angewiesenheit der inzwischen im 87. Lebensjahr stehenden Klägerin auf einen Rollstuhl (ON 3 und 5), wodurch jedenfalls die (erst vom Berufungsgericht in seine Beurteilung miteinbezogene) Bestimmung des § 8 (konkret Z 3) EinstV iVm § 4 Abs 1 BPGG zur näheren Prüfung nahelag. Da sich das Erstgericht jedoch ausschließlich auf die Ermittlung des zeitlichen Betreuungs- und Hilfebedarfs im Sinne der §§ 1, 2 EinstV beschränkte und hiezu einen solchen von (insgesamt) bloß 155 Stunden pro Monat ermittelte, blieb die weitere Beurteilung zum Vorliegen der nach § 8 leg cit "ohne weitere Prüfung" möglichen höheren Pflegegeldstufen für Personen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sind, durch das Erstgericht ungeprüft und es erfolgte deshalb auch keine weitergehende Belehrung der Klägerin (bzw deren Tochter als ihrer bevollmächtigten Vertreterin). Schon daher kann es der Klägerin nicht schaden, daß sie diesen Umstand erst in der Revision geltend machte. Dazu kommt, daß jene Entscheidungen, wonach in Berufungsverfahren nicht gerügte Verfahrensmängel im Revisionsverfahren nicht mehr (mit Erfolg) geltend gemacht werden können (10 ObS 217/95, 10 ObS 2367/96b uam), hier deshalb nicht greifen können, weil die Klägerin zum Zeitpunkt der Erhebung ihrer Berufung - ausgehend jedenfalls von der Spruchformulierung im damals noch unberichtigten Urteil erster Instanz - davon ausgehen konnte, daß das Erstgericht sehr wohl ihr Begehren (ungeachtet der Nennung der Stufe 4 in der Klage) als solches auch gerichtet auf Stufe 5 verstanden hatte, andernfalls die Abweisung desselben "der Stufe 5" unverständlich gewesen wäre. Es kann der Klägerin daher bei dieser besonderen Fallgestaltung auch nicht zum Nachteil gereichen, daß sie die nunmehr in der Revision relevierte Verletzung der Manuduktionspflicht nicht bereits in der (im Zeitpunkt der Berichtigung bereits überreichten) Berufung als erheblichen Verfahrensmangel rügte.

Das Erstgericht wird daher die (nunmehr auch anwaltlich und damit qualifiziert vertretene) Klägerin aufzufordern haben, ihr Begehren tatsächlich unmißverständlich dahingehend klarzustellen, daß bzw ob sie (im Sinne ihrer insoweit übereinstimmenden Berufungs- und Revisionsanträge) nunmehr tatsächlich das Pflegegeld der Stufe 5 begehrt oder ob es bei jenem der Stufe 4, wie es ihr vom Berufungsgericht unangefochten und damit rechtskräftig zuerkannt wurde, zu verbleiben hat. Sodann wird auch darauf Bedacht zu nehmen sein, ob - wie es der Senat zur Einstufung nach § 8 Z 3 EinstV in ständiger Rechtsprechung verlangt (10 ObS 173/97g, 10 ObS 266/97h, 10 ObS 292/97g uva) - die Klägerin tatsächlich soweit von einem Ausfall von Funktionen ihrer oberen Extremitäten betroffen ist, daß sie nicht mehr in der Lage ist, sich von selbst, also ohne fremde Hilfe, vom Bett in den Rollstuhl zu setzen und umgekehrt. Nach den Ausführungen des medizinischen Sachverständigen, welche insoweit nicht in die Urteilsfeststellungen eingeflossen sind, kann sich die Klägerin nämlich "umsetzen", also von einem Sessel in einem Leibstuhl und umgekehrt und auch im Bett liegend aufrichten (ON 5). Ob dies ausreicht, um auch einen selbständigen Transfer in den und aus dem Rollstuhl durchzuführen, ist damit noch nicht ausreichend geklärt (vgl hiezu auch die mehrdeutige Feststellung in Seite 3 des Ersturteils, wonach die Klägerin zwar nicht aus dem von ihr benötigten Rollstuhl selbständig aufstehen, sich in diesem jedoch selbständig aufrichten kann). Das Erstgericht wird daher auch diesbezüglich die Sachverhaltsgrundlage zu verbreitern haben.

Da es hiezu jedenfalls noch einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, waren in Stattgebung der Revision die Urteile der Vorinstanzen im angefochtenen Umfang aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

Rechtssätze
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  • RS0106389OGH Rechtssatz

    18. Juli 2002·3 Entscheidungen

    Dem § 8 EinstV sind vor allem jene Personen zu unterstellen, die mit Hilfe des Rollstuhles ihren Bewegungsradius erweitern können und dadurch in die Lage versetzt werden, Verrichtungen, wie sie in §§ 1 und 2 EinstV vorgesehen sind, (weitgehend) eigenständig vorzunehmen. Gerade im Hinblick auf § 8 Z 3 EinstV, wo von einem deutlichen Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten die Rede ist, aber auch unter Berücksichtigung des Zweckes des Pflegegeldes (§ 1 BPGG) kann es aber nicht ausschlaggebend sein, ob der Betreffende sich mit dem Rollstuhl (weitgehend) selbständig bewegen kann oder wie es in § 22 Abs 2 der Richtlinien heißt, "weitgehend selbständig in der Lage ist, seinen Bewegungsradius zu erweitern und seinen Lebenslauf (gemeint offenbar Lebensablauf) möglichst eigenständig zu gestalten." Die diagnosebezogenen Einstufungen des § 8 EinstV gelten daher auch, wenn der Rollstuhl wegen zunehmender Gebrechlichkeit oder ähnlicher Leidenszustände angeschafft wurde, um den Betroffenen durch andere Menschen fortzubewegen (soweit § 22 Abs 3 der Richtlinien anderes anordnet, kann diese Bestimmung weder auf das BPGG noch auf die EinstV zurückgeführt werden).