JudikaturJustiz10ObS345/97a

10ObS345/97a – OGH Entscheidung

Entscheidung
15. Oktober 1997

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Danzl als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wilhelm Hackl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Christine Sch*****, vertreten durch Dr.Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter- Straße 65, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram und Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 7.April 1997, GZ 7 Rs 323/96p-28, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 9.Mai 1996, GZ 25 Cgs 134/94t-24, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision der beklagten Partei wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil dahin abgeändert, daß das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 16.2.1966 geborene Klägerin war am 20.9.1993 in der Abteilung "manuelle Datenerfassung" im Statistischen Zentralamt in Wien beschäftigt. Diese Abteilung umfaßte etwa 80 Dienstnehmerinnen, darunter vier Supervisorinnen, die als unmittelbare Vorgesetzte der Klägerin zu qualifizieren sind und denen auch die unmittelbare Dienstaufsicht über die Klägerin zukam. Leiter der Abteilung war damals Hofrat DI H*****. Meldungen betreffend Absenzen vom Dienst - aus welchem Grund immer - waren in Routinefällen gegenüber dem Referatsleiter oder den genannten Supervisorinnen zu erstatten. In die Dienstzeit (Blockzeit) fallende Arztbesuche waren ebenfalls einer Supervisorin mitzuteilen, wobei diese dann prüfte, ob der Grund als Abwesenheitsgrund hinreicht, um als Dienstzeit anerkannt zu werden. Zahnarztbesuche wurden nur dann als hinreichender Grund für eine Absenz während der Dienstzeit (Blockzeit) anerkannt, wenn akute Zahnschmerzen bestanden oder vom Dienstnehmer glaubhaft gemacht wurde, daß ein anderer Zahnarzttermin nicht zur Verfügung stand. Freigewählte Zahnarzttermine mußten grundsätzlich außerhalb der Dienstzeit (Blockzeit) angesetzt werden.

Im September 1993 dauerte die Blockzeit von 9.00 bis 14.30 Uhr; nach Ablauf der Blockzeit war eine Meldung gegenüber dem Dienstgeber für den Fall, daß ein Arzt aufgesucht wird, nicht mehr erforderlich. Am 20.9.1993 verfügte die Klägerin über ein beträchtliches Zeitguthaben. Sie begann an diesem Tag ihren Dienst um 6.30 Uhr und trug selbst das Ende der Dienstzeit mit 14.30 Uhr ein. Im Laufe dieses Tages setzte sie zwei ihrer (gleichrangigen) Arbeitskolleginnen in der Abteilung gesprächsweise davon in Kenntnis, daß sie sich vor dem an die Arbeitszeit anschließenden Zahnarztbesuch fürchte oder ähnliches; diese beiden Arbeitskolleginnen wußten daher, daß die Klägerin unmittelbar nach der Arbeitszeit um 14.30 Uhr zum Zahnarzt müsse, wobei die Klägerin ihnen auch erklärt hatte, daß sie zu ihrem Zahnarzt, bei dem sie bereits gewesen war, im 10. Bezirk gehen werde.

Eine Meldung an einen Vorgesetzten (Supervisorin oder Abteilungsleiter) über diesen bevorstehenden Zahnarztbesuch erstattete die Klägerin jedoch nicht.

Nach Ende der Dienstzeit um 14.30 Uhr fuhr die Klägerin direkt zu ihrem Zahnarzt. Nach Ende der Behandlung wollte sie sich zu einer Station der Straßenbahnlinie O begeben, um damit zum Südbahnhof zu fahren, von wo sie mit dem nächsten Zug an ihre Wohnadresse in M***** gelangen wollte. Auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle passierte sie eine Baustelle, bei welcher eine Hausmauer einstürzte und die Klägerin unter sich begrub, wodurch diese schwer verletzt wurde. Sie befand sich unfallbedingt bis 30.4.1995 im Krankenstand (bis zu welchem Datum eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von 100 % bestand); seither beträgt ihre MdE 35 %.

Mit Bescheid vom 10.8.1994 lehnte die beklagte Partei einen Anspruch auf Entschädigung aus Anlaß des Unfalles vom 20.9.1993 ab.

Mit ihrer Klage stellte die Klägerin das Begehren, festzustellen, daß der Unfall vom 20.9.1993 ein Arbeitsunfall war, und weiters, daß die beklagte Partei schuldig sei, ihr für die Folgen dieses Arbeitsunfalles eine vorläufige Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren des Inhalts, die beklagte Partei sei schuldig, der Klägerin für die Folgen des Unfalles vom 20.9.1993 eine Versehrtenrente in gesetzlicher Höhe zu gewähren, ab. Es beurteilte den einleitend (zusammengefaßt) wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahingehend, daß der Unfall der Klägerin nicht unter gesetzlichem Unfallversicherungsschutz gestanden sei, weil es die Klägerin unterlassen habe, die nach § 175 Abs 2 Z 2 ASVG vorgeschriebene vorherige Meldung des Arztbesuches gegenüber dem Dienstgeber vorzunehmen; das bloß gesprächsweise Erwähnen gegenüber gleichrangigen Mitarbeiterinnen könne nicht als Meldung gegenüber dem Dienstgeber interpretiert werden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der klagenden Partei Folge und änderte das angefochtene Urteil dahin ab, daß es die beklagte Partei schuldig erkannte, der Klägerin für die Folgen des genannten Unfalles eine Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes. Da die Klägerin ihren Arztbesuch nicht während der Dienstzeit, sondern in ihrer Freizeit vorgenommen habe, komme "der gesetzlichen Forderung nach Bekanntgabe nur der Beweis- bzw Notifikationscharakter zu, um im Rahmen des Dienstgeberbereiches Bescheid darüber zu wissen." Dieser Beweiszweck sei aber durch die Information zweier Arbeitskolleginnen sowohl über den bevorstehenden Zahnarztbesuch als auch über den Ort desselben (10. Bezirk) "jedenfalls (noch) erreicht" worden, sodaß die Voraussetzungen gemäß § 175 Abs 2 Z 2 ASVG vorlägen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, die bekämpfte Entscheidung im Sinne einer Wiederherstellung des Urteiles des Erstgerichtes abzuändern; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt. Die klagende Partei hat hiezu eine Revisionsbeantwortung erstattet.

Das Rechtsmittel ist gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage im Sinne des Abs 1 leg cit zulässig und auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Wege zu oder von einem Arzt etc sind nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 175 Abs 2 Z 2 ASVG geschützt. Nach dieser Gesetzesstelle (in der hier maßgeblichen Fassung gemäß Art III Z 1 der 50. ASVG-Nov BGBl 1991/676) sind Arbeitsunfälle auch Unfälle "auf einem Weg von der Arbeits- oder Ausbildungsstätte oder der Wohnung zu einer ... Zahnbehandlung (§ 153) und anschließend auf dem Weg zurück zur Arbeits-(Ausbildungs-)stätte oder zur Wohnung, sofern dem Dienstgeber die Stätte der Untersuchung bzw Behandlung bekanntgegeben wurde, .....". Bis dahin hatte der durch Unterstreichung hervorgehobene Halbsatz im Gesetz gefehlt und es statt dessen "Weg von der Arbeits- oder Ausbildungsstätte zu einer vor dem Verlassen dieser Stätte dort bekanntgegebenen .... Zahnbehandlung ...."

geheißen (siehe hiezu die Textgegenüberstellung im Anhang zur RV 284 BlgNR 18. GP, 82 f). Der Gesetzgeber hatte sich zur Neufassung - so die Erläuterungen in der zitierten Regierungsvorlage (S 32) - ua aufgrund des Urteils des Obersten Gerichtshofes 10 ObS 76/88 (veröffentlicht in SSV-NF 2/39 = SZ 61/87) entschlossen. In dieser Entscheidung hatte der Senat den Versicherungsschutz für den Rückweg eines Versicherten von der ärztlichen Untersuchungsstelle zum Betrieb bejaht, auch wenn nach vorheriger Bekanntgabe im Betrieb die ärztliche Untersuchungsstelle erst am nächsten Morgen direkt von der Wohnung aus aufgesucht wird, wobei dieser Rechtssatz auch in der späteren Entscheidung SSV-NF 5/66 (trotz Kritik im Schrifttum) aufrechterhalten wurde. Während es allerdings in der bereits zitierten Regierungsvorlage zur 50. ASVG-Nov heißt, daß zur Bejahung eines gesetzlichen Unfallversicherungsschutzes der Arztbesuch "im Betrieb" bekanntgegeben werden müsse, wurde im Gesetz selbst sodann der (engere) Begriff des "Dienstgebers" gewählt. Da insoweit die Ausdrucksweise des Gesetzes unzweifelhaft ist, ist allein dessen Wortlaut (und nicht die Begriffswahl in den Gesetzesmaterialien) maßgeblich (vgl JBl 1987, 647, AnwBl 1989, 565, SZ 41/119). Die gegenüber dem früheren Wortlaut durch die Novelle verdeutlichte Fassung (vgl SSV-NF 6/72) hat in erster Linie den Zweck, den Versicherungsträger durch eine auf diese Weise genau im vorhinein festgelegte Wegstrecke vor mißbräuchlicher Inanspruchnahme zu schützen, daß etwa andere eigenwirtschaftliche (privatmotivierte) Fahrten (Wege) nachträglich als Arztwege behauptet werden (SSV-NF 5/139, 6/72); daß der Arztweg unter Umständen - wie auch im hier zu beurteilenden Fall - erst nach Ende der regulären Arbeitszeit, also bereits in der Freizeit, angetreten wird, steht dem Versicherungsschutz dann allerdings nicht entgegen (SSV-NF 5/139).

Einzig entscheidende Rechtsfrage der vorliegenden Revision ist es, ob die Klägerin der vom Gesetzgeber auch für den (Arzt )Rückweg zwingend angeordneten Verständigung ihres Dienstgebers (wie dies vom Berufungsgericht bejaht, vom Erstgericht hingegen verneint worden war) entsprochen hat oder nicht. Mag der bereits behandelte und im Gesetzestext zum Ausdruck gebrachte Beweissicherungszweck wie auch Manipulationsvermeidungs- effekt bei einem Arztrückweg nicht so wie beim Hinweg im Vordergrund stehen, so ist doch davon auszugehen, daß der Gesetzgeber dieses Erfordernis gleichermaßen für beide Arten von Wegen ausdrücklich statuiert hat. Würde man hingegen - ausschließlich - von diesen Zwecken ausgehen (die beim Arztrückweg ex post betrachtet wohl regelmäßig ausscheiden), käme man zum Ergebnis, daß ein Versicherter unter Umständen überhaupt, niemandem im Betrieb von einem geplanten Arztbesuch Mitteilung machen müßte, um den Versicherungsschutz auf dem Weg vom Arzt anschließend nach Hause in jedem Fall zu bejahen, weil eben feststünde, daß ein Arztbesuch erfolgt ist und der Beweissicherungszweck dann kein Argument gegen die Ablehnung des Versicherungsschutzes mehr bilden dürfte. Eine solche Sicht ginge jedoch über die klare und eindeutige Gesetzesbestimmung hinaus und wäre mit dieser somit nicht vereinbar.

In der bereits mehrfach zitierten Entscheidung SSV-NF 5/139 hatte der Oberste Gerichtshof es genügen lassen, daß die dortige Klägerin von ihrem beabsichtigten Arztbesuch zwar nicht einen ihrer Vorgesetzten verständigt hatte, jedoch - aufgrund der betrieblichen Gepflogenheiten - ihre "dienstälteste und in der Abteilung gleichsam als Anlaufstelle angesehene Arbeitskollegin". Dabei konnte sich der Senat allerdings noch auf die Fassung des Gesetzestextes vor der 50. ASVG-Nov berufen, der eine Verständigung des Dienstgebers selbst oder eines Vorgesetzten noch nicht verlangt hatte. Im vorliegenden Fall ist jedoch der Gesetzestext in der Fassung seit dieser Novelle anzuwenden, der aber ausdrücklich die Verständigung des Dienstgebers (selbst oder eines Vorgesetzten) verlangt und eine bloße Nachricht im Betrieb bzw am Dienstort schlechthin ("dort bekanntgegebenen") nicht mehr genügen läßt. Nach den maßgeblichen Feststellungen ist davon auszugehen, daß die Klägerin weder ihrem damaligen Abteilungsleiter Hofrat DI H***** noch einer der Supervisorinnen Mitteilung von ihrem nachmittägigen, freilich erst nach der Blockzeit (Ende 14.30 Uhr) angetretenen Zahnarztbesuch am Unfalltag Mitteilung gemacht hatte, sondern vielmehr bloß gesprächsweise zwei ihrer gleichrangigen Arbeitskolleginnen dadurch von dieser Absicht in Kenntnis setzte, daß sie erwähnte, sich vor diesem Zahnarztbesuch "zu fürchten" und daß dieser Arzt im 10. Bezirk ansässig sei. Damit hat aber die Klägerin weder dem gesetzlichen Erfordernis der Bekanntgabe an den "Dienstgeber" noch hinsichtlich der "Stätte der Behandlung" entsprochen - berücksichtigt man, daß es etwa laut derzeit aktuellem Telefonbuch für Wien (Ausgabe 97/98) allein im 10. Bezirk nahezu 50 eingetragene Zahnmediziner gibt, welche für den von der Klägerin beabsichtigten Behandlungstermin sohin aufgrund der vagen Angabe "im

10. Bezirk" in Frage gekommen wären. Da es sich bei dieser Dienstgebermeldung um eine unabdingbare, weil gesetzlich vorgesehene Voraussetzung für den Eintritt des Versicherungsschutzes handelt, ist es unzulässig, im Wege der Auslegung oder über den Umweg von Billigkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen dieses Tatbestandsmerkmal auszuschalten (vgl OLG Wien JBl 1958, 369, zitiert auch in MGA ASVG [61. ErgLfg] Anm 3 e zu § 175).

Soweit die Klägerin - in diesem Zusammenhang - bereits in ihrer Berufung und erneut auch in ihrer Revisionsbeantwortung darauf verweist, daß Bekanntgaben dieser Art an Vorgesetzte in ihrem Betrieb nicht üblich gewesen seien, ist sie darauf zu verweisen, daß zwischen der arbeitsrechtlichen Situation einerseits und den Voraussetzungen des § 175 Abs 2 Z 2 ASVG andererseits zu unterscheiden ist. Die sich aus der Organisation des Betriebes und den betrieblichen Gepflogenheiten ergebende praktische Handhabung bei der Begründung von Absenzen bzw von Mitteilungen über Arztbesuche mag für den arbeitsrechtlich zu beurteilenden Bereich Bedeutung haben. § 175 Abs 2 Z 2 ASVG fordert hingegen ausdrücklich die Bekanntgabe an den Dienstgeber. Dieses Tatbestandsmerkmal des Versicherungsschutzes kann durch eine betriebliche Übung nicht verändert werden.

Daraus folgt, daß der Unfall der Klägerin nicht unter Unfallversicherungsschutz stand. Der Revision der beklagten Partei war daher Folge zu geben und das Urteil des Erstgerichtes wiederherzustellen. Obwohl das Berufungsgericht - von seiner abweichenden, vom Obersten Gerichtshof nicht gebilligten Rechtsansicht ausgehend - die Mängel- und Beweisrüge in der Berufung der Klägerin (großteils) unerledigt gelassen hatte, war es nicht erforderlich, die Sozialrechtssache zur Erledigung dieser beiden Rechtsmittelgründe an das Gericht zweiter Instanz zurückzuverweisen, weil sie Umstände betreffen, denen auch im Lichte der geänderten rechtlichen Beurteilung keine Bedeutung zukommt bzw diese sich inhatlich (soweit Feststellungsmängel gerügt sind) ohnedies als der Rechtsrüge zugehörig erweisen.

Die Kostenentscheidung ist in § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG begründet.

Rechtssätze
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