JudikaturJustiz10ObS122/00i

10ObS122/00i – OGH Entscheidung

Entscheidung
23. Mai 2000

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Steinbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Hübner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Gerd Swoboda (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Josef L*****, Beamter, ***** vertreten durch Dr. Hans Otto Schmidt, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. Februar 2000, GZ 9 Rs 340/99g-16, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 3. September 1999, GZ 5 Cgs 78/99h-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Mit Bescheid vom 23.3.1999 wurde die Erkrankung, die sich der am 15.3.1940 geborene Kläger als freiwilliger Blutplasmaspender zugezogen hat, gemäß § 176 Abs 1 Z 2 ASVG iVm §§ 176 Abs 2 und 177 ASVG als Berufskrankheit (Nr 38 der Anlage 1 zum ASVG: "Infektionskrankheiten") anerkannt und der Zeitpunkt des Eintrittes des Versicherungsfalls mit 12.7.1996 festgestellt, die Gewährung einer Versehrtenrente jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass die chronische Infektion mit dem Hepatitis C Virus keine Minderung der Erwerbsfähigkeit im entschädigungspflichtigen Ausmaß - wenigstens 20 vH - bedinge.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene Klagebegehren auf Zahlung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß ab. Es stellte fest, der Kläger leide an einer Hepatopathie (Lebererkrankung) bei chronisch aktiver Hepatitis C ohne Hinweis auf Zirrhose-Entwicklung und einem Zustand nach Strumektomie. Der Kläger sei derzeit infektiös, die Leberfunktionsparameter seien geringgradig erhöht. "Bezogen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt und auf die spezielle Berufstätigkeit des Klägers als Wirtschaftsunteroffizier" bestehe derzeit keine Minderung der Erwerbsfähigkeit. Lediglich bei Durchführung der empfohlenen Therapie (zB mit Interferon) könnte auf Grund von Nebenwirkungen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit auftreten.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, der Kläger habe keinen Anspruch auf Versehrtenrente, weil dafür nach § 203 Abs 1 ASVG seine Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 vH vermindert sein müsste.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es übernahm die erstinstanzlichen Feststellungen als Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens und hielt der Rechtsrüge entgegen, allfällige psychische Folgen der Erkrankung wie auch eine nicht 100%ig ausschließbare cirrhotische Entwicklung seien "nicht Gegenstand der Feststellungen des Erstgerichtes".

Mit der auf den Revsisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützten Revision beantragt der Kläger die Abänderung im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Die Revision ist im Ergebnis im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die Versehrtenrente wird nach dem Grade der durch den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit herbeigeführten Minderung der Erwerbsfähigkeit (in der Folge kurz: MdE) bemessen (§ 205 Abs 1 ASVG). Nach § 203 Abs 1 ASVG besteht Anspruch auf Versehrtenrente, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch die Folgen eines Arbeitsunfalles oder einer Berufskrankheit über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles hinaus um mindestens 20 von 100 vermindert ist. Wie der Senat wiederholt ausgeführt hat, ist der Grad der MdE grundsätzlich abstrakt nach dem Umfang aller verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, also auch selbständiger Tätigkeiten zu beurteilen und in Beziehung zu allen Erwerbsmöglichkeiten - und nicht nur den tatsächlich genützten - zu setzen. Unter dem Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 203 ASVG ist nämlich die Fähigkeit zu verstehen, sich im Erwerbsleben einen regelmäßigen Erwerb durch selbständige oder unselbständige Arbeit zu verschaffen (SSV-NF 7/130 mwN). Der Senat hat daran festgehalten, dass Grundlage zur Annahme der MdE regelmäßig ein ärztliches Gutachten über die Unfallsfolgen oder die Folgen der Berufskrankheit und deren Auswirkungen ist. Diese medizinische MdE, die auch auf die Verhältnisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Bedacht nimmt, ist im Allgemeinen auch die Grundlage für die

rechtliche Einschätzung der MdE (StR seit SSV-NF 1/64 = SZ 60/262 =

JBl 1988, 259 = DRdA 1989, 128; SSV-NF 7/52; 7/127; 7/130; 9/26; 9/78

uva). Dabei kommt den in Jahrzehnten entwickelten und angewendeten Richtlinien über die Bewertung der MdE bei Unfallverletzten als maßgebliche Grundlage eine große Bedeutung zu. Diese Richtlinien berücksichtigen nicht nur die fortschreitende medizinische Entwicklung, sondern auch die Verhältnisse auf dem Gebiet des allgemeinen Arbeitsmarktes, sodass den veränderten Anforderungen an den arbeitenden Menschen Rechnung getragen wird. Die medizinische Einschätzung, die sich dieser Richtlinien bedient, berücksichtigt auf diese Weise auch die Auswirkung einer Unfallverletzung auf die Einsatzmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die ärztliche Einschätzung, die unter Berücksichtigung dieser Komponenten erfolgt, bildet aber nicht die alleinige Grundlage der gerichtlichen Entscheidung. Dem Gericht bleibt vielmehr auch die Aufgabe, aufgrund des Befundes, der Beurteilung und der Antworten auf die an den medizinischen Sachverständigen gestellten Fragen nach dem Ausmaß der MdE nachzuprüfen, ob diese Schätzung zutreffen kann, oder ob dabei wichtige Gesichtspunkte nicht berücksichtigt wurden und ein Abweichen von dieser ärztlichen Schätzung zur Vermeidung unbilliger Härten geboten ist. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt aber in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben zwar keine verbindliche Wirkung, sie sind aber, weil ein enger Zusammenhang zwischen den ärztlich festgestellten Funktionseinbußen und der Einschätzung der MdE besteht, eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Entscheidung, dies vor allem, soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Bei der Beurteilung der MdE sind aber auch die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und -medizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar im Einzelfall ebenfalls nicht bindend sind, aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der MdE in zahlreichen Parallelverfahren der täglichen Praxis bilden. Diese herausgebildeten Erfahrungswerte sind in Form von "Rententabellen" zusammengefasst und dienen als Anhaltspunkte für die Einschätzung der MdE im Einzelfall (10 ObS 50/99x; 10 ObS 73/99d; RIS-Justiz RS0088972; vgl Burchardt in Brackmann, Handbuch der SV, Band 3/1, Rz 69 ff zu § 56 SGB VII; Krösl-Zrubecki, Die Unfallrente4 10 f; Kranig in Hauck, SGB VII 3. Lfg Rz 38 zu § 56 unter Hinweis auf die vergleichbare deutsche Praxis).

Der Oberste Gerichtshof hält an dieser Auffassung fest und ergänzt sie zusammenfassend durch folgende Erwägungen:

Die Beantwortung der Frage, in welchem Grad die Erwerbsfähigkeit gemindert ist, ist eine tatsächliche Feststellung. Bei der Ermittlung der MdE sind dabei vor allem zwei Faktoren von Bedeutung: Der medizinisch festzustellende Umfang der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens durch die Folgen des Versicherungsfalls einerseits und der Umfang der dem Verletzten (Erkrankten) dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens andererseits. Bei Berufskrankheiten richtet sich die MdE - ähnlich wie bei Unfallfolgen - einerseits nach der Schwere des noch vorhandenen akuten Krankheitszustandes und andererseits nach dem Umfang der dem Erkrankten verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Auch die Bewertung der durch eine Berufskrankeit bedingten MdE muss aber nicht stets in einem dreistufigen Verfahren erfolgen; vielmehr hat sich auch hier im Laufe der Zeit für eine vereinfachte Beurteilung der MdE ein "Gerüst von MdE-Werten" herausgebildet, die als ständige Übung Beachtung beanspruchen können (Burchardt aaO Rz 67, 68 mit Hinweisen auf die Judikatur des deutschen BSG). So wurde insbesondere auch für die im vorliegenden Fall bedeutsame Virushepatitis in der deutschen Praxis ein MdE-Bewertungsschema ermittelt (Schönberger/Mehr- tens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit,

5. Aufl. 658; ähnlich Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 500, 29; vgl auch Ricke im Kasseler Kommentar Bd 2, Rz 54 zu § 56 SGB VII). Unter Einbeziehung der bisherigen Erfahrungssätze für die MdE-Einschätzung, die im Wesentlichen auf der Einteilung in eine chronisch persistierende Hepatitis und eine chronisch aggressive Hepatitis beruhten, orientiert sich das neurere Schema (Schönberger/Mehrtens/Valentin 6. Aufl. 732 f) an quantitativen Bewertungen von entzündlicher Aktivität und morphologischem Stadium (Ausmaß der Fibrose), wobei die Möglichkeit einer individuell begründeten modifizierten Bewertung etwa unter Berücksichtigung des klinischen Befindens, der serologischen und molekularbiologischen Befunde, der Transaminasen-Aktivitäten oder der aktuellen Beeinflussung durch therapeutische Maßnahmen offen steht.

Die im vorliegenden Fall getroffenen Feststellungen reichen jedoch nicht aus, um nachprüfen zu können ob die medizinische Einschätzung der MdE des Klägers (mit Null) zutrifft, ob und inwiefern das oben dargestellte übliche Bewertungsschema (oder welches andere) herangezogen wurde und ob dabei alle wichtigen Gesichtspunkte berücksichtigt wurden. Es fehlt aber auch jede Aussage darüber, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Klägers durch die Folgen seiner Erkrankung beeinträchtigt sind. Während etwa die Beeinträchtigungen durch den unfallbedingten Verlust eines Gliedmaßen auch einem medizinischen Laien offenkundig sein können, ist dies hinsichtlich der Auswirkungen einer Infektionskrankheit wie die Virushepatitis C nicht von vornherein der Fall. Hier wird es daher nach Ansicht des Senates ausnahmsweise doch des oben beschriebenen dreistufigen Verfahrens bedürfen, also der Feststellung zunächst der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens des Klägers durch die Berufskrankheit, dann aber auch des Umfangs der ihm dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, und erst dann des Grades der MdE. Wenn der Kläger schon in seiner Berufung unter anderem auf die nicht erhobenen psychischen Folgen seiner Erkrankung sowie auf Ermüdungs- und Erschöpfungserscheinungen hinwies, machte er damit der rechtlichen Beurteilung zuzuordnende Feststellungsmängel geltend; die Annahme des Berufungsgerichtes, seine Rechtsrüge sei deshalb nicht gesetzmäßig ausgeführt worden, weil die psychischen Folgen "nicht Gegenstand der Feststellungen des Erstgerichtes" gewesen seien, ist daher verfehlt und wird vom Revisionswerber mit Recht bemängelt.

Was die vom Kläger befürchtete zukünftige zirrhotische Entwicklung betrifft, ist ihm Folgendes zu erwidern: Es kommt grundsätzlich auf die Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens im Zeitpunkt der Feststellung der MdE an. Erst künftig möglicher Weise eintretende Schäden haben deshalb grundsätzlich unberücksichtigt zu bleiben. Daher kann ein ungewisses für die Zukunft nicht auszuschließendes Risiko, wegen des Vorliegens einer Berufskrankheit an einem anderen Leiden (etwa an Krebs) zu erkranken, bei der Schätzung der MdE nicht berücksichtigt werden (Burchardt aaO Rz 82 mwN).

Da für die rechtliche Beurteilung wesentliche Fragen ungeklärt blieben, waren die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Ergänzung des Verfahrens aufzuheben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

Rechtssätze
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