JudikaturJustiz10ObS176/03k

10ObS176/03k – OGH Entscheidung

Entscheidung
01. Juli 2003

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Schramm als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S***** N*****, vertreten durch Dr. Herbert Orlich, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist Straße 1, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien als Rekursgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 26. März 2003, GZ 10 Rs 40/03f 15, womit infolge Rekurses der klagenden Partei der Beschluss des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 19. November 2002, GZ 27 Cgs 205/02p 3, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden ersatzlos aufgehoben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 610,75 EUR (davon 101,79 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

Mit Bescheid vom 15. 10. 2002 lehnte die beklagte Partei den Antrag der am 10. 8. 1960 geborenen Klägerin auf Invaliditätspension mangels Invalidität ab.

Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin die am 30. 10. 2002 beim Erstgericht überreichte, auf Gewährung der Invaliditätspension gerichtete Klage (AZ 21 Cgs 185/02b). Im Rubrum der Klage ist vermerkt: "Kopie: An, Pensionsversicherungsanstalt ... Landestelle Wien ...". Die Gleichschrift der Klage mit dem Auftrag zur Erstattung der Klagebeantwortung wurde der beklagten Partei am 8. 11. 2002 zugestellt.

Die Kopie der Klage langte am 4. 11. 2002 bei der beklagten Partei ein. Diese überreichte das Schriftstück unter Anschluss der Klagebeantwortung am 18. 11. 2002 beim Erstgericht (AZ 27 Cgs 205/02p).

Das Erstgericht wies die am 4. 11. 2002 bei der beklagten Partei eingelangte und am 18. 11. 2002 übermittelte Klage wegen Streitanhängigkeit zurück.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Streitanhängigkeit setze Gerichtsanhängigkeit voraus. Die §§ 84 und 85 ASGG sähen vor, dass die Klage auch bei demjenigen Versicherungsträger eingebracht werden könne, der den Bescheid erlassen habe. Sinn dieser Regelung sei es, Verwaltungsaufwand zu vermeiden und zu verhindern, dass beim Versicherungsträger eingebrachte Klagen allenfalls verspätet seien, wenn sie erst vom Versicherungsträger an das Gericht übersandt werden. Aus diesen Bestimmungen ergebe sich jedoch nicht, dass durch die Einbringung der Klage beim Versicherungsträger Streitanhängigkeit eintrete, bevor noch die Klage bei Gericht eingelangt sei. Die Streitanhängigkeit trete in diesem Fall erst dann ein, wenn die Klage samt Klagebeantwortung dem Gericht übermittelt worden sei, womit Gerichtsanhängigkeit und Streitanhängigkeit in einem bewirkt werde.

Der dagegen von der Klägerin erhobene Revisionsrekurs ist zulässig und im Ergebnis auch berechtigt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Streitanhängigkeit (Rechtshängigkeit der Streitsache) tritt mit der Zustellung der Klage (des verfahrenseinleitenden Schriftsatzes) an die beklagte Partei ein (§ 232 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG) und hat die Wirkung, dass während ihrer Dauer über den geltend gemachten Anspruch weder bei demselben noch bei einem anderen Gericht ein Rechtsstreit durchgeführt werden darf (§ 233 Abs 1 Satz 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG). Eine während der Streitanhängigkeit wegen des nämlichen Anspruchs angebrachte Klage ist auf Antrag oder von Amts wegen zurückzuweisen (§ 233 Abs 1 Satz 2 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG).

Unter anderem in Sozialrechtssachen - wie im vorliegenden Fall - über den Bestand oder den Umfang eines Anspruchs auf eine Versicherungsleistung (§ 65 Abs 1 Z 1 ASGG) kann der Versicherte die Klage bei demjenigen Versicherungsträger einbringen, der den Bescheid erlassen hat. Die Klage gilt als beim zuständigen Gericht eingebracht (§ 84 ASGG). Wird die Klage beim Versicherungsträger eingebracht, so hat dieser binnen zwei Wochen nach deren Erhalt die Klage an das zuständige Gericht weiterzuleiten und die Klagebeantwortung ohne gerichtlichen Auftrag zu überreichen (§ 85 Abs 2 ASGG).

Eine Klage wird mit deren Einlangen in der Einlaufstelle des Gerichts gerichtsanhängig (SZ 45/110; JBl 2000, 803). Im Zusammenhang mit der durch § 84 ASGG eröffneten Möglichkeit der Klagseinbringung beim zuständigen Versicherungsträger wird dieser nicht in seiner Eigenschaft als Versicherungsträger tätig, sondern er erfüllt nur die Funktion einer Posteinlaufstelle (SSV NF 7/40; Kuderna , ASGG² 519 § 84 Anm 2). § 84 Satz 2 ASGG, wonach die Klage als beim zuständigen Gericht eingebracht gilt, macht deutlich, dass die fristgerechte Einbringung der Klage beim beklagten Versicherungsträger als fristgerechte Klagserhebung anzusehen ist (Kuderna aaO § 84 Anm 1). Diesfalls tritt entgegen der Auffassung des Rekursgerichts mit der Einbringung der Klage beim beklagten Versicherungsträger Gerichtsanhängigkeit der Klage ein (Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen 387), hat doch der Versicherungsträger dabei die Funktion einer Posteinlaufstelle und gilt die Klage als beim zuständigen Gericht eingebracht.

Der vorliegende Fall zwingt nicht zur Beantwortung der Frage, wann die beim zuständigen Versicherungsträger eingebrachte Klage streitanhängig wird. Das Prozesshindernis der Streitanhängigkeit setzt nämlich neben der Identität der Parteien und Identität des Streitgegenstands ( Rechberger/Frauenberger in Rechberger, ZPO² § 233 ZPO Rz 9 ff mwN) zumindest zwei Klagen voraus. Dies trifft jedoch im vorliegenden Fall nicht zu, weil aus dem an das Erstgericht adressierten Klagsschriftsatz mit dem Vermerk "Kopie: An ..." eindeutig hervorgeht, dass die Klägerin den Bescheid der beklagten Partei nur mit der bei Gericht eingebrachten Klage bekämpfen und hievon die beklagte Partei mit der Kopie des Klagsschriftsatzes verständigen wollte, sodass die bei der beklagten Partei eingelangte Kopie des Klagsschriftsatzes nicht als zweite Klage gegen den nämlichen Bescheid angesehen werden kann.

Da sich somit die Annahme der Streithängigkeit durch die Vorinstanzen als unzutreffend erweist und die von der beklagten Partei dem Erstgericht unter Anschluss der Klagebeantwortung übermittelte Kopie des Klagsschriftsatzes lediglich Schriftsätze im durch die Klagseinbringung beim Erstgericht eingeleiteten Verfahren sind, waren in Stattgebung des Revisionsrekurses die Beschlüsse der Vorinstanzen ersatzlos aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG. Die Klägerin hat im Zwischenstreit obsiegt.