JudikaturJustiz10ObS15/11w

10ObS15/11w – OGH Entscheidung

Entscheidung
29. März 2011

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Krüger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Schleinbach (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Dr. Thomas Praxmarer, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert-Stifter Straße 65-67, 1200 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15. Dezember 2010, GZ 23 Rs 38/10z 38, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 30. Juni 2010, GZ 46 Cgs 124/08v 33, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts zu lauten hat:

„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der Klägerin für die Folgen ihres Arbeitsunfalls vom 27. 5. 2004 eine 20%ige Versehrtenrente als Dauerrente auch über den 31. 7. 2008 hinaus zu gewähren, wird abgewiesen.

Die Klägerin hat ihre Verfahrenskosten selbst zu tragen.“

Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsmittelverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin zog sich in Ausübung ihrer unfallversicherten Erwerbstätigkeit am 27. 5. 2004 eine Schnittwunde am linken Unterschenkel mit Sehnen-, Nerven- und Muskelverletzung zu, weil sie beim Fensterputzen mit dem linken Fuß von der Fensterbank rutschte und durch einen Glastisch stürzte.

Die beklagte Unfallversicherung gewährte der Klägerin (mit Bescheid vom 18. 4. 2006) für die Folgen dieses Arbeitsunfalls ab 1. 6. 2006 eine 20%ige Versehrtenrente als Dauerrente. Grundlage dieser Entscheidung waren neurologische und unfallchirurgische Gutachten (vom 21. 2. bzw 26. 2. 2006), aus denen sich die von den Tatsacheninstanzen im Einzelnen festgestellten medizinischen Beschwerdebilder (aus neurologischer bzw unfallchirurgischer Sicht) ergaben (Seite 2 f der Berufungsentscheidung).

Mit Bescheid vom 24. 6. 2008 entzog die beklagte Partei der Klägerin die 20%ige Versehrtenrente als Dauerrente ab dem 1. 8. 2008.

Die dagegen erhobene Klage ist auf Zuerkennung der 20%igen Versehrtenrente als Dauerrente auch über den 31. 7. 2008 hinaus gerichtet.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren (auch im zweiten Rechtsgang) statt.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. In den weiteren (neben den bereits erwähnten) dazu getroffenen Feststellungen wurden auch die ab dem 1. 8. 2008 bei der Klägerin bestehenden medizinischen Beschwerdebilder detailliert festgehalten. Ab dem 1. 8. 2008 ist demnach aus unfallchirurgischer Sicht unter Einbeziehung des neurologischen Kalküls - eine MdE von 15 % gegeben (seit den der 20%igen Rentengewährung zugrundeliegenden Befunden hat sich am Zustands-, Verletzungs- und Beschwerdebild der Klägerin „nicht Wesentliches“ verändert) und aus neurologischer Sicht liegt eine MdE von 10 % vor (im Vergleich zu dem für die Zuerkennung der 20%igen Dauerrente maßgeblichen Zustand ist es ebenfalls zu keiner „wesentlichen Änderung“ gekommen).

Darüber hinaus wurden (im Ersturteil disloziert) folgende weitere Feststellungen zu den im Zustand der Klägerin ab 1. 8. 2008 gegebenen Verbesserungen getroffen:

- eine Besserung ist insoweit eingetreten, als der Umfang der (linken) Wade der Klägerin wieder (um 2 cm) zugenommen hat, sodass der Umfang beider Waden wieder gleich ist;

- der Klägerin ist zwar zwischenzeitlich ein Einbeinstand und das Einbeinhüpfen möglich, dieser Umstand ist für die Ausmessung der MdE aber unerheblich;

- es besteht zwar (im Vergleich zum unfallchirurgischen Vorgutachten) kein Unterschied in den Funktionszuständen, wohl aber ist unter Berücksichtigung der Gewöhnung der Klägerin an die Beeinträchtigung und aufgrund der Tatsache, dass eine schmerzhafte Versteifung des Sprunggelenks - von Anfang an - nicht vorlag, eine MdE von nicht mehr 20 %, sondern nur mehr 15 % gegeben .

Rechtlich führte das Berufungsgericht im Wesentlichen (Punkt 3.3 und 4. der Berufungsentscheidung) aus, die festgestellten Veränderungen bewirkten tatsächlich keine wesentliche [Veränderung der] Zustands-, Verletzungs- und Beschwerdesymptomatik der Klägerin, auch nicht in unfallchirurgischer Hinsicht. Lediglich die Beurteilung der Veränderungen insgesamt unter Einschluss der Anpassung und Gewöhnung hätten den Sachverständigen bewogen, mittlerweile eine unfallchirurgische MdE von 15 % statt 20 % einzuschätzen. Wenn das Erstgericht auf dieser Grundlage davon ausgegangen sei, dass keine tatsächliche funktionsbezogene und kausale Zustandsänderung im Verletzungs- und Beschwerdebild der Klägerin vorliege, „jedenfalls aber keine so schwerwiegende“, dass dadurch tatsächlich eine Veränderung ihrer Leistungsfähigkeit bezogen auf den allgemeinen österreichischen Arbeitsmarkt und die bestehende MdE bezogen auf den abstrakten österreichischen Arbeitsmarkt vorliege, sei darin keine rechtliche Fehlbeurteilung zu erblicken.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klageabweisenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen bzw ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil die Vorinstanzen von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur „wesentlichen“ Änderung der Verhältnisse iSd § 183 Abs 1 ASVG abgewichen sind; sie ist auch berechtigt.

Die beklagte Partei macht geltend, im vorliegenden Fall seien entgegen den nicht zutreffenden Entscheidungen der Vorinstanzen auch „kleine Änderungen“ des Sachverhalts relevant, weil es sich um eine „Schwellenwertrente“ von 20 % der Vollrente nach § 203 ASVG handle. Der Anspruch falle demnach bereits bei einem Absinken des Grades der MdE „um 1 %“ weg; bei dem nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs anzustellenden Sachverhaltsvergleich ergebe sich bei einem nicht mehr rentenbegründenden Grad der Erwerbsminderung nämlich auch eine anspruchsverändernde Änderung des Sachverhalts.

Diesen Ausführungen kommt im Ergebnis Berechtigung zu.

1. Nach § 183 Abs 1 Satz 1 und 2 ASVG hat der Unfallversicherungsträger bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse, die für die Feststellung einer Rente maßgebend waren, auf Antrag oder von Amts wegen die Rente „neu festzustellen“ (zu erhöhen, herabzusetzen oder zu entziehen). Als wesentlich gilt eine Änderung der Verhältnisse nur, wenn durch sie die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch mehr als drei Monate um mindestens 10 vH geändert wird, durch die Änderung ein Rentenanspruch entsteht oder wegfällt (§§ 203, 210 Abs 1 ASVG) oder die Schwerversehrtheit entsteht oder wegfällt (§ 205 Abs 4 ASVG).

1.1. Die Bestimmung des § 183 ASVG regelt die Neufeststellung der Versehrtenrente und stellt für diesen Bereich bezüglich der Entziehung eine Sonderbestimmung gegenüber § 99 ASVG dar (RIS-Justiz RS0109336; 10 ObS 163/09g).

1.2. Zum Vergleich dafür, ob eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist, ist der Tatsachenkomplex heranzuziehen, der jener Entscheidung zugrunde lag, deren Rechtskraftwirkung bei unveränderten Verhältnissen einer Neufeststellung der Rente im Wege stünde (stRsp; RIS-Justiz RS0084151 = SSV-NF 23/78).

1.3. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse kann dabei unter anderem in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen Zustandes, im Abklingen akuter Symptome oder in der Gewöhnung oder Anpassung an den Leidenszustand liegen (stRsp; RIS-Justiz RS0084226 [T3]; 10 ObS 127/07k = SSV-NF 21/76; 10 ObS 188/04a = SSV-NF 20/13).

2. Wie die außerordentliche Revision zutreffend aufzeigt, steht dazu im vorliegenden Fall fest, dass sich zwar seit den der 20%igen Rentengewährung zugrundeliegenden Befunden am Zustands-, Verletzungs- und Beschwerdebild der Klägerin (auch unfallchirurgisch) nichts Wesentliches verändert hat; es wurde jedoch die MdE (unfallchirurgisch mit Einbeziehung des neurologischen Kalküls) aufgrund der Anpassung und Gewöhnung an die Beeinträchtigungen ab dem 1. 8. 2008 nicht mehr mit 20 % sondern nur noch mit 15 % festgestellt.

2.1. Zu Recht macht die Revision daher geltend, im vorliegenden Fall sei - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts - auch diese Änderung des Sachverhalts relevant, weil es sich um eine „Schwellenwertrente“ von 20 % der Vollrente nach § 203 ASVG handle, sodass der Anspruch auch schon bei einem geringfügigen Absinken des Grades der MdE - hier um 5 % - wegfallen könne: Im Fall eines mittlerweile gar nicht mehr rentenbegründenden Grades der Erwerbsminderung liegt nämlich bei dem nach den dargestellten Grundsätzen anzustellenden Vergleich der Verhältnisse zum Zeitpunkt des Gewährungsbescheides mit denen zum Zeitpunkt der Entziehung (RIS-Justiz RS0084226) eine - jedenfalls - gemäß § 183 Abs 1 Satz 2 zweiter Fall ASVG „wesentliche“ und schon aus diesem Grund für die Entziehung der Rente maßgebliche Änderung des Sachverhalts vor.

In Stattgebung der Revision der beklagten Partei ist daher spruchgemäß zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Berücksichtigungswürdige Umstände, die einen ausnahmsweisen Kostenzuspruch nach Billigkeit an die unterlegene Klägerin im Sinne dieser Gesetzesstelle rechtfertigen könnten, wurden nicht geltend gemacht und sind auch nicht ersichtlich.

Rechtssätze
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