JudikaturJustiz10ObS295/98z

10ObS295/98z – OGH Entscheidung

Entscheidung
13. Oktober 1998

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Hon. Prof. Dr. Danzl sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Schenk (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Leopold Smrcka (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj. Carina C*****, geboren am 15. März 1992, vertreten durch ihre Mutter Isolde C*****, diese vertreten durch Dr. Herbert Salficky, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Land Niederösterreich, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf, 2230 Gänserndorf, Schönkirchner Straße 1, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 6. Mai 1998, GZ 8 Rs 70/98t-22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Korneuburg als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 8. Oktober 1997, GZ 8 Cgs 170/96b-17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 15. 3. 1992 geborene Klägerin wohnt im Haushalt ihrer Eltern. Sie leidet seit ihrer Geburt unter beidseitigen mittel- bis höhergradig einzustufenden Hörstörungen. Dies bedingt dauernde logopädische Übungen und einen speziellen Lernaufwand; diese Übungen erfordern einen täglichen Totaleinsatz von vier bis fünf Stunden, welchen erhöhten Betreuungsaufwand insbesondere die Mutter des Mädchens durchführt. Hiedurch konnten die wesentlichen Kriterien von Wahrnehmung, Verarbeitung, Kontaktaufnahme sowie motorische und intellekte Leistungsfähigkeit gut erreicht werden. Das Kind ist - abgesehen von seiner Hörstörung - körperlich regelrecht lebensaltertypisch gereift, intellektuell, emotional und sozial bestgefördert und gereift. Bei ihr finden sich keine Nerven-, Geistes- oder Gemütskrankheiten, auch keine andere gleichwertige seelische Störung. Zum Betreuungsaufwand der Mutter, wodurch auch allfällige Folge- und Spätschäden in der Entwicklung des Kindes vermieden werden können, zählen nicht nur diese täglichen logopädischen Übungen und spezielle Lernübungen, sondern auch das Begleiten zum Kindergarten und zu den Therapien.

Unter Berücksichtigung der Bedürfnisse eines gleichaltrigen Kindes mit gutem (normalem) Gehör erreicht der Pflegebedarf der Klägerin monatlich nicht mehr als 50 Stunden.

Mit Bescheid vom 8. 2. 1996 wies die beklagte Partei den Antrag der Mutter der Klägerin auf Pflegegeld für ihre Tochter unter Hinweis darauf, daß der Pflegeaufwand weniger als 50 Stunden pro Monat beträgt, ab.

Gegen diesen Bescheid richten sich die auf Zuerkennung des Pflegegeldes im gesetzlichen Ausmaß, eventualiter in der Stufe 1, 2 oder 3, gerichteten Klagebegehren.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es beurteilte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahin, daß die besondere Betreuung der Mutter bei logopädischen Übungen und der spezielle Lernaufwand nicht dem Betreuungs- oder Hilfsbedarf im Sinne des niederösterreichischen Pflegegeldgesetzes (im folgenden kurz nöPGG) samt Einstufungsverordnung zu unterstellen sei.

Das Berufungsgericht gab der von der Klägerin erhobenen Berufung nicht Folge. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und auch dessen rechtliche Beurteilung, wonach das Sprach- und Gehörtraining nicht zu den den persönlichen Lebensbereich betreffenden, in der Einstufungsverordnung genannten, zur Sicherung der Existenz erforderlichen Verrichtungen zähle; auch den taxativ aufgezählten Hilfsverrichtungen könne das Sprach- und Gehörtraining nicht zugezählt werden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der Klägerin mit dem Antrag, dem Klagebegehren vollinhaltlich stattzugeben; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Die Revision ist gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen der besonderen Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässig, jedoch nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Vorauszuschicken ist, daß die Entscheidung des Berufungsgerichtes mit jenen des Obersten Gerichtshofes 10 ObS 376/97k (= ARD 4914/8/98 = infas 1998 S 37) sowie 10 ObS 29/98g (beide auch RIS-Justiz RS0109265) in Einklang steht. Beide Entscheidungen betrafen - so wie hier - an hochgradiger Schwerhörigkeit leidende Kinder, bei denen ein intensives Sprach- und Gehörtraining (durch die Eltern) erforderlich ist, um ihre fehlende bzw eingeschränkte Sinnesempfindung wie auch ihre Kommunikationsfähigkeit mit der Umwelt zu ermöglichen, zu verbessern und weiter zu entwickeln. Daß es sich hiebei jeweils um Mädchen handelte, denen aufgrund ihrer Beeinträchtigung Cochlear-Implantate eingesetzt worden waren, wohingegen bei der Klägerin in dieser Sozialrechtssache eine derartige Operation nicht vorgenommen wurde, spricht keineswegs gegen die grundsätzliche Identität der Sachverhalte. Der Oberste Gerichtshof hat hiezu - mit ausführlicher Begründung - ausgeführt, daß derartige Therapien, die der Heilung und Behandlung von körperlichen Beeinträchtigungen dienen, weder der Betreuung noch der Hilfe (im Sinne der einschlägigen Bestimmungen der Einstufungsverordnungen des Bundes wie auch der Länder, hier nach dem nöPGG) zuzurechnen sind, sondern eine auf den Einzelfall zugeschnittene Therapie darstellen, für die auch keine Mindesteinstufung (wie bei hochgradig Sehbehinderten, Blinden, Taubblinden oder Rollstuhlfahrern) vorgesehen ist.

Beide Entscheidungen bauten hiebei auf jener Judikatur auf, welche der Oberste Gerichtshof kurz zuvor in Fällen ähnlich gelagerter therapeutischer Betreuungsmaßnahmen entwickelt hatte (insbesondere 10

ObS 2393/96a = SSV-NF 10/130 = ZAS 1998/11: Bobath-Therapie; weiters

10 ObS 2460/96d = SSV-NF 11/7: Vojta-Therapie). In beiden Fällen

handelte es sich um physikalische (heilgymnastische) Bewegungsprogramme, die im ersten Fall von der Mutter, im zweiten Fall von der Gattin des jeweiligen Klägers vorgenommen wurden.

Der Entscheidung 10 ObS 2393/96a (Bobath-Therapie) hat allerdings erst jüngst Pfeffer in seiner Entscheidungsbesprechung ZAS 1998, 120 ff widersprochen. Nach seiner Auffassung handelt es sich bei der genannten Therapie um eine Krankenbehandlung im Sinne des § 133 Abs 2 ASVG primär durch einen Physiotherapeuten (wodurch neben den sachlichen auch die persönlichen Anforderungen des § 135 Abs 1 Z 1 ASVG erfüllt seien), wobei die Mutter als Gehilfin des Therapeuten tätig würde und anstelle desselben die Therapie in die Praxis umsetze; aus dem Versicherungsverhältnis eines ihrer Elternteile (§ 123 ASVG) habe die minderjährige Klägerin (der dortigen Sozialrechtssache) einen gesetzlichen Anknüpfungspunkt auf Übernahme der Kosten vom Krankenversicherungsträger. Darüber hinaus sei die Mitwirkung der Mutter an dieser Krankenbehandlung aber auch Pflege im Sinne der Pflegegeldgesetze. Zur Verhinderung einer Verwahrlosung (§ 1 Abs 1 EinstV) müsse alles gezählt werden, was dazu geeignet sei, den Zustand bzw das Wohlbefinden eines Betroffenen zu erhalten oder zu verbessern, sodaß die von der Mutter der Klägerin durchgeführten therapeutischen Übungen ebenso wie der erhöhte Spielaufwand als Betreuung iSd § 1 Abs 1 leg cit zu qualifizieren und bei der Berechnung der Pflegegeldstufe mitzuberücksichtigen seien. Dieser Betreuungsaufwand werde hiebei auch nicht durch den familienrechtlichen Pflegebegriff im Sinne des § 146 Abs 1 ABGB verdrängt.

Diese Ausführungen sind indes nicht geeignet, den Senat zu einer Abkehr von seiner wiedergegebenen bisherigen ständigen Judikatur zu veranlassen. Zunächst hält der Senat daran fest, daß die Aufzählung der Hilfsverrichtungen nach § 2 Abs 2 der maßgeblichen Einstufungsverordnungen (des Bundes ebenso wie der diesbezüglich wortgleichen nö EinstV) eine taxative ist, was schon aus dem Fehlen des Wortes "insbesondere" (wie in der Aufzählung nach § 1 Abs 2 leg cit zu den Betreuungsverrichtungen) folgt (SSV-NF 10/130; Gruber/Pallinger, BPGG Rz 16 zu § 4; Pfeil, BPGG 83; ders, Pflegevorsorge, 178), wogegen auch Pfeffer keine überzeugenden Argumente vorbringen kann.

Eine nähere Auseinandersetzung hiezu erübrigt sich freilich schon deshalb, weil Pfeffer selbst zugesteht, daß der Hilfebegriff der Einstufungsverordnungen ausschließlich den sachlichen Lebensbereich Betroffener abdeckt, die Tätigkeiten im Zusammenhang mit solchen Therapien wie der auch hier verfahrensgegenständlichen jedoch ausschließlich jedoch persönlicher Natur sind.

Zu prüfen bleibt daher, ob sie allenfalls dem Begriff der Betreuung iSd § 1 Abs 1 leg cit unterstellt werden können. Darunter versteht sowohl die EinstV des Bundes als auch dessen wortgleiches Pendant des Landes Niederösterreich "alle in relativ kurzer Folge notwendigen Verrichtungen anderer Personen, die vornehmlich den persönlichen Lebensbereich betreffen und ohne die der pflegebedürftige Mensch der Verwahrlosung ausgesetzt wäre", wobei in Abs 2 sodann einzelne (beispielhaft aufgezählte) Betreuungshandlungen - An- und Auskleiden, Körperpflege, Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten, Verrichtung der Notdurft, Einnahme von Medikamenten sowie Mobilitätshilfe im engeren Sinn - aufgezählt werden, wobei nach der Systematik der Verordnung freilich nur Handlungen erfaßt werden, die eine unmittelbar drohende Verwahrlosung verhindern (sollen). Es muß sich also jeweils um aktuelle Bedürfnisse handeln, die umgehend befriedigt werden müssen, weil sonst in nächster Zukunft die Verwahrlosung des Pflegebedürftigen droht. Auch der Begriff der Hilfe (in § 2) ist im übrigen erkennbar auf solche Handlungen (Verrichtungen) beschränkt, die eine unmittelbar drohende Verwahrlosung verhindern sollen, wie sich aus dem dortigen Katalog (speziell Herbeischaffung von Nahrungsmitteln, Pflege der Wäsche, Beheizung des Wohnraums) ergibt. Betreuungs- und Unterstützungsmaßnahmen, die hingegen nur darauf abzielen, einem Menschen durch die Vermittlung der Hör- bzw Sprechfähigkeit in Zukunft die Integration in die Gesellschaft zu ermöglichen bzw zu erleichtern, sind dieser erkennbaren Intention des Gesetz- bzw Verordnungsgebers nicht zu unterstellen und daher nach Auffassung des Senates weder dem Begriff der Betreuung noch der Hilfe im Sinne der einschlägigen pflegegeldrechtlichen Bestimmungen zuzuzählen: Es fehlt nämlich der unmittelbare zeitliche Zusammenhang zwischen der Unterstützungshandlung und dem Eintritt des Erfolges, wie er (auch) für den Begriff der Betreuung nach § 1 EinstV Voraussetzung wäre.

Soweit Pfeffer (aaO, 123) den Begriff der Betreuung in § 1 Abs 1 EinstV weiter als nur "Wartung" im Sinne einer Vermeidung von unmittelbarer Existenzbedrohung sieht, kann ihm daher nicht gefolgt werden. Betreuung und Hilfe im Sinne der EinstV bestehen in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens eines pflegebedürftigen Menschen, die er (selbst) als Kranker oder Behinderter nicht oder nicht vollständig ausüben kann, wie dies auch schon früher vom Obersten Gerichtshof zu § 105a ASVG (siehe hiezu auch RV 767 BlgNR 18. GP, 26 [zum BPGG], wonach der darin verwendet gewesene Begriff der Wartung bloß wegen seiner "negativen Besetzung" durch jenen der Betreuung vom Gesetzgeber ersetzt wurde) zum Ausdruck gebracht worden war (SSV-NF 1/46 = SZ 60/223). Dies entspricht im übrigen auch der Auffassung in der BRD (vgl Schullin, Handbuch des SV Rechts Band 4: Pflegeversicherungsrecht § 2 Rz 50 und 70). Das Pflegegeldrecht eröffnet somit nur Ansprüche bei bereits bestehenden und Pflegebedürftigkeit auslösenden körperlichen und/oder geistigen Defiziten, nicht aber Ansprüche auf bloße therapeutische Interventionen, welche darauf hinwirken sollen, daß hiedurch in (unbestimmter) Zukunft der Eintritt von Pflegebedürftigkeit unter Umständen vermieden oder eingetretene Pflegebedürftigkeit allenfalls überwunden, gemindert oder ihre Verschlechterung verhindert wird; hiefür sind vielmehr andere Versicherungsträger berufen. Logopädische Übungen sind damit - so wie die bereits erwähnten Therapie(be)handlungen nach Bobath und Vojta - nicht durch Pflegegeld abzugelten, weil sie zwar (auch) Pflegebedürftigkeit vermeiden, überwinden oder mindern können, aber eben keine Übernahme von Verrichtungen darstellen, die ein kranker oder behinderter Mensch nicht selbst ausüben kann und die gerade deswegen - zur Vermeidung unmittelbar drohender Verwahrlosung - durch Dritte substituiert werden müssen.

Soweit Pfeffer schließlich argumentiert, auch das Verabreichen von Medikamenten in bestimmten Fällen wie etwa bei Durchführung von Insulininjektionen stelle rein sachlich betrachtet zwar Krankenbehandlung, gleichzeitig aber doch auch Pflege (mit Anspruch auf Pflegegeld: vgl hiezu etwa SSV-NF 10/133) dar, was ebenso auch auf die Durchführung von solchen therapeutischen Leistungen übertragbar sei (aaO, 123), ist entgegenzuhalten, daß Medikamente von Nichtpflegebedürftigen - wenngleich Kranken - durchaus selbst (dh ohne Fremdhilfe) eingenommen und auch Insulininjektionen selbst vorgenommen werden (können); das Unvermögen des Pflegebedürftigen muß hingegen substituiert werden. Therapie, die jedoch von vorneherein auch an Nichtpflegebedürftigen von dritten Personen durchgeführt werden muß, hat schon aus der Systematik und Intention des Pflegegeldrechtes außer Betracht zu bleiben (vgl SSV-NF 11/34 mit ähnlicher Abgrenzung bei einem Psoriasis-Patienten).

Damit ist aber eine Berücksichtigung der verfahrensgegenständlichen ausschließlich therapeutischen Leistungen durch die Mutter mangels gesetzlicher Vorgaben ausgeschlossen.

Hieran hat im übrigen auch der Gesetzgeber in der erst jüngst vom Nationalrat beschlossenen umfassenden Novelle zum BPGG (BGBl I 1998/111) festgehalten (siehe hiezu auch infas 1998, 128 f). Weder wurden derartige therapeutische Verrichtungen in den Leistungskatalog (neu) aufgenommen noch - wie dies in der Revision als nicht sachgerecht kritisiert wird - der Personenkreis, für welchen (bisher nach der EinstV, nunmehr nach § 4a BPGG) Mindesteinstufungen vorgesehen sind, für Taube oder schwer hörgeschädigte Personen erweitert.

Da nach den maßgeblichen Feststellungen der Tatsacheninstanzen der pflegegeldrelevante Mehraufwand bei der Klägerin gegenüber einem Kind mit gutem (normalem) Gehör monatlich weniger als 50 Stunden beträgt, ist das Klagebegehren nicht berechtigt.

Der Revision war damit ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit liegen nicht vor und wurden auch nicht geltend gemacht.

Rechtssätze
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