JudikaturBVwG

W275 2289313-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
04. März 2025

Spruch

W275 2289313-1/7E

W275 2289312-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Stella VAN AKEN als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1. XXXX , geboren am XXXX , und 2. XXXX , geboren am XXXX , beide Staatsangehörigkeit Somalia, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen die Spruchpunkte I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.02.2024, Zahlen 1. 1357086006/231163675 und 2. 1357084001/231163433, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG (jeweils) nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die Erstbeschwerdeführerin reiste mit dem minderjährigen Zweitbeschwerdeführer illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 18.06.2023 Anträge auf internationalen Schutz.

Am selben Tag wurde die Erstbeschwerdeführerin vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt und gab zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass sie von ihrem Ex-Man misshandelt und geschlagen worden sei. Sie habe Narben erlitten und er habe sie sogar umbringen wollen. Der minderjährige Zweitbeschwerdeführer habe keine eigenen Fluchtgründe.

Am 15.02.2024 fand die niederschriftliche Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. Im Zuge dessen gab die Erstbeschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, in ihrer Kindheit mehrmals von ihrem Onkel und dessen Frau geschlagen sowie misshandelt worden zu sein. Ihr Onkel habe sie in der achten Klasse zwangsverheiratet; auch der Ehemann habe sie geschlagen. Sie habe Somalia schlussendlich aufgrund ihrer letzten Schwangerschaft verlassen. Die Erstbeschwerdeführerin hielt überdies fest, dass der minderjährige Zweitbeschwerdeführer keine eigenen Fluchtgründe habe.

Mit Bescheiden vom 23.02.2024 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkte I.), erkannte ihnen gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bzw. § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkte II.) und erteilte ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 befristete Aufenthaltsberechtigungen für ein Jahr (Spruchpunkte III.).

Gegen die Spruchpunkte I. dieser Bescheide wurden fristgerecht Beschwerden erhoben.

Am 12.02.2025 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in welcher die Erstbeschwerdeführerin zu ihren persönlichen Lebensumständen sowie zu ihren Fluchtgründen und jenen des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers befragt wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu den Beschwerdeführern:

Die Beschwerdeführer führen die im Kopf dieser Entscheidung genannten Namen und Geburtsdaten. Sie sind Staatsangehörige von Somalia. Die Erstbeschwerdeführerin bekennt sich zur Religionsgemeinschaft des Islam. Die Erstsprache der Beschwerdeführer ist Somali; die Erstbeschwerdeführerin beherrscht diese in Wort und Schrift.

Die Erstbeschwerdeführerin gehört dem Clan der XXXX Sub-Clan XXXX , an, der minderjährige Zweitbeschwerdeführer gehört dem Clan der Isaaq an. Die Erstbeschwerdeführerin ist mit dem Vater des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers verheiratet.

Die Erstbeschwerdeführerin ist in Dschidda (auch Jeddah; Saudi-Arabien) geboren und in Hargeysa (Somaliland; Somalia) aufgewachsen. In Somalia hat sie etwa acht Jahre die Schule besucht und nicht gearbeitet. Die Erstbeschwerdeführerin lebte in Hargeysa mit ihrem Ehemann und dem in Hargeysa geborenen minderjährigen Zweitbeschwerdeführer in einem gemeinsamen Haushalt. Der Ehemann und die Schwiegereltern der Erstbeschwerdeführerin leben ebenso wie ihre drei Onkel und zwei Tanten in Somalia; die Erstbeschwerdeführerin hat Kontakt zu einem ihrer Onkel. Der derzeitige Aufenthaltsort der Eltern der Erstbeschwerdeführerin sowie allenfalls weiterer Kinder der Erstbeschwerdeführerin kann nicht festgestellt werden.

Die Beschwerdeführer reisten illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo die Erstbeschwerdeführerin am 18.06.2023 für sich und den minderjährigen Zweitbeschwerdeführer jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.02.2024 wurde ihnen in Österreich subsidiärer Schutz in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Somalia zuerkannt und befristete Aufenthaltsberechtigungen erteilt.

Die Beschwerdeführer sind im Wesentlichen gesund; die Erstbeschwerdeführerin ist arbeitsfähig.

Die Erstbeschwerdeführerin ist in Österreich strafrechtlich unbescholten, der minderjährige Zweitbeschwerdeführer ist strafunmündig.

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Die Erstbeschwerdeführerin war bzw. ist in Somalia keiner (asylrelevanten) Bedrohung bzw. Verfolgung durch ihren Ehemann oder ihren Onkel und dessen Frau ausgesetzt.

Die Erstbeschwerdeführerin wurde im Kindesalter Opfer einer Genitalverstümmelung. Ihr droht bei einer Rückkehr nach Somalia keine weitere Genitalverstümmelung gegen ihren Willen.

Der minderjährige Zweitbeschwerdeführer ist in Somalia keiner (asylrelevanten) Bedrohung bzw. Verfolgung ausgesetzt.

Das Vorliegen anderer Verfolgungsgründe aufgrund von Religion, Nationalität, politischer Einstellung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder ethnischer Zugehörigkeit wurde nicht konkret vorgebracht; Hinweise für eine solche Verfolgung sind auch amtswegig nicht hervorgekommen.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Somalia:

Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zu Somalia (Version 7, Stand 16.01.2025):

Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten

Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen (ACLED 2023). Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, wird die Lage über die Kontrolle geringer Teilgebiete von Puntland von al Shabaab beeinflusst (und in noch geringeren Teilen vom sogenannten Islamischen Staat in Somalia), während es hauptsächlich an Clandifferenzen liegt, wenn Puntland tatsächlich keinen Zugriff auf gewisse Gebiete hat. In Süd-/Zentralsomalia ist die Situation noch viel komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (BMLV 7.8.2024).

Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 sind Hargeysa, Berbera, Burco, Garoowe und – in gewissem Maße – Dhusamareb sichere Städte. Alle anderen Städte variieren demnach von einem Grad zum anderen. Auch Kismayo selbst ist sicher, aber hin und wieder gibt es Anschläge. Bossaso ist im Allgemeinen sicher, es kommt dort aber zu gezielten Attentaten. Dies gilt auch für Galkacyo (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer weiteren Quelle sind auch Baidoa, Jowhar und Belet Weyne diesbezüglich innerhalb des Stadtgebietes wie Kismayo zu bewerten (BMLV 7.8.2024). Laut einer anderen Quelle sind alle Hauptstädte der Bundesstaaten relativ sicher (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023).

Somaliland

Somaliland hat im Vergleich zu anderen Teilen Somalias das größte Maß an Sicherheit, Stabilität und Entwicklung erreicht (AA 23.8.2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Das Land ist ein Leuchtturm relativen Friedens am Horn von Afrika (Cannon/Conversation 22.11.2024). Die Situation dort ist wesentlich besser als in Süd-/Zentralsomalia, die Sicherheitslage ist weitgehend stabil (ÖB Nairobi 10.2024). Eine Quelle der FFM Somalia 2023 erklärt dazu, dass Somaliland viele Fortschritte gemacht hat, dass Peacebuilding, Versöhnung und Staatsaufbau zu den großen Erfolgen gehören, die das Land erzielt hat (INGO-V/STDOK/SEM 5.2023). Bereits in den 1990er-Jahren wurde ein erfolgreicher Versöhnungsprozess abgeschlossen, der die Grundlage für die unabhängige und vergleichsweise erfolgreiche Staatsbildung bildete. Der Frieden in Somaliland bleibt jedoch laut einer Quelle fragil (BS 2024). Eine andere Quelle erklärt, dass Somaliland stabil, das politische System aber - aufgrund des Drei-Parteien-Systems - problembehaftet ist. Eine Fragilität ist demnach jedoch nicht zu erkennen, auch wenn politische Streitigkeiten mitunter zu Gewalt führen können (BMLV 7.8.2024). Eine weitere Quelle sieht in Somaliland - abseits des Konflikts um Laascaanood - ein Bollwerk gegen extremistische Bedrohungen, v. a. gegen al Shabaab (Sahan/SWT 14.2.2024).

Die Regierung kann die meisten der eigenen Gebiete regieren und dort Vorhaben umsetzen. Nur das Randgebiet zu Puntland und einige sehr entlegene ländliche Gebiete sind davon ausgenommen (BS 2024). Nach anderen Angaben endet die Kontrolle durch Somaliland etwa in der Mitte der Region Sanaag; in der Region Sool bei Oog; und auch das Gebiet Cayn in Togdheer wird demnach nicht von Somaliland kontrolliert (PGN 28.6.2024), wiewohl sich der Großteil von Togdheer unter Kontrolle Somalilands befindet. Die Regionen Woqooyi Galbeed und auch die Region Awdal werden zur Gänze von Somaliland kontrolliert - auch wenn der sogenannte "Awdal State" in letzter Zeit hie und da in Erscheinung tritt (BMLV 7.8.2024). Anders ausgedrückt kontrolliert die Regierung den Westen des Landes zu 100 %; im Osten wird ihr Anspruch teilweise herausgefordert (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Die Sicherheitskräfte können außerhalb der Regionen Sool und Sanaag in einem vergleichsweise befriedeten Umfeld ein höheres Maß an Sicherheit im Hinblick auf terroristische Aktivitäten und allgemeine Kriminalität herstellen als in anderen Landesteilen. Dies gilt insbesondere für die Regionen Awdal und Woqooyi Galbeed mit den Städten Hargeysa und Berbera (AA 3.6.2024).

Laut Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 muss niemand aufgrund einer vorgeblich schlechten Sicherheitslage den Westen Somalilands verlassen, während im Osten des Landes Blutfehden einen Grund darstellen könnten. Die meisten Migranten verlassen das Land demnach aber auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Bei Frauen kann auch FGM oder eine bevorstehende Zwangs- oder Frühehe ein Grund sein (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023).

Städte: Hinsichtlich Hargeysa gibt es keine Sicherheitsprobleme. Die Kriminalitätsrate ist relativ niedrig. Wenn es zu einem Mord kommt, dann handelt es sich üblicherweise um einen gezielten Rachemord auf der Basis eines Clankonflikts (BMLV 7.8.2024). Die Diaspora investiert in der Stadt (Economist/L. Taylor 29.8.2024). Eine Quelle der FFM Somalia 2023 gibt an, dass manche Menschen Hargeysa als deutlich sicherer erachten als Nairobi. Die Mitarbeiter der Quelle können sich in Hargeysa jedenfalls frei bewegen. Auch in Berbera ist die Sicherheitslage demnach gut, die Stadt unproblematisch (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). Auch eine weitere Quelle erklärt, dass Hargeysa und Berbera sichere Städte sind (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Auch Burco ist relativ ruhig (BMLV 7.8.2024), gemäß Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 ist diese Stadt sicher (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer anderen Quelle ist die Sicherheit dort hingegen nicht gleich gut wie in Hargeysa (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). Eine weitere Quelle erklärt, dass hinsichtlich der Städte Borama, Hargeysa, Berbera und Burco das größte Sicherheitsrisiko ein Verkehrsunfall ist (Omer/STDOK/SEM 4.2023). Eine andere Quelle gibt an, dass in diesen vier Städten - und in den größeren Städten generell - Rechtsstaatlichkeit herrscht. Die Behörden gewährleisten dort demnach die Sicherheit der Bevölkerung, es gibt keine großen Probleme mit Raub oder Mord. Generell ist Kriminalität kein großes Problem im täglichen Leben (INGO-V/STDOK/SEM 5.2023). Gemäß einer anderen Quelle stellen Jugendbanden in Hargeysa immer noch ein Problem dar, genauso wie Kleinkriminalität. Es gibt Arbeitslosigkeit und auch Drogenkonsum (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). In der Kriminalstatistik der somaliländischen Polizei für das Jahr 2022 finden sich 27.801 registrierte Delikte. In 5.565 dieser Fälle wurden die Ermittlungen aus Mangel an Beweisen eingestellt, 11.320 wurden in gegenseitigem Einverständnis gelöst, 10.916 vor Gericht abgehandelt und entschieden und 540 befinden sich noch in Untersuchung. Im Jahr 2022 wurden 266 Vergewaltigungen angezeigt, diesbezüglich gab es 280 Beschuldigte. Davon wurden 240 gefasst. Außerdem wurden 60 Personen ermordet, 49 Mörder wurden verhaftet, auf elf Verdächtige laufen Haftbefehle (SD 4.11.2022). Im Jahr 2021 hatte es 89 Morde gegeben, 84 Verdächtige wurden in Haft genommen (SD 4.11.2021).

In Somaliland sind im Jahr 2024 bis inklusive August aufgrund von Konflikt und Unsicherheit kaum Menschen vertrieben worden: 1.000 in Sool, 400 in Togdheer, 200 in Sanaag und keine in der Hauptstadtregion Woqooyi Galbeed sowie in Awdal (UNHCR 2024). Im Jahr 2023 waren es noch 232.000 Vertriebene (UNHCR 2023). [Anm.: Nahezu alle Vertriebenen standen damals in Zusammenhang mit dem Konflikt um Laascaanood.]

Al Shabaab konnte in Somaliland nicht Fuß fassen (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. JF 18.6.2021). Die Gruppe kontrolliert keine Gebiete in Somaliland (AA 23.8.2024), und es gibt dort auch keine signifikanten Aktivitäten von al Shabaab. Die Gruppe kann dort auch keine "Steuern" einheben (BMLV 7.8.2024).

Mehrere Quellen der FFM Somalia 2023 geben an, dass es seit 2008 keine relevanten terroristischen Angriffe gegeben hat (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. MAIO-G/STDOK/SEM 4.2023; INGO-V/STDOK/SEM 5.2023). Somaliland hat bemerkenswerte Kapazitäten aufgebaut. Durch die Glaubwürdigkeit der bestehenden Institutionen entstand Vertrauen der Öffentlichkeit in die Verwaltung. Dies wiederum erschwert al Shabaab ihre Operationen (Schwartz/HO 12.9.2021). Neben formellen nachrichtendienstlichen Netzen gibt es ein informelles Netz an Nachbarschaftswachen (BMLV 9.2.2023). Die Regierung setzt auf Älteste, lokale Behördenvertreter und besorgte Bürger; und darauf, dass diese verdächtige Aktivitäten und Neuankömmlinge bei der Polizei oder beim Geheimdienst melden (JF 18.6.2021). Dementsprechend werden terroristische Pläne immer wieder durch Sicherheitskräfte vereitelt und Operateure der al Shabaab verhaftet (Weiss/FDD 11.8.2021), bzw. von Personen, die der Tätigkeit für al Shabaab verdächtigt werden (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. MAIO-G/STDOK/SEM 4.2023) - z. B. sieben Verhaftungen im Jänner 2024 (Halqabsi 29.1.2024). Und als etwa im November 2019 Kämpfer der al Shabaab aus Puntland in die Garof-Berge im Osten der Region Sanaag vordrangen, wurde dies rasch gemeldet. In der Folge gelang es einer lokalen Miliz und ausgewählten Armee- und Polizeieinheiten, al Shabaab zu vertreiben. Ähnliche Vorgänge haben sich Mitte 2021 wiederholt, auch damals wurde der Vorstoß eingedämmt. Wenn also al Shabaab Orte in Sanaag aufsucht, dann kommt es mitunter zu Predigten; i.d.R. ziehen sich Angehörige der Gruppe dann aber schnell wieder in die Berge zurück (BMLV 7.8.2024).

Eine Quelle der FFM Somalia 2023 erklärt, dass man in Somaliland vor al Shabaab einigermaßen sicher ist. Auch wenn es ggf. zu Drohungen kommen kann, mangelt es der Gruppe dort an Kapazitäten und Personal, al Shabaab kann nicht agieren (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Eine andere Quelle bestätigt dies (BMLV 7.8.2024). Eine andere Quelle der FFM gibt an, dass Hargeysa von al Shabaab möglicherweise als sicherer Hafen genutzt wird (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Die Gruppe verfügt über eine Präsenz, wird aber nicht aktiv (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. MAEZA/STDOK/SEM 4.2023), stellt keine Regeln auf und errichtet keine Checkpoints (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Eine Quelle erklärt, dass auch Verfolgungshandlungen von al Shabaab gegen Personen in Somaliland generell unbekannt sind (BMLV 7.8.2024). Es konnten in den konsultierten Quellen keine Informationen gefunden werden, wonach Deserteure von al Shabaab in Somaliland gefährdet wären.

Der Nachrichtendienst von al Shabaab (Amniyat) verfügt in Somaliland über ein Netzwerk an Informanten bzw. unterhält die Gruppe in größeren Städten Schläferzellen. Die Grenzgebiete zu Puntland sind für eine Infiltration durch al Shabaab anfällig. Dort versucht die Gruppe, lokale Clans, die sich von der Regierung diskriminiert fühlen, für sich zu gewinnen (BMLV 7.8.2024). Dies gilt etwa für die in Sanaag vorherrschenden Warsangeli. Im nordwestlichen Puntland ist dies der Gruppe teilweise gelungen. In Sanaag hingegen stellen sich lokale Milizen gegen al Shabaab (Weiss/FDD 12.9.2022). Trotzdem konnte al Shabaab in den letzten Jahren fast unmerklich in Somaliland vordringen - insbesondere in der Region Sanaag (ICG 10.11.2022). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 durchqueren Angehörige der Gruppe manchmal den Bezirk Ceerigaabo "in peaceful transit" – in Konvois, mit weißen Fahnen. Die lokalen Gemeinden akzeptieren al Shabaab, es kommt auch zu Eheschließungen (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Außerdem versucht al Shabaab, den SSC-Khatumo zu unterwandern. Gleichzeitig sind die Kämpfer der Gruppe in Sanaag eher darauf bedacht, sich nicht erwischen zu lassen (BMLV 7.8.2024).

Am 11.9.2022 ist es zu einem der äußerst seltenen Anschläge in Somaliland gekommen. Im Dorf Milxo (Sanaag, Bezirk Laasqoray) kamen fünf Menschen ums Leben, als ein Selbstmordattentäter in einem Teehaus einen Sprengsatz zündete. Niemand hat sich zu dem Anschlag bekannt, eine Täterschaft von al Shabaab wird lediglich vermutet (Weiss/FDD 12.9.2022). Generell hat die Gruppe angekündigt, aufgrund des sogenannten Maritime Agreement zwischen Somaliland und Äthiopien seine Aktivitäten in Somaliland verstärken zu wollen (Halqabsi 29.1.2024).

Clankonflikte bestehen wie überall in Somalia auch in Somaliland, und es kann zu Auseinandersetzungen und Racheakten kommen, die zivile Opfern fordern. Clankonflikte stellen aber kein Sicherheitsproblem dar, das die politische Stabilität der Region gefährdet (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. BMLV 7.8.2024). Derartige Konflikte konzentrieren sich zudem in den Regionen Sanaag und Sool (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. Omer/STDOK/SEM 4.2023; SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023; INGO-V/STDOK/SEM 5.2023) und sind i.d.R. lokal begrenzt (Omer/STDOK/SEM 4.2023). So bekämpfen sich beispielsweise die Isaaq-Clans der Habr Jeclo und Habr Yunis immer wieder in Ceel Afweyn (Sanaag) (Omer/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 können zwar Männer aus Ostsomaliland von anhaltenden Blutfehden betroffen sein; in Westsomaliland ist die Situation demnach aber anders (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023).

Den Behörden ist es gelungen, einen relativ wirksamen Schutz gegen Banden und Milizen zu gewährleisten (AA 23.8.2024). Üblicherweise werden Landstreitigkeiten auf traditionellem Wege geklärt - durch Älteste (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. Omer/STDOK/SEM 4.2023). Die Regierung greift auch in Clankonflikte ein, etwa im Bereich Balli Samatar (Togdheer), wo die Polizei gemeinsam mit Ältesten aufgrund gewalttätiger Auseinandersetzungen interveniert hat (SOCOM 24.9.2023). Bei einem anderen Beispiel, bei welchem im Umfeld von Burco fünf Menschen getötet und sechs verletzt worden sind, kam es zu einer Versöhnungskonferenz. Diese wurde von mehreren Ministern Somalilands geleitet (SLST 21.6.2023). I.d.R. folgt im Fall von Clankonflikten ein Aufruf der Regierung an die betroffenen Ältesten, eine Konfliktlösung herbeizuführen. Bei einer weiteren Eskalation schreiten Sicherheitskräfte ein, und die Regierung versucht, das Problem eigenständig zu lösen. Dieser Ansatz ist nicht immer erfolgreich (STDOK 8.2017). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 greift die Regierung in Konflikte hingegen nur dann ein, wenn sie selbst Interesse am Streitgegenstand hat (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer anderen Quelle greift die Regierung erst nach einer Eskalation über die lokale Ebene hinweg ein. Ansonsten setzt sie auf eine Regelung von Konflikten durch Älteste (BMLV 7.8.2024). Als Normalbürger betroffen ist man durch Clankonflikte v. a. hinsichtlich der Bewegungsfreiheit, weil man die Konfliktgebiete nicht bereisen kann. Grundsätzlich sind nur die involvierten Clans betroffen (Omer/STDOK/SEM 4.2023).

In der Region Awdal gibt es (wieder) Separatisten der Gadabursi, die entsprechenden Bestrebungen wurden von der Diaspora angezettelt. Es kommt zu kleineren Schießereien mit Vertretern des "Awdal State". Auch hier ist eine Eskalation unwahrscheinlich (BMLV 7.8.2024). Für diese Separatisten gibt es abseits der Diaspora keine Unterstützung der Gadabursi vor Ort (AQ21 11.2023; vgl. Omer/STDOK/SEM 4.2023; BMLV 14.9.2023). Diese sind seit Langem in das politische System Somalilands erfolgreich integriert (AQ21 11.2023).

Östliches Grenzgebiet: Die Grenze zu Puntland (AA 23.8.2024) bzw. die östlichen Teile der Regionen Sool und Sanaag sowie der Bezirk Buuhoodle (Togdheer) sind umstritten (BS 2024). Laut puntländischer Verfassung ist die gesamte Region Sool Teil Puntlands. Dies gilt auch für Sanaag (ohne den Bezirk Ceel Afweyn und den nordöstlichen Teil des Bezirks Ceerigaabo) sowie den Bezirk Buuhoodle in Togdheer (MBZ 6.2023). Entlang dieser Grenze gibt es ein Nebeneinander von puntländischen und somaliländischen Institutionen. Der Streifen reicht 30-50 km nach Somaliland hinein. Sowohl die Polizei als auch die Verwaltungen beider Seiten arbeiten dort Seite an Seite. Im Rahmen von Wahlen und Wählerregistrierung kommt es mitunter zu Spannungen, die sich üblicherweise wieder legen. Keine der Verwaltungen verfügt in diesen Gebieten über die absolute Kontrolle (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Nach den Auseinandersetzungen um Laascaanood bildet der SSC-Khatumo einen Puffer zwischen Somaliland und Puntland (BMLV 7.8.2024).

Vorfallszahlen: In den somaliländischen Regionen Awdal (571.230), Sanaag (325.136), Sool (478.265), Togdheer (780.092) und Woqooyi Galbeed (1.313.146) leben nach Angaben einer Quelle 3,467.869 Einwohner (IPC 13.12.2022). Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2022 insgesamt 22 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie "Violence against Civilians"). Bei 16 dieser 22 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2023 waren es 14 derartige Vorfälle (elf davon mit je einem Toten) (ACLED 12.1.2024). In der Zusammenschau von Bevölkerungszahl und Violence against Civilians ergeben sich für 2023 folgende Zahlen (Vorfälle von "Violence against Civilians" je 100.000 Einwohner): Awdal 0,18; Sanaag 1,23; Sool 1,46; Togdheer 0,13; Woqooyi Galbeed 0,08; [Anm.: Die Zahlen könnten noch um einiges niedriger sein, da manche Quellen für Somaliland eine viel höhere Bevölkerungszahl nennen. So geht BBC von 5,7 (BBC 2.1.2024) und al Jazeera oder der Economist von 6 Millionen Einwohnern aus (AJ 19.11.2024; vgl. Economist/L. Taylor 29.8.2024).]

Allgemeine Menschenrechtslage

Somaliland

In der Verfassung von Somaliland ist der Schutz der Menschenrechte ebenso verankert wie die prägende Rolle der Scharia als Rechtsquelle (AA 23.8.2024). In den Zentren von Somaliland herrscht im Wesentlichen Rechtsstaatlichkeit, und die Polizei und andere Behörden arbeiten halbwegs gut. In den abgelegen Gebieten des Landes sorgen lokale Autoritäten für Recht und Ordnung. In diesem Kontext werden die Rechte von Frauen und lokalen Minderheiten oft nur unzureichend gewährleistet (BS 2024).

Zu Somaliland liegen keine Erkenntnisse hinsichtlich extralegaler Tötungen oder systematischer Verfolgung sowie zu willkürlichen Festnahmen und Verschwindenlassen vor. Vorwürfe dieser Art werden nicht erhoben (AA 23.8.2024). Bei Human Rights Watch werden hinsichtlich Menschenrechtsproblemen in Somaliland für das Jahr 2023 die Kampfhandlungen um Laascaanood (siehe Konflikt um Laascaanood / Khatumo-SSC / Dhulbahante) sowie die Verhaftung eines Journalisten und dessen Verurteilung zu einem Jahr Haft genannt (HRW 11.1.2024). Quellen berichten, dass es immer wieder zu willkürlichen Verhaftungen und überlangem Gewahrsam ohne Anklage kommt (FH 2024a; vgl. HRCSL 3.2024). Immer wieder bringt die Polizei exzessiv Gewalt zum Einsatz (HRCSL 3.2024).

Minderheiten und Clans

Das westliche Verständnis der Zivilgesellschaft ist im somalischen Kontext irreführend, da kaum zwischen öffentlicher und privater Sphäre unterschieden wird. In ganz Somalia gibt es starke Traditionen sozialer Organisation außerhalb des Staates, die vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Verwandtschaftsgruppen fußen. Seit Beginn des Bürgerkriegs haben sich die sozialen Netzwerkstrukturen neu organisiert und gestärkt, um das Überleben ihrer Mitglieder zu sichern (BS 2024).

Clans: Der Clan ist die relevanteste soziopolitische und ökonomische Einheit in Somalia. Für den Somali stellt er die wichtigste Identität dar, für die es zu streiten und zu sterben gilt (NLM/Barnett 7.8.2023). Clans kämpfen für das einzelne Mitglied. Gleichzeitig werden alle Männer im Clan als Krieger erachtet (AQSOM 4 6.2024). Der Clan bildet aber eine volatile, vielschichtige Identität mit ständig wechselnden Allianzen (NLM/Barnett 7.8.2023). Er bestimmt das Leben des Individuums, seinen Zugang zu Sicherheit und Schutz, Ressourcen (z. B. Arbeit, Geschäfte, Land) und bildet das ultimative Sicherheitsnetz (AQSOM 4 6.2024; vgl. SPC 9.2.2022). Clanälteste dienen als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft. Sie werden nicht einfach aufgrund ihres Alters gewählt. Autorität und Führungsposition werden verdient, nicht vererbt. Ein Clanältester repräsentiert seine Gemeinschaft, ist ihr Interessensvertreter gegenüber dem Staat. Innerhalb der Gemeinschaft dienen sie als Friedensstifter, Konfliktvermittler und Wächter des traditionellen Rechts (Xeer). Bei Streitigkeiten mit anderen Clans ist der Clanälteste der Verhandler (Sahan/SWT 26.10.2022).

Clanwissen: Laut Experten gibt es bis auf sehr wenige Waisenkinder in Somalia niemanden, der nicht weiß, woher er oder sie abstammt (ACCORD 31.5.2021, S. 2f/37/39f). Das Wissen um die eigene Herkunft, die eigene Genealogie, ist von überragender Bedeutung. Dieses Wissen dient zur Identifikation und zur Identifizierung (Shukri/TEL 3.5.2021). Auch junge Menschen im urbanen Umfeld kennen ihren Clan, allerdings fehlen ihnen manchmal die Details - etwa zu Clanältesten. Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 betrifft dies tendenziell eher junge Frauen (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023).

Diskriminierung im Clanwesen: Diskriminierung steht in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke besitzen (AA 23.8.2024). Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt (BS 2024). Selbst relativ starke Clans können von einem lokalen Rivalen ausmanövriert werden, und es kommt zum Verlust der Kontrolle über eine Stadt oder eine regionale Verwaltung. Meist ist es die zweitstärkste Lineage in einem Bezirk oder einer Region, welche über die Verteilung von Macht und Privilegien am unglücklichsten ist (Sahan/SWT 30.9.2022). Gleichzeitig mag auf einer Ebene innerhalb eines Clans oberflächlich betrachtet Einheit herrschen, doch wenn man näher heranzoomt, treten Konflikte zwischen den unteren Clanebenen zutage (NLM/Barnett 7.8.2023).

Ohnehin marginalisierte Gruppen werden diskriminiert und stoßen auf Schwierigkeiten, ihr Recht auf Teilhabe an wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Prozessen wahrzunehmen (UNSOM 5.8.2023; vgl. BS 2024). Die Marginalisierung führt zu einer ungerechten und diskriminierenden Verteilung der Ressourcen (UNSOM 5.8.2023) - etwa beim Zugang zu humanitärer Hilfe (AA 23.8.2024). Menschen, die keinem der großen Clans angehören, sehen sich in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz (UNHCR 22.12.2021b, S. 56); und auch von Politik und Wirtschaft werden sie mitunter ausgeschlossen. Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten (BS 2024). Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung (UNHCR 22.12.2021b, S. 56). Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (UN OCHA 14.3.2022).

Recht: Die Übergangsverfassung und Verfassungen der Bundesstaaten verbieten die Diskriminierung und sehen Minderheitenrechte vor (UNHCR 22.12.2021b, S. 56). Weder Xeer (SEM 31.5.2017, S. 42) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren (SEM 31.5.2017, S. 42; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile (FIS 7.8.2020b, S. 21). Es kommt mitunter zu staatlicher Diskriminierung. So wurde beispielsweise in Mogadischu ein Strafprozess, bei welchem Rahanweyn und Bantu als Kläger gegen einen Polizeioffizier, der von einem großen Clan stammt, aufgetreten waren, vom Gericht ohne Weiteres eingestellt (Horn 6.5.2024).

Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans (SEM 31.5.2017, S. 31). Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen (Gashanbuur) einem anderen Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen (AQSOM 4 6.2024; vgl. DI 6.2019, S. 11). Diese Resilienzmaßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet (DI 6.2019, S. 11). Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das System des Xeer eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei (SEM 31.5.2017, S. 33). Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIFOS 1.7.2019, S. 14).

Netzwerke abseits von Clans: Die Mitgliedschaft in islamischen Organisationen und Verbänden gewinnt immer mehr an Bedeutung. Sie bietet eine Möglichkeit zur sozialen Organisation über Clangrenzen hinweg. Mit einer Mitgliedschaft kann eine "falsche" Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden. Zumindest in bestimmten Teilen Somalias entsteht auch eine Form von Sozialkapital unter Mitgliedern der jüngeren Generation, die biografische Erfahrungen und Interessen (Bildung oder Beruf) teilen und manchmal in Jugendorganisationen organisiert sind oder sich in informellen Diskussionsgruppen und online treffen (BS 2024).

Bevölkerungsstruktur

Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen (UNHCR 22.12.2021a). Die Landesbevölkerung ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings ist der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung demnach unklar (AA 23.8.2024). Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine gemeinsame ethnische Herkunft (USDOS 22.4.2024). Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist (Wissenschaftl. Mitarbeiter GIGA 3.7.2018). Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden (UN OCHA 14.3.2022). Die UN gehen davon aus, dass ca. 30 % aller Somali Angehörige von Minderheiten sind (MBZ 6.2023). Abseits davon trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt (AA 18.4.2021, S. 12). Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (SEM 31.5.2017).

Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern (BS 2024). Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (SEM 31.5.2017). Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (Landinfo 4.4.2016).

Große Clanfamilien: Die sogenannten „noblen“ Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage (SEM 31.5.2017). Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, „noble“ Clanfamilien sind meist Nomaden:

Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.

Hawiye leben v. a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.

Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).

Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet (SEM 31.5.2017). Sie selbst erachten sich nicht als Teil der Dir (AQSOM 4 6.2024).

Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie (SEM 31.5.2017).

Territorien: Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern (SEM 31.5.2017).

Minderheiten: Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die „noblen“ Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen „nobler“ Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (SEM 31.5.2017).

Somaliland

Wie in den restlichen Landesteilen bekennt sich die Verfassung zum Gebot der Nichtdiskriminierung (AA 23.8.2024). In Somaliland sind Mitbestimmung und Schutz von Minderheiten vergleichsweise gut ausgeprägt (Wissenschaftl. Mitarbeiter GIGA 3.7.2018). Nach anderen Angaben besteht offiziell kein Minderheitenschutz (ÖB Nairobi 10.2024). Jedenfalls sind die Clanältesten der Minderheiten gleich wie jene der Mehrheitsclans offiziell anerkannt (SEM 31.5.2017). Große Clans dominieren Politik und Verwaltung, wodurch kleinere Gruppen marginalisiert, gesellschaftlich manchmal diskriminiert werden. Ihr Zugang zu öffentlichen Leistungen ist schlechter (FH 2023; vgl. HRCSL 3.2024). Generell spielt die Clanzugehörigkeit eine große Rolle (AA 23.8.2024).

Hauptclans in Somaliland: In der Region Awdal wohnen v. a. Angehörige der Dir / Gadabursi und Dir / Issa. In den Regionen Woqooyi Galbeed und Togdheer wohnen v. a. Angehörige der Isaaq-Subclans Habr Jeclo, Habr Yunis, Idagala und Habr Awal. In der Region Sool wohnen v. a. Angehörige der Darod / Dulbahante (Taleex, Xudun, Laascaanood), Isaaq / Habr Yunis (Xudun, Laascaanood) und Isaaq / Habr Jeclo (Caynabo). In der Region Sanaag wohnen v. a. Angehörige der Darod / Warsangeli (Las Qooray, Ceerigaabo), Isaaq / Habr Yunis (Ceerigaabo) und Isaaq / Habr Jeclo (Ceel Afweyn) (EASO 2.2016). Die einzelnen Clans der Minderheiten der Berufskasten in Somaliland werden unter dem Begriff "Gabooye" zusammengefasst (Muse Dheriyo, Tumal, Madhiban, Yibir) (UNHRC 28.10.2015; vgl. SEM 31.5.2017). Zusätzlich gibt es noch alteingesessene Familien mit arabischem Hintergrund (HRCSL 3.2024).

Minderheiten: Einige Älteste (Suldaan) der Gabooye sind im Oberhaus (Guurti) des Parlaments vertreten (SEM 31.5.2017). Bei den Wahlen im Mai 2021 wurden Minderheitenangehörige ins somaliländische Unterhaus gewählt (EEAS 8.6.2021) - darunter ein Abgeordneter der Gabooye (ICG 12.8.2021).

Eine systematische Verfolgung findet nicht statt (ÖB Nairobi 10.2024). Angehörige der Gabooye leiden allerdings unter sozialer und wirtschaftlicher Benachteiligung und werden am Arbeitsmarkt diskriminiert (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. HRCSL 3.2024). Im Justizsystem treffen Minderheitenangehörige auf Vorurteile (FH 2024a) und Benachteiligung (HRCSL 3.2024). Es kann vorkommen, dass Vergehen gegenüber Angehörigen von Minderheiten seitens der Polizei nicht nachgegangen wird. Sie werden von den somaliländischen Gerichten in den letzten Jahren aber mehrheitlich fair behandelt, es kommt zu keiner systematischen Benachteiligung durch Polizei und Gerichte. Die offizielle Anerkennung von Gabooye-Suldaans hat zu einer Aufwertung der berufsständischen Gruppen geführt. Ihr gesellschaftlicher Ruf hat sich dadurch generell verbessert. Damit geht auch soziale Sicherheit einher. Im Xeer (traditionelles Recht) haben Gabooye zwar ihre Rechte (SEM 31.5.2017), es kann aber vorkommen, dass Mehrheitsclans aufgrund ihrer Machtstellung Kompensationszahlungen nicht tätigen (Wissenschaftl. Mitarbeiter GIGA 3.7.2018).

In Ceerigaabo leben alle Gabooye (ca. 500 Haushalte) außerhalb des Stadtzentrums. Der Besuch einer Grundschule ist in Sanaag möglich; doch hinsichtlich höherer Bildung stehen Gabooye oft vor finanziellen Hindernissen. In der Verwaltung der Region arbeitet nur ein Gabooye; zwei arbeiten bei Lokalräten (UNSOM 22.6.2022). Insgesamt hat sich die Situation laut zwei Quellen der FFM Somalia 2023 aber gebessert (YOVENCO/STDOK/SEM 5.2023; vgl. SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023). Während sich in den frühen 1990ern kaum Gabooye in den Schulen fanden, und die wenigen, die dies taten, dort belästigt wurden, hat sich dies geändert. Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 gibt es kein Mobbing mehr, wenn auch weiterhin Vorurteile bestehen (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023). Nach anderen Angaben sind die Gabooye weiterhin nicht gleichgestellt, sie verfügen nur über geringe Ressourcen und sind weniger gebildet und werden als "low status" erachtet (YOVENCO/STDOK/SEM 5.2023).

Es gibt einige NGOs, die sich explizit für Minderheiten einsetzen. Hinsichtlich berufsständischer Gruppen sind dies u. a.: Daami Youth Development Organization (DYDO), Somaliland National Youth Organization (SONYO Umbrella), Ubax Social and Welfare Organization (USWO), Voices of Somaliland Minority Women Organization (VOSOMWO) (SEM 31.5.2017).

Mischehen: Vorbehalte gegen Mischehen bestehen weiterhin (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023), diese werden stigmatisiert (FH 2024a), von den Clans Isaaq und Darod vehement abgelehnt, vom Clan der Dir eher akzeptiert (SEM 31.5.2017). Gleichzeitig kommen Mischehen im clanmäßig homogeneren Norden tendenziell seltener vor als im stärker durchmischten Süden (ÖB Nairobi 10.2024. Die Konsequenz einer Mischehe ist oftmals die Verstoßung des Eheteils, der von einem "noblen" Clan stammt durch ebendiesen (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023).

Blutrache: Davon können laut einer Quelle selbst Personen betroffen sein, die nach Jahren in der Diaspora nach Hause zurückkehren. Während Sicherheitskräfte in größere Clankonflikte eingreifen, tun sie dies bei Blutfehden nur selten bzw. ist ein Eingreifen nicht immer möglich. Gleichzeitig sind Polizisten selbst Angehörige eines Clans, was die Sache erschwert (STDOK 8.2017). Nach neueren Angaben der FFM Somalia 2023 können Rachemorde im Fall eines Mordes vorkommen (z. B. wenn der eigene Bruder einen Angehörigen eines anderen Clans getötet hat). Meist gibt es für solche Fälle Abkommen zwischen Subclans im Rahmen des Xeer. Dort ist festgelegt, ob ein Mord durch einen Mord gebüßt wird oder durch eine Zahlung. Ein normaler Bürger in Hargeysa muss sich laut einer Quelle diesbezüglich keine Sorgen machen. In größeren Städten sind im Fall eines Mordes Sicherheitskräfte eingebunden, Täter werden verhaftet. In den östlichen Landesteilen - insbesondere in Sanaag und Sool - wird die Polizei hingegen selten involviert, dort herrscht das traditionelle System vor (Omer/STDOK/SEM 4.2023).

Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen – allgemein

Sowohl im Zuge der Anwendung der Scharia als auch bei der Anwendung traditionellen Rechtes sind Frauen nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden. Die Scharia wird ausschließlich von Männern angewendet, die oftmals zugunsten von Männern entscheiden (USDOS 22.4.2024). Zudem gelten die aus der Scharia interpretierten Regeln des Zivil- und Strafrechts. In der Scharia gelten für Frauen andere gesetzliche Maßstäbe als für Männer (z. B. halbe Erbquote). Insgesamt gibt es hinsichtlich der grundsätzlich diskriminierenden Auslegungen der zivil- und strafrechtlichen Elemente der Scharia keine Ausweichmöglichkeiten, diese gelten auch in Somaliland (AA 23.8.2024).

Auch im Rahmen der Ausübung des Xeer (traditionelles Recht) haben Frauen nur eingeschränkt Einfluss. Verhandelt wird unter Männern, und die Frau wird üblicherweise von einem männlichen Familienmitglied vertreten (SPC 9.2.2022; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Oft werden Gewalttaten gegen Frauen außerhalb des staatlichen Systems zwischen Clanältesten geregelt, sodass ein Opferschutz nicht gewährleistet ist (AA 23.8.2024). Auch Vergewaltigungsfälle werden oft im Rahmen kollektiver Clanverantwortung abgehandelt (ÖB Nairobi 11.1.2024; vgl. AQ21 11.2023; SPC 9.2.2022). Diesbezüglich geschaffene Gesetze haben zwar Signalwirkung, diese wendet sich aber insbesondere nach Außen (ÖB Nairobi 11.1.2024). Viele Fälle werden auch gar nicht gemeldet. Weibliche Opfer befürchten, von ihren Familien oder Gemeinden verstoßen zu werden, sie fürchten sich z. B. auch vor einer Scheidung oder einer Zwangsehe. Anderen Opfern sind die formellen Regressstrukturen schlichtweg unbekannt (SPC 9.2.2022). Im traditionellen System werden Vergewaltigungen oft mittels Blutgeld zwischen den betroffenen Clans ausverhandelt. Dabei darf das Opfer nach Angaben einer Quelle über die Höhe des Betrags mitentscheiden (ÖB Nairobi 11.1.2024). Andererseits werden Frauen im Falle von Clankonflikten oft als neutral erachtet, da es für sie leichter möglich ist, sich an unterschiedliche Clans zu wenden, um z. B. eine Waffenruhe zu erbitten. Folglich sind Frauen aufgrund der Verwandtschaftsverhältnisse beim Peace Building durchaus mächtig (AQ21 11.2023).

Während Frauen in Somalia zunehmend entscheidende wirtschaftliche Rollen übernehmen und häufig als Hauptverdiener ihrer Familien auftreten, stoßen sie bei der Suche nach politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten auf Hindernisse. Oft finden sie sich in schlecht bezahlten Positionen wieder (BS 2024). Gemäß einer Studie zum Gender-Gap in Süd-/Zentralsomalia und Puntland verfügen Frauen dort nur über 50 % der Möglichkeiten der Männer – und zwar mit Bezug auf Teilnahme an der Wirtschaft; wirtschaftliche Möglichkeiten; Politik; und Bildung (SOMSUN 6.4.2021). Viele traditionelle und religiöse Eliten stellen sich vehement gegen eine stärkere Beteiligung von Frauen am politischen Leben (AA 23.8.2024). Auf allen politischen Ebenen herrscht dementsprechend eine Absenz von Frauen. Insgesamt ist dies auf die patriarchale, auf Clans basierende Gesellschaft zurückzuführen (Sahan/SWT 19.1.2024; vgl. AA 23.8.2024). Trotzdem finden sich bei Behörden, bei den Macawiisley, in der Bundesarmee, bei der NISA und den Darawish Frauen, bei der Polizei sind es ca. 10 % (AQ21 11.2023; vgl. Sahan/SWT 9.9.2022).

Somaliland

Politik und Recht: Vom Guurti (House of Elders) sind Frauen ausgeschlossen; in der Regierung sind zwei von 24 Ministern weiblich. Die Somaliland Human Rights Commission hat eine Frau als Vorsitzende (USDOS 12.4.2022). Nach der Wahl vom Mai 2021 gab es im Unter- bzw. Repräsentantenhaus keine Abgeordnete (FH 2024a). Im Mai 2023 wurde als Nachfolgerin für einen verstorbenen Parlamentarier der UCID eine Frau angelobt (SD 14.5.2023; vgl. AA 23.8.2024). Nur drei von 220 Lokalräten landesweit sind weiblich (USDOS 12.4.2022).

Wie auch in Somalia finden sich in Somaliland aus der Scharia interpretierte Regeln des Zivil- und Strafrechts, die Frauen tendenziell benachteiligen (AA 23.8.2024). Nicht nur bei der Anwendung der Scharia, sondern auch hinsichtlich des traditionellen Rechts werden Frauen benachteiligt (FH 2024a). Gleichwohl gibt es politische Ansätze, die mittel- bis langfristig eine Annäherung des Status von Mann und Frau anstreben (AA 23.8.2024).

Die Zahl an Alleinerzieherinnen ist in Somaliland gestiegen. Mitverantwortlich dafür ist die ebenfalls gestiegene Zahl an Scheidungen, die sich auch in einem Anstieg an Wiederverheirateten und Patchwork-Familien niederschlagen (FIS 5.10.2018, S. 27f).

Häusliche Gewalt bleibt weiterhin ein Problem (FH 2024a). Prinzipiell können sich Frauen in solchen Fällen zwar an Behörden wenden, in der Praxis gestaltet sich dies allerdings schwierig (FIS 5.10.2018, S. 33).

Vergewaltigungen: Gruppenvergewaltigungen stellen in urbanen Gebieten weiterhin ein Problem dar. Täter sind oftmals Jugendliche oder Studenten. Diese Vergewaltigungen geschehen meist in ärmeren Stadtteilen, bei Migranten, zurückgekehrten Flüchtlingen oder IDPs im städtischen Raum (USDOS 22.4.2024). Im Gegensatz zum Süden Somalias gibt es aus Somaliland so gut wie keine Berichte über Vergewaltigungen durch Uniformierte (FIS 5.10.2018, S. 32).

Aufgrund sozialen Drucks werden Vergewaltigungen nur selten angezeigt (FH 2024a). Zudem ist das Gesetz gegen Sexualdelikte nach Einwänden des Religionsministeriums durch den Präsidenten wieder außer Kraft gesetzt. Ein neues Gesetz bezüglich Vergewaltigung und Sexualverbrechen wurde eingebracht und passierte im August 2020 das Repräsentantenhaus. Dieses Gesetz bricht einige internationale Menschenrechtsstandards. Es gestattet u. a. Kinder- und Zwangsehe und schließt eine Vergewaltigung in der Ehe aus. Das Gesetz lag zuletzt beim Guurti (MBZ 6.2023; vgl. ÖB Nairobi 10.2024) und ist noch nicht in Kraft getreten (ÖB Nairobi 10.2024).

Nach anderen Angaben wurde hingegen 2018 das erste Mal in der Geschichte Vergewaltigung per Gesetz zum Verbrechen erklärt, mit Haftandrohung von 4-7 Jahren, bei Gewalt und Drohungen 15-20 Jahren, im Falle von Minderjährigen unter 15 oder von Gruppenvergewaltigungen mit 20-25 Jahren, im Falle von Verletzungen oder HIV-Übertragung lebenslänglich. Schlussendlich werden Vergewaltigungen auch zur Anzeige gebracht: Von Jänner bis August 2022 wurden in Somaliland fast 300 Vergewaltigungen zur Anzeige gebracht, 2020 sind es 161 gewesen (Halbeeg 1.9.2022). Nach anderen Angaben sind im Jahr 2022 bis November 266 Vergewaltigungen angezeigt worden, es gab 280 Beschuldigte. 240 davon wurden gefasst (SD 4.11.2022). Auch auf Betreiben von Frauenhäusern werden Vergewaltigungen nachgewiesen und zur Anzeige gebracht, Verhaftungen folgen (UNICEF 26.2.2024). Im Juni 2024 hat Präsident Bihi ein Dekret unterzeichnet, das die Verhandlung von Vergewaltigungsfällen durch Clanälteste verbietet. Alle derartigen Fälle müssen künftig der staatlichen Justiz zugeführt werden (HO 25.6.2024b).

Hilfe: Die NGO WAAPO - ein Partner mehrerer UN-Organisationen - führt Frauenhäuser in Hargeysa, Borama und Burco. Das Angebot richtet sich an Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt und von FGM und dient auch dem Kinderschutz. Die Einrichtungen bieten psychosoziale Beratung, medizinische Unterstützung, Rechtshilfe und Mediation (WAAPO o.D.a; vgl. UN OCHA 2022). Diese Dienste erfolgen kostenlos. Die Häuser arbeiten auch mit der Polizei zusammen. Den Frauen wird geholfen, nach Gewalttaten für Gerechtigkeit zu sorgen (UNICEF 26.2.2024). 2021 hat UNFPA gemeinsam mit dem somaliländischen Sozial- und Familienministerium eine 24-Stunden-Hotline eingerichtet, an welche sich Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt richten können. Bereits in den ersten Monaten konnte über hundert Opfern geholfen werden, u. a. durch Beratung und Vermittlung. Die Nummer der Hotline wird z. B. über das Radio verbreitet (UNFPA 28.10.2021).

Familie, Ehe, Zwangsehe, Scheidung, Ehrenmorde

Die Scharia ist gerade hinsichtlich des Familienrechts die wichtigste Rechtsquelle in Somalia und Somaliland. Sie findet etwa bei Ehe, Erbe, Adoption und Sorgerecht Anwendung. Zivilrecht kann zwar neben der Scharia angewendet werden, muss aber immer mit der Scharia vereinbar sein. Bei jeglicher Abweichung wird hier der Scharia Vorrang gegeben (Omer2/ALRC 17.3.2023).

Ehe: Für die Eheschließung relevant sind die Vorgaben von Xeer (traditionelles Recht) und Scharia, die nahezu deckungsgleich sind (Omer2/ALRC 17.3.2023). Polygamie ist laut beiden Rechtsgrundlagen erlaubt und wird gesellschaftlich akzeptiert (UNHRCOM 6.5.2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Es gibt keine Zivilehe (Landinfo 14.6.2018, S. 7). In weiten Teilen Süd-/Zentralsomalias spricht al Shabaab Recht - auch hinsichtlich Ehe, Scheidung und darauf basierenden Sorgerechtsregelungen (Omer2/ALRC 17.3.2023).

Die Ehe ist extrem wichtig, und es ist in der somalischen Gesellschaft geradezu undenkbar, dass eine junge Person unverheiratet bleibt. Gleichzeitig besteht gegenüber der Braut die gesellschaftliche Erwartung, dass sie bei ihrer ersten Eheschließung Jungfrau ist (LIFOS 16.4.2019, S. 38), wobei eine Überprüfung der Jungfräulichkeit laut einer Quelle nicht mehr weit verbreitet ist (Omer2/ALRC 17.3.2023). Nach anderen Angaben ist nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über 15 Jahren verheiratet; 37,9 % waren demnach noch nie verheiratet. Letztgenannte Personengruppe findet sich zunehmend in den Städten (42,1 %), weniger verbreitet auf dem Land (30 %) (GN 28.3.2023a) Gerade bei der ersten Ehe ist die arrangierte Ehe die Norm (Landinfo 14.6.2018, S. 8f). Eheschließungen über Clangrenzen [Anm.: großer bzw. "nobler" Clans] hinweg sind normal (FIS 5.10.2018, S. 26f).

Eheschließung (Vorgang): Generell muss vor der Eheschließung beim Imam Klarheit über die Identität der Ehepartner herrschen. Zudem muss sich der Imam im persönlichen Einzelgespräch mit beiden Ehepartnern versichern, dass diese freiwillig heiraten. Dies muss auch von den anwesenden Zeugen bezeugt werden. Das Brautgeld wird von der Braut genannt und vom Bräutigam bestätigt. Alle Parteien (das Ehepaar, der Vormund, die Zeugen und der Imam) müssen den Ehevertrag/die Eheurkunde (Deed of Marriage) unterfertigen. Mit der Zunahme an Somali, die in der Diaspora leben, sind heute Eheschließungen über das Telefon keine Seltenheit mehr. Dabei bedarf es üblicherweise an beiden Enden eines Imams. Sobald eine Ehe vor einem Imam und gemäß den Vorgaben der Scharia (Reife, Freiwilligkeit, Zeugen) geschlossen wurde, ist diese nach somalischer Rechtsnorm rechtsgültig (Omer2/ALRC 17.3.2023).

Arrangierte Ehe / Zwangsehe: Zusätzlich ist es im Xeer sehr wohl möglich, dass Eltern oder ein Vormund auf Minderjährige einwirken, damit diese einer Eheschließung - wie in der Scharia verlangt - "freiwillig" zustimmen. Die in der Scharia verlangte Einwilligung wird im Xeer relativiert. Kinder- und arrangierte Ehen sehen oft keine ehrliche Freiwilligkeit vor. Eigentlich hätten solche Ehen nach islamischer Rechtsauffassung keine Gültigkeit (Omer2/ALRC 17.3.2023). Dementsprechend ist der Übergang von arrangierter zur Zwangsehe fließend (MBZ 6.2023). Bei Ersterer liegt die mehr oder weniger explizite Zustimmung beider Eheleute vor, wobei hier ein unterschiedliches Maß an Druck ausgeübt wird. Bei der Zwangsehe hingegen fehlt die Zustimmung gänzlich oder nahezu gänzlich (Landinfo 14.6.2018, S. 9f). Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen (AA 23.8.2024), Zwangsehen sind in Somalia normal bzw. weitverbreitet (SPA 1.2021; vgl. FH 2024b). Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt eine von fünf Frauen an, zur Ehe gezwungen worden zu sein; viele davon waren bei der Eheschließung keine 15 Jahre alt (LIFOS 16.4.2019, S. 10). Und manche Mädchen haben nur in eine Ehe eingewilligt, um nicht von der eigenen Familie verstoßen zu werden (SPA 1.2021). Es gibt keine bekannten Akzente der Bundesregierung oder regionaler Behörden, um dagegen vorzugehen (USDOS 22.4.2024). Gegen Frauen, die sich weigern, einen von der Familie gewählten Partner zu ehelichen, wird mitunter auch Gewalt angewendet. Das Ausmaß ist unklar, Ehrenmorde haben diesbezüglich in Somalia aber keine Tradition (Landinfo 14.6.2018, S. 10). Vielmehr können Frauen, die sich gegen eine arrangierte Ehe wehren und/oder davonlaufen, ihr verwandtschaftliches Solidaritätsnetzwerk verlieren (ACCORD 31.5.2021, S. 33; vgl. Landinfo 14.6.2018, S. 10). Zu Unterstützung und Frauenhäusern siehe Frauen - Süd-/Zentralsomalia und Frauen - Somaliland.

Bereits eine Quelle aus dem Jahr 2004 besagt, dass sich die Tradition aber gewandelt hat, und viele Ehen ohne Einbindung, Wissen oder Zustimmung der Eltern geschlossen werden (Landinfo 14.6.2018, S. 9f). Viele junge Somali akzeptieren arrangierte Ehen nicht mehr (LIFOS 16.4.2019, S. 11). Gerade in Städten ist es zunehmend möglich, den Ehepartner selbst zu wählen (LIFOS 16.4.2019, S. 11; vgl. Landinfo 14.6.2018, S. 8f). In der Hauptstadt ist es nicht unüblich, dass es zu – freilich oft im Vorfeld mit den Familien abgesprochenen – Liebesehen kommt (Landinfo 14.6.2018, S. 8f). Dort sind arrangierte Ehen eher unüblich. Gemäß einer Schätzung konnten sich die Eheleute in 80 % der Fälle ihren Partner selbst aussuchen bzw. bei der Entscheidung mitreden (FIS 5.10.2018, S. 26f). Zusätzlich gibt es auch die Tradition des "Durchbrennens" (Elopement, Qubdo Sireed), wobei die Eheschließung ohne Wissen und Zustimmung der Eltern erfolgt (Omer2/ALRC 17.3.2023; vgl. FIS 5.10.2018, S. 26f). Diese Art der Eheschließung kommt in allen Landesteilen vor und wird üblicherweise auch akzeptiert (Omer2/ALRC 17.3.2023).

Ehe-Registrierung: Beim Imam werden die von allen Parteien unterfertigten Urkunden kopiert und an alle Teilnehmer ausgeteilt. Eine Urkunde wird im Register der Moschee hinterlegt. Dies ist nicht immer möglich, doch ist eine solche Registrierung für die Gültigkeit einer Ehe nicht zwingend erforderlich. Nach Möglichkeit wird die Eheschließung auch bei einem Standesamt oder Amtsgericht in der nächstgelegenen Gemeinde eingetragen, die dazu in der Lage ist. In Somaliland ist ein solcher Eintrag bei der Gemeinde oder dem Regionalgericht einfacher möglich. Die zivile Registrierung einer Ehe ist absolut freiwillig. Die Rechtsgültigkeit einer Ehe ergibt sich aus der Erfüllung der Anforderungen gemäß Scharia (Omer2/ALRC 17.3.2023).

Scheidung: Eine solche ist erlaubt (ÖB Nairobi 10.2024), es gibt eine hohe Scheidungsrate (AQ21 11.2023). Auch bei al Shabaab sind Scheidungen erlaubt und werden von der Gruppe auch vorgenommen (ICG 27.6.2019a). Die Frau hat das Recht, den Mann aus dem gemeinsamen Haushalt zu verstoßen (AQ21 11.2023). Nach einer Scheidung ist eine Phase von drei bis sechs Monaten vorgesehen, bevor eine neue Ehe eingegangen werden darf (Omer2/ALRC 17.3.2023).

Bereits 1991 wurde festgestellt, dass mehr als die Hälfte der über 50-jährigen Frauen mehr als einmal verheiratet gewesen ist (Landinfo 14.6.2018, S. 18). Laut Zahlen aus dem Jahr 2023 sind 9 % der Bevölkerung im Alter von 25-29 Jahren geschieden, bei den 30-34-Jährigen sind es 7,6 % (GN 28.3.2023a). Bezüglich einer Scheidung gibt es kein Stigma (Landinfo 14.6.2018, S. 18f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 27f; AQ21 11.2023). Während es früher die Norm war, dass Kinder beim Mann blieben, ist dies heute oft umgekehrt (AQ21 11.2023; vgl. FIS 5.10.2018, S. 27f). Viele Männer verschwinden auch einfach und bieten Frau und Kindern keinerlei Unterstützung (AQ21 11.2023). Um unterstützt zu werden, zieht die Geschiedene meist mit den Kindern zu ihren Eltern oder zu Verwandten (FIS 5.10.2018, S. 27f). Bei der Auswahl eines neuen Ehepartners sind Geschiedene in der Regel freier als bei der ersten Eheschließung (Landinfo 14.6.2018, S. 19).

Annullierung: Eine Ehe kann nur dann annulliert oder angefochten werden, wenn stichhaltige Beweise dafür vorgelegt werden, dass bei einem Ehepartner keine freiwillige Einwilligung vorlag; dass einem Ehepartner die erforderliche Reife (psychisch und physisch) fehlt; wenn nachträglich Beweise dafür auftauchen, dass die Ehefrau bereits verheiratet war und die Scheidung noch nicht vollzogen wurde; wenn der vorgeschriebene Zeitraum zwischen Scheidung und neuerlicher Ehe von 3-6 Monaten noch nicht verstrichen war; oder wenn der Ehegatte bereits mit vier Ehefrauen verheiratet ist. Sterilität oder andere physische Einschränkungen stellen keinen Annullierungs-, wohl aber einen Scheidungsgrund dar (Omer2/ALRC 17.3.2023).

Ehrenmorde: In Somalia gibt es keine Tradition sogenannter Ehrenmorde im Sinne einer akzeptierten Tötung von Frauen, welche bestimmte soziale Normen überschritten haben – z. B. Geburt eines unehelichen Kindes (Landinfo 14.6.2018, S. 10). Ein uneheliches Kind wird allerdings als Schande für die ganze Familie der Frau erachtet. Mutter und Kind werden stigmatisiert, im schlimmsten Fall werden sie von der Familie verstoßen (FIS 5.10.2018, S. 27; vgl. Love Does 20.10.2023). Laut einer Quelle ist außer- oder vorehelicher Geschlechtsverkehr eine Straftat (Omer2/ALRC 17.3.2023).

Mädchen/Frauen – Weibliche Genitalverstümmelung und –Beschneidung (FGM/C)

Arten bzw. Typen der Beschneidung: Gudniin ist die allgemeine somalische Bezeichnung für Beschneidung – egal ob bei einer Frau oder bei einem Mann (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 65f). Laut einer in Puntland gemachten Studie gibt es auch noch andere Namen für FGM/C, etwa Dhufaanid (Kastration) oder Tolid (Zunähen) (UNFPA 4.2022). In Somalia herrschen zwei Formen von FGM/C vor:

a) Einerseits die am meisten verbreitete sogenannte Pharaonische Beschneidung (Gudniinka Fircooniga), welche weitgehend dem WHO Typ III (Infibulation) entspricht (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 13f; HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 66f) und von der somalischen Bevölkerung unter dem - mittlerweile auch dort geläufigen - Synonym "FGM" verstanden wird (UNFPA 4.2022; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 68).

b) Andererseits die Sunna (Gudniinka Sunna) (LIFOS 16.4.2019, S. 13f; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 66f), welche laut einer Quelle generell dem weniger drastischen WHO Typ I entspricht (LIFOS 16.4.2019, S. 13f), laut einer anderen Quelle WHO Typ I und II (AV 2017, S. 29), laut einer dritten Quelle WHO Typ IV (MoHDSL/UNFPA 2021) und schließlich laut einer vierten Quelle eine breite Palette an Eingriffen umfasst (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 41ff/66f). Demnach wird die Sunna nochmals unterteilt in die sog. große Sunna (Sunna Kabir) und die kleine Sunna (Sunna Saghir); es gibt auch Mischformen (LIFOS 16.4.2019, S. 14f; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 41ff/66f). De facto kann laut Quellen unter dem Begriff „Sunna“ jede Form – von einem kleinen Schnitt bis hin zur fast vollständigen pharaonischen Beschneidung – gemeint sein, die von der traditionellen Form von FGM (Infibulation) abweicht (FIS 5.10.2018, S. 30; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 39). Aufgrund der Problematik, dass es keine klare Definition der Sunna gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 14f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 31), wissen Eltern laut einer Quelle oft gar nicht, welchen Eingriff die Beschneiderin genau durchführen wird (LIFOS 16.4.2019, S. 14f). Allgemein wird die Sunna von Eltern und Betroffenen als harmlos erachtet, mit dieser Form werden nur geringfügige gesundheitliche Komplikationen in Zusammenhang gebracht (UNFPA 4.2022).

Bei einer Studie aus Somaliland wird die Sunna hingegen als WHO Typ IV bezeichnet ("... andere verletzende Prozeduren an den weiblichen Genitalien für nicht-medizinische Zwecke, z. B. einstechen, durchstechen, einritzen, ausschaben, verätzen."). Teilnehmer der Studie beschreiben zwei Arten der Sunna: Einerseits jene Form, bei welcher eine eingeschränkte Beschneidung ("Small Cut") sowie ein Vernähen mit ein oder zwei Stichen erfolgt; andererseits eine mildere Form, bei welcher die Klitoris mit einer Nadel eingestochen wird und keine weiteren Misshandlungen erfolgen - insbesondere kein Vernähen (MoHDSL/UNFPA 2021).

Dahingegen beschreiben Crawford und Ali für Somalia folgende Formen von FGM/C (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 66ff):

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Quelle: HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 66ff

Prävalenz: FGM ist in Somalia auch weiterhin weit verbreitet (USDOS 22.4.2024; vgl. AA 23.8.2024) und bleibt die Norm (Landinfo 14.9.2022, S. 16). Lange Zeit wurde die Zahl betroffener Frauen mit 98 % angegeben. Diese Zahl ist laut somalischem Gesundheitsministerium bis 2015 auf 95 % und bis 2018 auf 90 % gefallen (FIS 5.10.2018, S. 29). UN News berichtet von "mehr als 90 %" (UNN 4.2.2022). Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2017 sind rund 13 % der 15-17-jährigen Mädchen nicht beschnitten (STC 9.2017). In der Altersgruppe von 15-49 Jahren liegt die Prävalenz hingegen bei 98 %, jene der Infibulation bei 77 %, wie eine andere Studie besagt (BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 1f). Laut einer anderen Quelle sind 88 % der 5-9-jährigen Mädchen bereits beschnitten oder verstümmelt (CARE 4.2.2022). Insgesamt gibt es diesbezüglich nur wenige aktuelle Daten. Generell ist von einer Rückläufigkeit auszugehen (LIFOS 16.4.2019, S. 19f; vgl. STC 9.2017).

Trend weg von der Infibulation und hin zu Sunna: Die Infibulation ist insgesamt zurückgedrängt worden, dies wird von zahlreichen Quellen bestätigt (Omer2/ALRC 17.3.2023; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015; FGMCRI o.D.; Landinfo 14.9.2022; LIFOS 16.4.2019, S. 14f/39; DIS 1.2016, S. 7; FIS 5.10.2018, S. 30f; PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 22ff; BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 1f). Der Trend geht in Richtung Sunna (UNFPA 4.2022):

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Quelle: DNS/Gov Som 2020, S. 220

Hinsichtlich geografischer Verbreitung scheint die Infibulation 2006 in Süd-/Zentralsomalia mit 72 % am wenigsten verbreitet gewesen zu sein; in Puntland war sie mit 93 % am verbreitetsten (LIFOS 16.4.2019, S. 21). Es wird davon ausgegangen, dass die Rate an Infibulationen in ländlichen Gebieten höher ist als in der Stadt (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 69). Viele Menschen – v. a. in städtischen Gebieten – erachten die extremeren Formen von FGM zunehmend als inakzeptabel, halten aber an Typ I fest (UNICEF 29.6.2021; vgl. UNFPA 4.2022), der gesellschaftlich auf Akzeptanz trifft (Landinfo 14.9.2022). So werden in Mogadischu junge Mädchen nicht mehr der Infibulation, sondern hauptsächlich der Sunna ausgesetzt (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 70).

Eine Rolle spielen hierbei religiöse Überlegungen. Bei einer Studie in Somaliland haben religiöse Führer angegeben, dass alle Rechtsschulen des Islam die Infibulation bzw. die pharaonische Beschneidung verbieten. Demgegenüber ist die Sunna gemäß der in Somalia am meisten verbreiteten Shafi'i-Schule obligatorisch, während z. B. die Hanafiya eine Beschneidung zwar zulässt, diese aber nicht fordert (MoHDSL/UNFPA 2021).

Gesellschaft: Außerdem sprachen sich in einer Umfrage aus dem Jahr 2017 42,6 % gegen die Tradition von FGM aus (AV 2017, S. 19). Allerdings gaben nur 15,7 % an, dass in ihrer Gemeinde („Community“) FGM nicht durchgeführt wird (AV 2017, S. 25). Bei einer Studie im Jahr 2015 wendete sich die Mehrheit der Befragten gegen die Fortführung der Infibulation, während es kaum Unterstützung für eine völlige Abschaffung von FGM gab (CEDOCA 9.6.2016, S. 7). Die Unterstützung für FGM/C ist jedenfalls gesunken (BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 2). Zum Beispiel wurden in Cadaado (Mudug) im November 2020 nur noch 28 von 278 Eingriffen als Infibulation ausgeführt, im Dezember waren es 22 von 222. Dahingegen sind es Anfang 2019 noch über 200 Infibulationen pro Monat gewesen. Auch hier hat sich die Sunna durchgesetzt (RE 15.2.2021). Bei der Bewertung dieses Trends muss aber berücksichtigt werden, dass in manchen Fällen davon auszugehen ist, dass einfach nur nicht so weit zugenäht wird wie früher; der restliche Eingriff aber de facto einer Infibulation entspricht - und trotzdem von den Betroffenen als Sunna bezeichnet wird (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 70).

Wer eine Beschneidung veranlasst bzw. entscheidet: Nach Angaben mehrerer Quellen liegt üblicherweise die Entscheidung darüber, ob eine Beschneidung stattfinden soll, bei der Mutter (FIS 5.10.2018, S. 30; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 17f; Landinfo 14.9.2022, S. 11; HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 85; MoHDSL/UNFPA 2021). Der Vater hingegen wird wenig eingebunden (Landinfo 14.9.2022, S. 11; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 85) bzw. wird die Entscheidung "manchmal" gemeinsam getroffen (MoHDSL/UNFPA 2021). Laut einer Quelle geht es bei dieser Entscheidung aber weniger um das "ob" als vielmehr um das "wie und wann" (Landinfo 14.9.2022, S. 11). Eine Studie aus dem Jahr 2022 in Puntland bestätigt, dass Mütter die Entscheidung hinsichtlich von FGM und Väter jene hinsichtlich der Beschneidung der Söhne treffen. Tendenziell können Väter neuerdings mehr Mitsprache halten. Insgesamt ist es aber die Mutter, die für die Jungfräulichkeit, Reinheit und Ehefähigkeit ihrer Töchter verantwortlich ist (UNFPA 4.2022).

Es kann zu – teils sehr starkem – psychischem Druck auf eine Mutter kommen, damit eine Tochter beschnitten wird. Um eine Verstümmelung zu vermeiden, kommt es auf die Standhaftigkeit der Mutter an. Spricht sich auch der Kindesvater gegen eine Verstümmelung aus, und bleibt dieser standhaft, dann ist es leichter, dem psychischen Druck seitens der Gesellschaft und gegebenenfalls durch die Familie standzuhalten (DIS 1.2016, S. 8ff). Manchmal wird der Vater von der Mutter bei der Entscheidung übergangen (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 25f/42f) oder aber eine vermeintlich gemeinsame Entscheidung für eine mildere Sunna wird nachträglich von der Mutter - ohne Wissen des Vaters - zu einer Infibulation "korrigiert" (MoHDSL/UNFPA 2021). Nach anderen Angaben liegt es an den Eltern, darüber zu entscheiden, welche Form von FGM an der Tochter vorgenommen wird. Manchmal halten Großmütter oder andere weibliche Verwandte Mitsprache. In ländlichen Gebieten können Großmütter eher Einfluss ausüben (LIFOS 16.4.2019, S. 25f/42f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 30). Dort ist es mitunter auch schwieriger, FGM infrage zu stellen (FIS 5.10.2018, S. 30f). Gemäß Angaben anderer Quellen sind Großmütter oft maßgeblich in die Entscheidung involviert (Landinfo 14.9.2022, S. 11; vgl. MoHDSL/UNFPA 2021; HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 85) bzw. üben sie signifikanten Einfluss aus (UNFPA 8.10.2023). Laut anderen Angaben kann es vorkommen, dass eine Mutter bei weiblichen Verwandten Ratschläge einholt (UNFPA 4.2022). In einer somaliländischen Studie wird angegeben, dass Mütter die Schlüsselrolle spielen, an zweiter Stelle stehen die Großmütter. Manchmal fordern Mädchen auch selbst eine Beschneidung ein (MoHDSL/UNFPA 2021).

Dass Mädchen ohne Einwilligung der Mutter von Verwandten einer FGM unterzogen werden, ist zwar nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Keine Quelle des Danish Immigration Service konnte einen derartigen Fall berichten (DIS 1.2016, S. 10ff). Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos nennen als diesbezüglich annehmbare Ausnahme (theoretisch) den Fall, dass ein bei den Großeltern lebendes Kind von der Großmutter FGM zugeführt wird, ohne dass es dazu eine Einwilligung der Eltern gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 26).

Motivation: Der Hauptantrieb, weswegen Mädchen weiterhin einer FGM/C unterzogen werden, ist der Druck, sozialen Erwartungen und Normen gerecht zu werden (MoHDSL/UNFPA 2021; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 82). FGM gilt als Tradition, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die somalische Kultur gelten die "drei weiblichen Schmerzen" als integraler Bestandteil des Frauseins: Die Beschneidung, die Hochzeitsnacht und das Gebären. Nicht zuletzt glauben viele Frauen, dass die Beschneidung im Islam verpflichtend vorgesehen ist (MoHDSL/UNFPA 2021).

Frauen fürchten sich vor einem gesellschaftlichen Ausschluss und vor Diskriminierung - ihrer selbst und ihrer Töchter. Eine Beschneidung bringt hingegen soziale Vorteile und sichert der Familie und dem Mädchen die Integration in die Gesellschaft (UNFPA 4.2022; vgl. MoHDSL/UNFPA 2021). So gibt es etwa Berichte über erwachsene Frauen, die sich einer Infibulation unterzogen haben, da sie sich durch (sozialen) Druck dazu gezwungen sahen (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73). Es herrscht die Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung (MoHDSL/UNFPA 2021). Mitunter üben nicht-beschnittene Mädchen aufgrund des gesellschaftlichen Drucks selbst Druck auf Eltern aus, damit die Verstümmelung vollzogen wird (UNFPA 4.2022; vgl. MoHDSL/UNFPA 2021; HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 83; LIFOS 16.4.2019, S. 42f/26; ACCORD 31.5.2021, S. 41).

Die Beschneidung wird als Ehre für ein Mädchen erachtet, als Investition in die Zukunft. Das Mädchen wird dadurch von der Gesellschaft akzeptiert, gilt als züchtig und verheiratbar und gewährleistet voreheliche Jungfräulichkeit (MoHDSL/UNFPA 2021; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 38f; Landinfo 14.9.2022, S. 11). Außerdem gilt eine Infibulation als ästhetisch (Landinfo 14.9.2022, S. 10; vgl. UNFPA 4.2022).

Durchführung: Die Mehrheit der Beschneidungen wird von traditionellen Beschneiderinnen (Guddo) vorgenommen (MoHDSL/UNFPA 2021). Mädchen werden zunehmend von medizinischen Fachkräften beschnitten (UNFPA 4.2022; vgl. MoHDSL/UNFPA 2021; FGMCRI o.D.). Bei einer Studie in Somaliland gaben nur 5 % der Mütter an, selbst von einer Fachkraft beschnitten worden zu sein; bei den Töchtern waren es hingegen schon 33 % (Landinfo 14.9.2022, S. 11). Diese "Medizinisierung" von FGM/C ist v. a. im städtischen Bereich und bei der Diaspora angestiegen (UNICEF 29.6.2021; vgl. MoHDSL/UNFPA 2021) und in erster Linie dann, wenn die Eltern nur eine Sunna durchführen lassen wollen (MoHDSL/UNFPA 2021). FGM/C erfolgt also zunehmend im medizinischen Bereich – in Spitälern, Kliniken oder auch bei Hausbesuchen. In Mogadischu gibt es sogar Straßenwerbung für "FGM Clinics". Insgesamt sind die Ausführenden aber immer noch oft traditionelle Geburtshelferinnen, Hebammen und Beschneiderinnen (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73f).

Der Eingriff wird an Einzelnen oder auch an Gruppen von Mädchen vorgenommen. In ländlichen Gebieten Puntlands und Somalilands üblicherweise in Gruppen. Auch in Mogadischu ist das die übliche Praxis. Oft gibt es danach für die Mädchen eine Feier (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73f). Auch eine somaliländische Quelle berichtet, dass die Beschneidung mit einer Feier in der Nachbarschaft verbunden ist (MoHDSL/UNFPA 2021). Eine traditionelle Beschneiderin verlangt üblicherweise 20 US-Dollar für einen Eingriff, bei finanzschwachen Familien kann dieser Preis auf 5 US-Dollar reduziert werden (UNFPA 4.2022).

Alter bei der Beschneidung: Diesbezüglich gibt es unterschiedliche Angaben. Die meisten Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos sowie UNFPA nennen ein Alter von 5-10 bzw. 5-9 Jahren (LIFOS 16.4.2019, S. 20/39; vgl. UNFPA 8.10.2023). Eine größere Studie aus dem Jahr 2020 nennt für Somalia folgende Zahlen: 71 % der Frauen im Alter von 15-49 Jahren ist im Alter von 5-9 Jahren beschnitten worden, 28 % im Alter von 10-14 Jahren und jeweils unter 1 % unter 5 und über 15 Jahren (DNS/Gov Som 2020). UNICEF wiederum nennt ein Alter von 4-14 Jahren als üblich; die NGO IIDA gibt an, dass die Beschneidung üblicherweise vor dem achten Geburtstag erfolgt (CEDOCA 9.6.2016, S. 6). Eine Studie aus dem Jahr 2017 nennt für ganz Somalia die Gruppe der 10-14-Jährigen (STC 9.2017), dieses Alter erwähnt auch eine NGO (FGMCRI o.D.). Eine andere Quelle nennt ein Alter von 10-13 Jahren (AA 23.8.2024). Gemäß einer Quelle werden Mädchen, welche die Pubertät erreicht haben, nicht mehr einer FGM unterzogen, da dies gesundheitlich zu riskant ist. Hat ein Mädchen die Pubertät erreicht, fällt demnach auch der Druck durch die Verwandtschaft weg (DIS 1.2016, S. 11). Laut einer Quelle sind aus der Diaspora zum Zwecke von FGM nach Somalia geschickte Mädchen meist älter als allgemein üblich (Landinfo 14.9.2022).

In Puntland und Somaliland erfolgt die Beschneidung laut einer Studie aus dem Jahr 2011 meist im Alter von 10-14 Jahren (LIFOS 16.4.2019, S. 20). Eine Studie aus dem Jahr 2022 hingegen besagt für Puntland, dass Mädchen bis zum 13. Geburtstag der Praktik unterzogen sein müssen, wenn die Mutter Hänseleien entgehen will (UNFPA 4.2022). In einer Studie aus dem Jahr 2020 werden für Somaliland folgende Zahlen genannt: 57 % der Mädchen wurden im Alter von 5-9 Jahren beschnitten, 41 % zwischen 10 und 14 Jahren, 1 % noch danach (MoPNDSL 2021).

Eine Quelle erklärt, dass das Beschneidungsalter immer weiter sinkt (CARE 4.2.2022). Auch in der Studie aus dem Jahr 2020 ist dieser Trend zu erkennen. Unter den 40-49-jährigen Frauen wurden 67 % im Alter von 5-9 Jahren beschnitten, bei der Gruppe der 15-19-jährigen sind es hingegen 73 % (DNS/Gov Som 2020). Auch in Somaliland ist das Alter im Zuge des Wechsels hin zur Sunna laut Angaben einer Quelle auf 5-8 Jahre gesunken (PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 22). In den Zahlen einer Studie aus dem Jahr 2020 ist ein derartiger Trend hingegen nicht ablesbar (MoPNDSL 2021).

Bei den Benadiri und arabischen Gemeinden in Somalia, wo grundsätzlich die Sunna praktiziert wird, scheint die Beschneidung bei der Geburt stattzufinden, möglicherweise auch nur als symbolischer Schnitt (DIS 1.2016, S. 6).

Abolition: In der Diaspora nimmt die Praktik ab. Der Druck sinkt mit der Distanz zur Heimat und zur Familie (Landinfo 14.9.2022, S. 17). In manchen Gemeinden und Gemeinschaften z. B. in Borama, Garoowe oder Mogadischu, wo Aufklärung bezüglich FGM stattgefunden hat, stellen sich die Haushalte gemeinschaftlich gegen jegliche Art von FGM (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 65). Von jenen, die nicht von Aufklärungskampagnen betroffen waren, gab es nur eine kleine Minderheit aus gut gebildeten Menschen und Personen der Diaspora, die sich von allen Formen von FGM verabschiedet hat (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 65; vgl. Landinfo 14.9.2022). Eine Expertin erklärt, dass hinsichtlich FGM kein Zwang herrscht, dass allerdings eine Art Gruppendruck besteht (ACCORD 31.5.2021, S. 41). So kann es auch vorkommen, dass in der Diaspora lebende Mädchen „nach Hause“ oder in bestimmte europäische Städte geflogen werden, wo FGM vollzogen wird (GN 3.11.2022). Andererseits nimmt der Druck in der jüngeren Generation ab, manche junge Menschen sehen keinen Grund für die Stigmatisierung und Diskriminierung von Unbeschnittenen (MoHDSL/UNFPA 2021).

Eine andere Quelle erklärt, dass der Verzicht auf jegliche Form von FGM in Somalia eine radikale Entscheidung darstellt, die gegen grundlegende Normen verstößt. Damit sich Eltern aus eigener Initiative gegen eine Beschneidung ihrer Tochter wehren können, müssen sie über Kenntnisse und Einwände gegen die Praxis sowie über genügend Robustheit und Ressourcen verfügen, um die Einwände für Familie, Netzwerke und lokale Gemeinschaften zu fördern (Landinfo 14.9.2022). Jedenfalls gibt es trotz aller Widrigkeiten sowohl in urbanen als auch in ländlichen Gebieten Eltern, die ihre Töchter nicht verstümmeln lassen (DIS 1.2016, S. 9) und auch Frauen, die sich offen dazu bekennen. So berichtet etwa eine Studienteilnehmerin, dass sie als Kind sehr an ihrer Verstümmelung gelitten hat. Deswegen hat sie ihre Töchter nicht beschneiden lassen und drängt auch andere Eltern zu diesem Schritt. Einige wenige Teilnehmerinnen an der besagten Studie haben offen erklärt, ihre Töchter nicht anrühren zu wollen (MoHDSL/UNFPA 2021). Manche Mütter in Gemeinden, wo Aufklärung hinsichtlich der negativen Folgen einer Genitalverstümmelung stattgefunden hat, bekennen sich offen dazu, dass an ihren Töchtern eine solche nicht vorgenommen worden ist (ÖB Nairobi 10.2024).

Mehrere Studien zeigen, dass 2-4 von 100 Frauen nicht beschnitten sind (MoHDSL/UNFPA 2021; vgl. DNS/Gov Som 2020). Beschneiderinnen berichten von einem geringeren Einkommen, weil Eltern ihre Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen (MoHDSL/UNFPA 2021).

Leben ohne Beschneidung: Laut Quellen der finnischen FFM im Jahr 2018 ist es gerade in Städten kein Problem mehr, sich einer Beschneidung zu widersetzen. Demnach steigt dort die Zahl unbeschnittener Mädchen (FIS 5.10.2018, S. 31). Nach anderen Angaben hängt die Akzeptanz unbeschnittener Frauen bzw. jener, die nicht einer Infibulation unterzogen wurden, maßgeblich von der Familie ab. Generell steht man ihnen in urbanen Gebieten eher offen gegenüber (LIFOS 16.4.2019, S. 23). Eine weitere Quelle erklärt, dass es in der Stadt kein Problem ist, zuzugeben, dass die eigene Tochter nicht beschnitten ist. Auf dem Land ist das demnach anders (CEDOCA 9.6.2016, S. 21). Nach älteren Angaben "bekennen" nur wenige Mütter, dass sie ihre Töchter nicht beschneiden haben lassen; und diese stammen v. a. aus Gemeinden, die zuvor Aufklärungskampagnen durchlaufen hatten (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 65).

Die in der Gemeinde zirkulierte Information, wonach eine Frau nicht infibuliert ist, wirkt sich auf das Ansehen und letztendlich auf die Heiratsmöglichkeiten der Frau und anderer Töchter der Familie aus (LIFOS 16.4.2019, S. 38f; vgl. Landinfo 14.9.2022, S. 11). Wird der unbeschnittene Status eines Mädchens bekannt, kann dies zu Hänseleien und zur Stigmatisierung führen (LIFOS 16.4.2019, S. 39). Kulturell gilt die Klitoris als "schmutzig" (Landinfo 14.9.2022, S. 10; UNFPA 4.2022). Folglich werden unbeschnittene Frauen mitunter als schmutzig oder un-somalisch (Landinfo 14.9.2022, S. 16), als abnormal und schamlos (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 82f) oder aber als un-islamisch bezeichnet. Sie werden u. a. in der Schule gehänselt und drangsaliert, sie und ihre Familie als Schande für die Gemeinschaft erachtet. Ein diesbezügliches Schimpfwort ist hier Buurya Qab (UNFPA 4.2022), ein Weiteres leitet sich vom Wort für Klitoris (Kintir) ab: Kinitrey. Allerdings gaben bei einer Studie in Somaliland nur 14 von 212 Frauen an, überhaupt eine (völlig) unbeschnittene Frau zu kennen (Landinfo 14.9.2022, S. 16). Die Sunna als Alternative zur Infibulation wird laut einer rezenten Studie aus Puntland jedoch akzeptiert (UNFPA 4.2022).

Eine andere Option ist es, dass eine Familie, die sich gegen FGM entschieden hat, versucht, die Tatsache geheim zu halten (FIS 5.10.2018, S. 30f). In größeren Städten ist es auch möglich, den unbeschnittenen Status ganz zu verbergen. Die Anonymität ist eher gegeben, die soziale Interaktion geringer; dies ist in Dörfern mitunter sehr schwierig (DIS 1.2016, S. 24/9; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 39). Es kommt zu keinen körperlichen Untersuchungen, um den Status hinsichtlich einer vollzogenen Verstümmelung bei einem Mädchen festzustellen (DIS 1.2016, S. 12f; vgl. ACCORD 31.5.2021, S. 41). Dies gilt auch für Rückkehrer aus dem Westen. In ländlichen Gebieten wird wahrscheinlich schneller herausgefunden, dass ein Mädchen nicht verstümmelt ist (DIS 1.2016, S. 12f). Menschen sprechen miteinander, sie könnten ein betroffenes Mädchen z. B. fragen, wo es denn beschnitten worden sei (ACCORD 31.5.2021, S. 41).

Nach anderen Angaben ist es nicht unüblich, dass eine Gemeinschaft darüber Bescheid weiß, welche Mädchen beschnitten sind und welche nicht. Grund dafür ist, dass gleichaltrige Mädchen einer Nachbarschaft oder eines Ortes oft gleichzeitig beschnitten werden (Landinfo 14.9.2022, S. 16). Gleichzeitig ist FGM auch unter den Mädchen selbst ein Thema. Es sprechen also nicht nur Mütter untereinander darüber, ob ihre Töchter bereits beschnitten wurden; auch Mädchen reden untereinander darüber (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 83).

Eine Mutter kann den Status ihrer Tochter verschleiern, indem sie vorgibt, dass diese einer Sunna unterzogen worden ist (DIS 1.2016, S. 12f). Eine Mutter berichtet in einer somaliländischen Studie, dass sie von den eigenen Töchtern zu einer Beschneidung gedrängt worden ist. Sie hat diese in eine medizinische Einrichtung gebracht, wo u. a. unter Verwendung von Fake-Anästhetika und Kunstblut ein Eingriff vorgegaukelt worden ist. Seither gelten die Töchter als beschnitten (MoHDSL/UNFPA 2021).

Somaliland

Rechtliche Lage: Das somaliländische Parlament hat am 1.2.2022 ein richtungsweisendes Gesetz zum Schutz von Kindern vor allen Formen von Missbrauch und Vernachlässigung verabschiedet. Es handelt sich dabei um das erste Kindergesetz des Landes. Damit wird auch die Rechtslücke hinsichtlich FGM/C geschlossen (PLAN/Presseportal 3.2.2022). Nach anderen Angaben macht dieses Gesetz keine Angaben zu FGM. Es wurde im Oktober 2022 vom Präsidenten unterzeichnet und ist in Kraft getreten (CRR/Jama 1.6.2024).

Seit 2018 gibt es jedenfalls eine Fatwa des somaliländischen Religionsministeriums, welche sich gegen die schlimmsten Formen von FGM/C - namentlich gegen die Infibulation - richtet (USDOS 22.4.2024; vgl. AA 23.8.2024). Die Sunna ist davon nicht erfasst (MoHDSL/UNFPA 2021; vgl. FH 2024a). Die Fatwa spricht Opfern von FGM/C Schadenersatz zu (USDOS 22.4.2024; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 29). Die Möglichkeiten für Mädchen und Frauen, im Fall einer drohenden Beschneidung rechtliche Unterstützung zu erhalten, sind aber eingeschränkt (LIFOS 16.4.2019, S. 42), und insgesamt hat die Fatwa laut einer Quelle zu keiner messbaren Änderung in der Praxis geführt (AA 23.8.2024).

Gesellschaft: Der Widerstand gegen FGM ist in Somaliland aber am weitesten fortgeschritten. Nahezu jede Woche findet irgendwo ein entsprechender Workshop statt (FIS 5.10.2018, S. 31). Beispielsweise reisen Mitarbeiter der Somaliland Family Health Association von Dorf zu Dorf, um die Menschen hinsichtlich der Nachteile von FGM zu sensibilisieren (USDOS 22.4.2024). In einem anderen Beispiel informiert CARE Frauen und Mädchen über ihre Rechte und bildet sie aus, damit sie sich gegenseitig unterstützen und sich gegen FGM/C einsetzen können (CARE 4.2.2022).

Im Zuge einer Studie im Jahr 2011 gaben in Somaliland nur 29 % der befragten Frauen an, dass die traditionelle Infibulation beibehalten werden soll (BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 2; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 14); 2006 waren es noch 65 % gewesen (BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 2). Bei einer Studie aus dem Jahr 2020 gaben 53 % der Befragten an, dass es weiterhin Beschneidungen geben sollte. Allerdings wurde bei dieser Studie nicht nach spezifischen Typen gefragt (MoPNDSL 2021).

Prävalenz: Bei einer umfassenden Studie aus dem Jahr 2020 haben 98 % der befragten somaliländischen Frauen angegeben, einer Form von FGM/C unterzogen worden zu sein (MoPNDSL 2021). 2011 taten dies noch 99 % der Frauen (BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 1f; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 20). Gleichzeitig sinkt die Quote in den unterschiedlichen Altersgruppen: Bei den 45-49-Jährigen liegt die Beschnittenenquote bei fast 100 %, bei den 15-19-Jährigen hingegen bei 96 % (MoPNDSL 2021).

Typen: Aufklärungsmaßnahmen haben in Somaliland zu einem fundamentalen Wechsel bei der Praxis von FGM/C geführt – und zwar weg von der drastischen Verstümmelung in Form einer Infibulation und hin zur leichteren bzw. weniger invasiven Form einer Beschneidung – z. B. in Form der Sunna (PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 22ff; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Laut einer Quelle wird das als positive Entwicklung bewertet; demnach handelt es sich bei der Sunna um ein Einstechen oder Einritzen der Klitoris (PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 22f/24). 2020 gaben 61 % der befragten Frauen an, eine Infibulation erlitten zu haben, 29 % eine Sunna und 7 % eine Zwischenform (MoPNDSL 2021). Anfang der 1990er-Jahre hatten bei einer Studie nur 5,5 % der befragten Frauen eine Sunna angegeben (PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 22). Ein weiterer Vergleich verdeutlicht den raschen Wechsel noch besser: Bei einer Studie aus dem Jahr 2016 in den somaliländischen Regionen Maroodi Jeex und Togdheer gaben nur 34 % der Mädchen im Alter von 12-14 Jahren an, eine Infibulation erlitten zu haben. Bei den Über-25-Jährigen waren es hingegen 96 % (PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 23). Im Durchschnitt aller Altersgruppen bleibt freilich die Infibulation die vorherrschende Form (USDOS 22.4.2024). Auch nach staatlichen Angaben ist die Sunna bei jüngeren Frauen und Mädchen verbreiteter. Bei der Gruppe der 15-19-Jährigen sind es demnach 55 %, bei den 45-49-jährigen Frauen hingegen nur 5 %. Dafür erlitten in der Alterskohorte 45-49 90 % eine Infibulation. Neben dem Alter spielen auch die Lebensumstände eine Rolle: Bei Nomaden sind 100 % der Frauen beschnitten (69 % Infibulation), in Städten sind es 97 % (56 % Infibulation) (MoPNDSL 2021); Frauen mit höherer Bildung (Sekundärbildung) wurden eher einer Sunna unterzogen, jene mit niedriger oder keiner Bildung eher eine Infibulation. Eine ähnliche Situation gilt für reich vs. arm (MoPNDSL 2021; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 21f). Hinsichtlich der somaliländischen Regionen ist FGM in Sanaag am präsentesten (100 %), in der Hauptstadtregion am niedrigsten (96 %). Die Sunna wiederum ist in der Region Awdal am verbreitetsten (42 %), die Infibulation in Sool (70 %) (MoPNDSL 2021).

Reinfibulation, Deinfibulation

Die Thematik der Reinfibulation (Wiederherstellung einer Infibulation, Wiederzunähen) betrifft jene Frauen und Mädchen, die bereits einer Infibulation unterzogen und später deinfibuliert wurden. Letzteres erfolgt z.B. im Rahmen einer Geburt, zur Erleichterung des Geschlechtsverkehrs (LIFOS 16.4.2019, S. 35/12; vgl. Landinfo 14.9.2022, S. 9/12) oder aber z. B. auf Wunsch der Familie, wenn bei der Menstruation Beschwerden auftreten (LIFOS 16.4.2019, S. 32; vgl. Landinfo 14.9.2022, S. 12). Es gibt zudem anekdotische Berichte, wonach eine neue Intervention durchgeführt wurde, weil die Familie eine umfassendere Intervention als die ursprüngliche gewünscht hat (Landinfo 14.9.2022; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 74).

Eine Reinfibulation kommt v. a. dann vor, wenn Frauen - üblicherweise noch vor der ersten Eheschließung - eine bestehende Jungfräulichkeit vorgeben wollen (DIS 1.2016, S. 23). Obwohl es vor einer Ehe gar keine physische Untersuchung der Jungfräulichkeit gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 40f), kann es bei jungen Mädchen, die z. B. Opfer einer Vergewaltigung wurden, zu Druck oder Zwang seitens der Eltern kommen, sich einer Reinfibulation zu unterziehen (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73/76; vgl. CEDOCA 13.6.2016, S. 9). Vergewaltigungsopfer werden oft wieder zugenäht (HO 27.2.2019; vgl. Landinfo 14.9.2022, S. 12). Es gibt anekdotische Berichte über Fälle, in denen unverheiratete Mädchen oder junge Frauen aus der Diaspora nach Somalia geschickt wurden, um eine Reinfibulation durchzuführen (Landinfo 14.9.2022).

Eine Quelle gibt an, dass es Folgen - bis hin zur Scheidung - haben kann, wenn ein Ehemann in der Hochzeitsnacht feststellt, dass eine Deinfibulation bereits vorliegt. Eine Scheidung kann in diesem Fall zu einer indirekten Stigmatisierung infolge von "Gerede" führen. Generell können zur Frage der Reinfibulation von vor der Ehe deinfibulierten Mädchen und jungen Frauen nur hypothetische Angaben gemacht werden, da z.B. den von der schwedischen COI-Einheit LIFOS befragten Quellen derartige Fälle überhaupt nicht bekannt waren (LIFOS 16.4.2019, S. 40f).

Als weitere Gründe, warum sich Frauen für eine Reinfibulation im Sinne einer weitestmöglichen Verschließung entscheiden, werden in einer Studie aus dem Jahr 2015 folgende genannt: a) nach einer Geburt: Manche Frauen verlangen z.B. eine Reinfibulation, weil sie sich nach Jahren an ihren Zustand gewöhnt hatten und sich die geöffnete Narbe ungewohnt und unwohl anfühlt; b) manche geschiedene Frauen möchten als Jungfrauen erscheinen; c) Eltern von Vergewaltigungsopfern fragen danach; d) in manchen Bantu-Gemeinden in Süd-/Zentralsomalia möchten Frauen, deren Männer für längere Zeit von zu Hause weg sind, eine Reinfibulation als Zeichen der Treue (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 76; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 11).

Gesellschaftlich verliert die Frage einer Deinfibulation oder Reinfibulation nach einer Eheschließung generell an Bedeutung, da die Vorgabe der Reinheit/Jungfräulichkeit irrelevant geworden ist (LIFOS 16.4.2019, S. 40). Für verheiratete oder geschiedene Frauen und für Witwen gibt es keinen Grund, eine Jungfräulichkeit vorzugeben (CEDOCA 13.6.2016, S. 6).

Wird eine Frau vor einer Geburt deinfibuliert, kann es vorkommen, dass nach der Geburt eine Reinfibulation stattfindet. Dies obliegt i.d.R. der Entscheidung der betroffenen Frau (LIFOS 16.4.2019, S. 40; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 26). Die Gesellschaft hat kein Problem damit, wenn eine Deinfibulation nach einer Geburt bestehen bleibt, und es gibt üblicherweise keinen Druck, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Viele Frauen fragen aber offenbar von sich aus nach einer (manchmal nur teilweisen) Reinfibulation (CEDOCA 13.6.2016, S. 9f/26). Gemäß Angaben einer Quelle ist eine derartige - von der Frau verlangte - Reinfibulation in Somalia durchaus üblich. Manche Frauen unterziehen sich demnach mehrmals im Leben einer Reinfibulation (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73/75f). Nach anderen Angaben kann ein derartiges Neu-Vernähen der Infibulation im ländlichen Raum vorkommen, ist in Städten aber eher unüblich (FIS 5.10.2018, S. 29). Die Verbreitung variiert offenbar auch geographisch: Bei Studien an somalischen Frauen in Kenia haben sich 35 von 57 Frauen einer Reinfibulation unterzogen. Gemäß einer anderen Studie entscheiden sich in Puntland 95 % der Frauen nach einer Geburt gegen eine Reinfibulation (CEDOCA 9.6.2016, S. 13f). Insgesamt gibt es zur Reinfibulation keine Studien, die Prävalenz ist unbekannt. Eine Wissenschaftlerin, die sich seit Jahren mit FGM in Somalia auseinandersetzt, sieht keine Grundlage dafür, dass nach einer Geburt oder Scheidung systematisch eine Reinfibulation durchgeführt wird – weder in der Vergangenheit noch in der heutigen Zeit. Im somalischen Kontext wird demnach eine Infibulation durchgeführt, um die Jungfräulichkeit vor der Ehe zu „beweisen“. Dementsprechend macht es keinen Sinn, eine verheiratete Frau nach der Geburt zu reinfibulieren (Landinfo 14.9.2022, S. 12f).

Freilich kann es vorkommen, dass eine Frau – wenn sie z.B. physisch nicht in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen – auch gegen ihren Willen einer Reinfibulation unterzogen wird; die Entscheidung treffen in diesem Fall weibliche Verwandte oder die Hebamme. Es kann auch nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Frauen durch Druck von Familie, Freunden oder dem Ehemann zu einer Reinfibulation gedrängt werden. Insgesamt hängt das Risiko einer Reinfibulation also zwar vom Lebensumfeld und der körperlichen Verfassung der Frau nach der Geburt ab, aber generell liegt die Entscheidung darüber bei ihr selbst. Sie kann sich nach der Geburt gegen eine Reinfibulation entscheiden. Es kommt in diesem Zusammenhang weder zu Zwang noch zu Gewalt. Keine der zahlreichen, von der schwedischen COI-Einheit LIFOS dazu befragten Quellen hat jemals davon gehört, dass eine deinfibulierte Rückkehrerin nach Somalia dort zwangsweise reinfibuliert worden wäre (LIFOS 16.4.2019, S. 41).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Beschwerdeführern:

Soweit in der gegenständlichen Entscheidung Feststellungen zum Namen und Geburtsdatum der Beschwerdeführer getroffen wurden, beruhen diese auf den Angaben der Erstbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, in der Beschwerde sowie in der mündlichen Verhandlung (S. 10f der Niederschrift der Verhandlung).

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Clan- und Religionszugehörigkeit, zur Herkunft und zu den Sprachkenntnissen der Beschwerdeführer, zur Schulbildung sowie zur (fehlenden) Arbeitserfahrung der Erstbeschwerdeführerin in Somalia, zu dem Zusammenleben in Hargeysa sowie zu dem Aufenthaltsort des Ehemannes, der Schwiegereltern sowie der Onkel und Tanten der Erstbeschwerdeführerin und dem Kontakt zu einem Onkel stützen sich auf ihre diesbezüglichen Angaben im bisherigen Verfahren (vgl. etwa AS 81ff; S. 15ff der Niederschrift der Verhandlung), auf die Kenntnis und Verwendung der Sprache Somali sowie auf die Kenntnis der geografischen Gegebenheiten Somalias. Dass der derzeitige Aufenthaltsort der Eltern der Erstbeschwerdeführerin nicht festgestellt werden kann, beruht ebenfalls auf ihren Angaben (zum Familienstand der Erstbeschwerdeführerin sowie zu allenfalls weiteren Kindern der Erstbeschwerdeführerin siehe unten).

Die Einreise sowie das Datum der Antragstellungen ergeben sich ebenso wie die (jeweilige) Gewährung subsidiären Schutzes aus dem Akteninhalt.

Die Feststellung, dass die Beschwerdeführer im Wesentlichen gesund sind, beruht auf den Angaben der Erstbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung, wonach es ihnen grundsätzlich gut gehe; die Erstbeschwerdeführerin hat Kopfschmerzen und Schmerzen in den Beinen, wogegen sie behandelt wird (AS 78; S. 6 der Niederschrift der Verhandlung). Die Feststellung zur Arbeitsfähigkeit der Erstbeschwerdeführerin stützt sich insbesondere auf den Umstand, dass eine Arbeitsunfähigkeit nicht behauptet wurde und auch sonst im Verfahren nicht hervorgekommen ist.

Die Feststellung zur Unbescholtenheit der Erstbeschwerdeführerin ergibt sich aus einer Einsichtnahme in das Strafregister; der minderjährige Zweitbeschwerdeführer ist strafunmündig.

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer:

Das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin, wonach sie in Somalia einer Bedrohung bzw. Verfolgung durch ihren Ehemann bzw. durch ihren Onkel und dessen Frau ausgesetzt sei, ist aus nachstehenden Gründen nicht glaubhaft:

Auffallend war zunächst, dass die Erstbeschwerdeführerin in ihrer polizeilichen Erstbefragung angab, Somalia wegen ihres Ex-Mannes, der sie misshandelt und geschlagen habe, verlassen zu haben (AS 17). In der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl setzte die Erstbeschwerdeführerin den Fokus ihrer Fluchtgründe demgegenüber anders und betonte das Aufwachsen im Haus ihres Onkels und die insbesondere von dessen Frau ausgehende Gewalt; sie sei anschließend von ihrem Onkel zwangsverheiratet worden, auch ihr damaliger Ehemann habe sie geschlagen (AS 85). In der Beschwerdeverhandlung führte die Erstbeschwerdeführerin lediglich fort, Angst zu haben, dass „sie“ sie töten und konkretisierte auf entsprechende Nachfrage, dass sie ihren Ex-Mann und ihre Onkel meine (S. 16 der Niederschrift der Verhandlung). Demgegenüber hatte sie in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich einer vermeintlichen Gefahr lediglich jenen Onkel angesprochen, bei dem sie aufgewachsen sei.

Im Hinblick auf die vermeintlich fluchtauslösenden Ereignisse mussten nahezu sämtliche Umstände hinsichtlich Zeit, Ort sowie Art und Weise der vermeintlichen Geschehnisse einzeln und zum Teil wiederholt erfragt werden, wobei sich das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin auf überwiegend oberflächliche Angaben beschränkte und sowohl hinsichtlich ihrer persönlichen Lebensumstände als auch hinsichtlich ihrer Fluchtgründe Divergenzen in den einzelnen Einvernahmen vorlagen. Bemerkenswert ist überdies, dass die Erstbeschwerdeführerin kaum von konkreten Situationen berichtete, sondern sich ihre Ausführungen überwiegend auf allgemeine und pauschale Aussagen beschränkten.

Das Vorbringen einer Verfolgung durch ihren Ehemann, mit dem die Erstbeschwerdeführerin zwangsweise verheiratet worden sei und vier Kinder bekommen sowie viele Jahre verbracht habe, ist bereits dadurch geschwächt, dass die Erstbeschwerdeführerin – selbst auf entsprechende Nachfrage – kaum etwas über die Person des vermeintlichen Gefährders erzählen konnte und ihn nicht einmal optisch beschrieb, sondern schlichtweg antwortete: „Ich kannte ihn nicht, mein Onkel hat mich gezwungen, dass ich ihn heirate.“ (S. 14 der Niederschrift der Verhandlung). In der mündlichen Verhandlung relativierte sie überdies eine von ihrem Ehemann ausgehende Bedrohung teilweise, in dem sie zugestand, dass sie versucht habe, zu entkommen, weil die Angehörigen ihres Ehemannes sie ständig beleidigt hätten und sie niemanden gekannt habe; es sei anstrengend für sie gewesen (S. 16 der Niederschrift der Verhandlung).

Die Erstbeschwerdeführerin brachte zudem vor, drei weitere minderjährige Kinder in Somalia zu haben; auch zu diesen tätigte sie teilweise unstimmige Angaben. Während sie vor der belangten Behörde noch äußerte, dass der Vater der Kinder mit ihnen lebe und er ihr nicht erlaubt hätte, mit den Kindern auszureisen (AS 81), brachte sie in der mündlichen Verhandlung vor, die Großmutter, bei der die Kinder gewesen seien, sei verstorben; sie wisse nicht, wo sich ihre Kinder derzeit aufhalten, sie würden jedoch nicht mehr in Hargeysa leben. Auf Nachfrage führte die Erstbeschwerdeführerin sodann fort, dass die Kinder bei der Schwester der Großmutter leben würden; sie wisse jedoch nicht warum und auch nicht wer dies entschieden habe. Zuletzt habe sie im Juni 2024 Kontakt mit ihnen gehabt (S. 9f der Niederschrift der Verhandlung). Die Erstbeschwerdeführerin gab ebenfalls an, nicht hinterfragt zu haben, weshalb sich die Kinder nicht bei ihrem Vater aufhalten würden (S. 10 der Niederschrift der Verhandlung). Bereits vor diesem Hintergrund gelang es ihr nicht, ein nachvollziehbares Gesamtbild hinsichtlich ihrer persönlichen Umstände zu vermitteln. Die Schilderung der Lebensumstände spricht – auch aufgrund von Unstimmigkeiten in den jeweiligen Einzelheiten – zumindest als weiteres Indiz gegen die Glaubwürdigkeit der Erstbeschwerdeführerin. In diesem Zusammenhang ist auch zu betonen, dass die Erstbeschwerdeführerin auf die Frage nach dem Grund ihrer Beschwerden gegen die Nichtzuerkennung von Asyl festhielt, wegen ihrer Kinder Asyl zu begehren, da sie vermeiden wolle, dass ihre Töchter verstümmelt oder zwangsverheiratet werden (S. 10 der Niederschrift der Verhandlung).

Seltsam mutet zudem an, dass die Erstbeschwerdeführerin während ihrer freien Erzählung in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl folgenden Satz äußerte: „[…] Auch mein letzter Ehemann hat mich missbraucht und geschlagen, mir meine Hand gebrochen […].“ (AS 85), wobei sie zu keinem Zeitpunkt klarstellte, weshalb genau sie von einem „letzten“ Ehemann gesprochen habe. Schließlich verstrickte sie sich hinsichtlich ihres derzeitigen Familienstandes in Widersprüche, indem sie einerseits angab, ledig zu sein und andererseits wenig später festhielt, dass sie und ihr Mann sich in der Türkei hätten scheiden lassen (AS 81). Diesbezüglich in der mündlichen Verhandlung befragt, führte sie sodann aus, geflüchtet zu sein und sich selbst entschieden zu haben, sich zu trennen; eine Frau könne sich von selbst scheiden lassen, wenn sie sich von dem Mann befreie (S. 14 der Niederschrift der Verhandlung), wobei diese Ausführungen oberflächlich blieben und im Widerspruch sowohl zu den Regeln des Islam als auch zu den Länderberichten stehen, wonach für die Auflösung einer Ehe durch die Frau (auch) nach traditionellem Recht ein bestimmtes Prozedere vorgesehen ist. Bezüglich der thematisierten Verletzungen bzw. Narben ist anzumerken, dass die Verletzungen der Erstbeschwerdeführerin keinen Rückschluss auf deren Entstehung zulassen.

In Bezug auf das – in der Erstbefragung noch gänzlich unerwähnte – Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin, von ihrem Onkel und insbesondere von dessen Frau schlecht behandelt worden zu sein, ist festzuhalten, dass bereits die Umstände rund um das Aufwachsen der Erstbeschwerdeführerin überwiegend unschlüssig und widersprüchlich präsentiert wurden, sodass die Grundlage für ein Zusammenleben mit dem Onkel in Zweifel zu ziehen ist. So ist etwa nicht nachvollziehbar, dass die Mutter der Erstbeschwerdeführerin diese im Kleinkindalter in Hargeysa bei ihrer Familie zurücklassen würde, obwohl sie (die Mutter) wegen ihrer Eheschließung ohne Zustimmung ihrer Familie mit dieser „Probleme“ bekommen habe (S. 11 der Niederschrift der Verhandlung). Die Erstbeschwerdeführerin konnte zudem keinen überzeugenden Grund für ein derartiges Verhalten ihrer Mutter nennen (S. 11 der Niederschrift der Verhandlung). Darüber hinaus verstrickte sie sich hinsichtlich der (vorgebracht einzigen) Kontaktaufnahme ihrer Mutter im Jahr 2016 in Widersprüche: Während sie vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl noch angegeben hatte, sie habe erst im Jahr 2016 mehr von ihrem Vater erfahren und ihre Mutter habe ihr dabei auch erzählt, dass der Clan (des Vaters) in XXXX und teilweise in XXXX lebe (AS 86), führte sie in der mündlichen Verhandlung aus, Inhalt des Gespräches mit ihrer Mutter sei lediglich das Thema gewesen, weshalb die Mutter sie zurückgelassen und warum die Mutter sie nicht mitgenommen habe, woraufhin die Mutter ihre Angst vor den Geschwistern und ihre finanzielle Situation ins Treffen geführt habe (S. 12 der Niederschrift der Verhandlung). Dass der Grund des Anrufes ihrer Mutter der Tod des Großvaters der Erstbeschwerdeführerin gewesen sein soll (S. 12 der Niederschrift der Verhandlung), überzeugt vor dem Hintergrund der zuvor getätigten Aussage, die Mutter habe mit ihrer Familie „Probleme“ bekommen und habe Angst vor ihren Geschwistern, ebenfalls nicht.

Die Erstbeschwerdeführerin gab zudem an, als Angehörige der XXXX einen Clanangehörigen der Isaaq geheiratet zu haben. Diesbezüglich führte sie insbesondere aus, ihr Ehemann habe ihren Onkel aufgesucht, um um ihre Hand anzuhalten. Konkret danach gefragt, ob es ihren Ehemann als Clanangehörigen der Isaaq nicht gestört habe, eine Clanangehörige der XXXX zu heiraten, antwortete die Erstbeschwerdeführerin ausweichend und brachte vor, seine Mutter habe immer geäußert, sie sei es nicht wert, dass ihr Sohn sie heirate (S. 17 der Niederschrift der Verhandlung). Überdies führte sie erstmals im Verfahren aus, dass die Familie ihres Mannes mit der Eheschließung einverstanden gewesen sei, da er süchtig gewesen sei und keine Verantwortung übernommen habe; er habe Drogen genommen und sei „immer benebelt“ gewesen (S. 17 der Niederschrift der Verhandlung). Demgegenüber geht aus den Länderberichten hervor, dass weiterhin Vorbehalte gegen Mischehen bestehen, diese von den Clans Isaaq und Darod vehement abgelehnt werden und die Konsequenz einer Mischehe oftmals die Verstoßung des Eheteils ist, der von einem „noblen“ Clan stammt. Lediglich ergänzend sei an dieser Stelle überdies erwähnt, dass sich die Erstbeschwerdeführerin auch hinsichtlich der Berufstätigkeit ihres Ehemannes widersprach: So führte sie in der Einvernahme vor der belangten Behörde aus, sie wisse nicht, was ihr Ehemann arbeite (AS 82), während sie in der mündlichen Verhandlung angab, er habe nicht gearbeitet (S. 17 der Niederschrift der Verhandlung).

Selbst die Schilderung rund um die Geschehnisse im Zuge der Ausreise enthält kaum stimmige Details. Die Erstbeschwerdeführerin hielt vor der belangten Behörde fest, immer in Hargeysa gelebt zu haben (AS 83). Andererseits gab sie an, in Mogadischu im Spital eine Frau kennengelernt zu haben, welche sie in die Türkei begleitet habe (AS 86). In der Beschwerdeverhandlung führte sie demgegenüber aus, Hargeysa Ende März 2021 (somit wenige Wochen nach der Geburt des Zweitbeschwerdeführers) verlassen zu haben. Bis Juli 2021 sei sie in Mogadischu bei einer Schulfreundin gewesen (S. 18 der Niederschrift der Verhandlung).

Vor dem Hintergrund der bereits erfolgten Eheschließung in Somalia sowie der Geburt des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers wurde auch das Vorbringen hinsichtlich einer der Erstbeschwerdeführerin in Somalia drohenden Reinfibulation relativiert. Diesbezüglich geht bereits aus den wiedergegebenen Länderberichten hervor, dass die Frage einer Reinfibulation nach einer Eheschließung gesellschaftlich generell an Bedeutung verliert, da kein Grund für das Vortäuschen einer Jungfräulichkeit besteht. Nach der Geburt eines Kindes obliegt die Entscheidung zudem der betroffenen Frau; es besteht grundsätzlich kein Druck, sich einer Reinfibulation zu unterziehen und es kommt in diesem Zusammenhang weder zu Zwang noch zu Gewalt. Die Erstbeschwerdeführerin gab an, keine Reinfibulation zu wünschen; eine solche sei nach der Geburt des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers auch nicht durchgeführt worden.

Nicht verkannt wird, dass sich aus den Länderberichten zu Somalia insbesondere ergibt, dass sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen ein großes Problem bleibt. Eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit, dass jede Frau in Somalia gleichermaßen Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt wird, ist den Länderinformationen jedoch nicht zu entnehmen. Die Erstbeschwerdeführerin wäre im Falle einer Rückkehr nach Somalia auch keine alleinstehende Frau, zumal – wie soeben dargestellt – ihrem Fluchtvorbringen nicht gefolgt werden konnte.

Letztlich bleibt in Bezug auf den minderjährigen Zweitbeschwerdeführer zu erwähnen, dass eine (aktuelle und individuelle) Bedrohung bzw. Verfolgung des Zweitbeschwerdeführers im gesamten bisherigen Verfahren mehrfach ausdrücklich verneint und um eine Entscheidung im Familienverfahren ersucht wurde.

In einer Gesamtbetrachtung der dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen sowie unter Berücksichtigung des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Beschwerdeverhandlung konnte die Erstbeschwerdeführerin nicht glaubhaft machen, dass ihr und ihrem minderjährigen Sohn, dem Zweitbeschwerdeführer, in Somalia eine aktuelle asylrelevante Verfolgung droht.

Die Feststellung, wonach das Vorliegen anderer Verfolgungsgründe aufgrund von Religion, Nationalität, politischer Einstellung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder ethnischer Zugehörigkeit nicht konkret vorgebracht wurde und Hinweise für eine solche Verfolgung auch amtswegig nicht hervorgekommen sind, ergibt sich aus der Aktenlage, insbesondere aus der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, der durchgeführten mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie aus dem Umstand, dass die Erstbeschwerdeführerin keine Hinweise auf das Vorliegen einer solchen Verfolgung vorgebracht hat bzw. nicht einmal ein Hinweis auf eine solche amtswegig zu ersehen war.

2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht (wesentlich) geändert haben.

Der Erstbeschwerdeführerin wurde Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme zu den Länderberichten eingeräumt; sie ist diesen nicht substantiiert entgegengetreten.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Die Beschwerden sind rechtzeitig und zulässig.

3.2. Zu A) Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zuge-hörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der Genfer Flüchtlingskonvention ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 mwN). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 06.09.2018, Ra 2017/18/0055; vgl. auch VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100, mwN).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Herkunftsstaates bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Herkunftsstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (vgl. etwa VwGH 25.09.2018, Ra 2017/01/0203; 26.06.2018, Ra 2018/20/0307, mwN).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Herkunftsstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. etwa VwGH 12.06.2018, Ra 2018/20/0177; 19.10.2017, Ra 2017/20/0069). Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Begriff der „Glaubhaft-machung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften im Sinne der ZPO zu verstehen. Es genügt daher, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, das heißt er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG, § 45, Rz 3, mit Judikaturhinweisen). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden Verwaltungsgerichtes vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom Verwaltungsgericht nicht getroffen werden (VwGH 28.06.2016, Ra 2018/19/0262; vgl. auch VwGH 18.11.2015, Ra 2015/18/0237-0240, mwN). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl begründete die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten im Wesentlichen damit, dass die Beschwerdeführer keine (drohende) Verfolgung aus Gründen der Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft gemacht haben. Mit dieser Beurteilung ist das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – wie beweiswürdigend dargelegt – im Ergebnis im Recht.

Da sich aus den Verfahrensergebnissen – unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien sowie der Leitlinien der EUAA zu Somalia – auch sonst keine konkrete gegen die Beschwerdeführer gerichtete (drohende) Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat ableiten ließ, sind die Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte I. der angefochtenen Bescheide als unbegründet abzuweisen.

3.3. Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidungen nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängen, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weichen die gegenständlichen Entscheidungen von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal die vorliegenden Fälle vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln sind. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar. Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist – soweit diese nicht unvertretbar ist – nicht revisibel (vgl. z.B. VwGH 30.08.2018, Ra 2018/21/0149, mwN).