Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Doblinger, den Hofrat Mag. Feiel und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Hahn, LL.M., über die außerordentliche Revision 1. des Disziplinarrats der Österreichischen Ärztekammer Disziplinarkommission für Salzburg und 2. des Disziplinaranwalts beim Disziplinarrat der Österreichischen Ärztekammer in Salzburg, beide vertreten durch die Haslinger/Nagele Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Salzburg vom 17. Dezember 2024, 405 8/2237/1/8 2024, betreffend Disziplinarverfahren nach dem Ärztegesetz 1998 (weitere Partei: Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz; mitbeteiligte Partei: Univ. Prof. Dr. A B, vertreten durch Dr. Georg Prchlik, Rechtsanwalt in Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Der Mitbeteiligte ist Arzt für Allgemeinmedizin und Facharzt für Innere Medizin.
2Mit Disziplinarerkenntnis vom 21. Mai 2024 erkannte der Disziplinarrat der Österreichischen Ärztekammer Disziplinarkommission für Salzburg den Mitbeteiligten schuldig, im Zeitraum von Jänner 2023 bis Juli 2023 ärztliche Gutachten zur vorläufigen Impfunfähigkeit mit einem monovalenten oder polyvalenten Masernvirus enthaltenden Impfstoff ohne gewissenhafte ärztliche Untersuchung und genauer Erhebung der im Zeugnis zu bestätigenden Tatsachen ausgestellt zu haben. Der Mitbeteiligte habe dadurch die Disziplinarvergehen gemäß § 136 Abs. 1 Z 1 und Z 2 iVm § 55 Ärztegesetz 1998 (ÄrzteG 1998) begangen. Über den Mitbeteiligten wurde gemäß § 139 Abs. 1 Z 2 ÄrzteG 1998 eine Geldstrafe in der Höhe von € 10.000, verhängt. Weiters wurde der Mitbeteiligte zur Tragung der mit € 1.600 bestimmten Kosten des Disziplinarverfahrens verpflichtet.
3Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Landesverwaltungsgericht Salzburg (Verwaltungsgericht) der Beschwerde des Mitbeteiligten statt, hob das Disziplinarerkenntnis auf und sprach den Mitbeteiligten gemäß § 161 Abs. 1 ÄrzteG 1998 frei. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte es für nicht zulässig.
4 Das Verwaltungsgericht stellte zusammengefasst fest, der Mitbeteiligte habe zu konkret angeführten Zeitpunkten jeweils ein „ärztliches Gutachten zur Impfunfähigkeit mit einem monovalenten oder polyvalenten Masernvirus enthaltenden Impfstoff“ für näher bezeichnete Kinder erstattet. Die „Gutachten“ würden (auszugsweise und exemplarisch) folgenden Wortlaut aufweisen:
„Aufgrund meiner ärztlichen Einschätzung und Bewertung komme ich nach freiem Ermessen zu folgender gutachterlicher Einschätzung:
Bis zum Ausschluss einer möglichen, schwerwiegenden Allergie gegen einen der Inhaltsstoffe der in den in der EU zugelassenen monovalenten oder polyvalenten das Masernvirus, Mumpsvirus, Rötelnvirus und Varizella Zoster Virus enthaltenden Impfstoffe durch eine amtsärztlich veranlasste, allergologische Abklärung soll bei [...] keine Impfung gegen das Masern Virus erfolgen. Bis zur o.g. Vorstellung und Abklärung durch ein allergologisches Zentrum und eine abschließende Feststellung einer Impfunfähigkeit durch einen Amtsarzt ist [Vor und Familienname, Name ...] daher vorläufig impfunfähig. Diese Bescheinigung gilt bis zur o.g. Abklärung, spätestens bis zum [...].
Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem Gutachten um ein schriftliches Gutachten aufgrund einer vorliegenden Aktenlage ohne erneute (körperliche) Untersuchung handelt und dass daher keine abschließende Beurteilung abgegeben werden kann.“
Den „Gutachten“ sei jeweils eine „Begründung“ angeschlossen gewesen, wonach die näher angeführten Impfstoffe potentiell allergene Stoffe enthalten würden, wobei in der Gebrauchsinformation darauf hingewiesen werde, dass der Impfstoff nicht angewendet werden dürfe, wenn die zu impfende Person allergisch auf einen der Inhaltsstoffe oder Bestandteile des Impfstoffes reagiere. Nach den Angaben der begutachteten Person könne nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass diese eine allergische Disposition gegenüber einem oder mehreren der Inhaltsstoffe des Impfstoffes aufweise. Abschließend werde festgehalten, dass aufgrund der ärztlichen Expertise des Gutachters bis zur Feststellung einer Unbedenklichkeit der Impfung bzw. einer diesbezüglichen allergologischen Abklärung keine Impfung mit einem Masernimpfstoff erfolgen solle. Zudem werde in der Begründung ausgeführt, dass die Ausstellung einer dauerhaften Impfunfähigkeitsbescheinigung bzw. die Bescheinigung der Impffähigkeit nach Ausschluss einer entsprechend allergischen Reaktion nur durch den behandelnden Allergologen oder einen Amtsarzt erfolgen könne.
Die Informationen zum Allergiestatus der zu begutachtenden Person sei jeweils über einen auf einer näher genannten Internetplattform hochzuladenden Fragebogen erhoben worden, der in der Regel von den Eltern der Kinder ausgefüllt worden sei. Die Erhebungen hätten sich lediglich auf die Frage bezogen, ob eine Allergie gegen die Impfstoffe ausgeschlossen werden könne.
5Rechtlich beurteilte das Verwaltungsgericht diesen Sachverhalt nach Wiedergabe maßgeblicher Rechtsvorschriften und unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zusammengefasst dahingehend, dass die gegenständlichen Gutachten von § 55 ÄrzteG 1998 umfasst seien. Der Verwaltungsgerichtshof schließe in seiner ständigen Rechtsprechung nicht aus, dass die Ausstellung eines ärztlichen Zeugnisses ausnahmsweise auch ohne vorherige (körperliche) Untersuchung gesetzmäßig sein könne. Die Prüfung der Pflichtverletzung sei jeweils nach den besonderen Umständen des Falles, also vor dem Hintergrund der im Zeugnis zu bestätigenden Tatsachen vorzunehmen. Ein derartiger Ausnahmefall liege vor, weil in den Gutachten lediglich die Tatsache bestätigt worden sei, dass die verwendeten Impfstoffe potentiell allergene Stoffe enthalten würden, und zum anderen die durch einen Fragebogen ermittelte Tatsache, dass nicht bekannt sei, ob die Person bei Verabreichung des Impfserums allergisch reagieren werde. Daraus habe der Mitbeteiligte den Schluss gezogen, dass aus seiner ärztlichen Sicht die MasernImpfung nicht verabreicht werden solle, solange eine allfällige allergische Reaktion durch medizinische Tests nicht geklärt sei. Die ärztliche Feststellung der Impfunfähigkeit, also die Risikobeurteilung einer Impfung, werde fallbezogen nicht etwa auf einen Gesundheits- oder Krankheitszustand der beurteilten Person gestützt, der durch eine Untersuchung hätte erhoben werden müssen, sondern allein auf eine nicht ausgeschlossene allergische Reaktion. Es sei nicht erkennbar, welche weitere Untersuchung erforderlich gewesen wäre, um bescheinigen zu können, dass eine allergische Reaktion nicht auszuschließen sei, solange diese durch Kontakt mit dem Allergen oder durch einen „Allergietest“ bestätigt oder verneint worden sei. Somit würden die gegenständlichen Gutachten lediglich die grundsätzliche Möglichkeit, auf Impfstoffe allergisch zu reagieren, bescheinigen und die Bescheinigung aufgrund konkreter Information über das Nichtvorliegen einer Allergieausschlussdiagnostik für diese Person individualisiert. Es handle sich um eine Übertragung einer ohnehin allgemein gültigen Aussage auf eine konkrete Einzelperson. Die belangte Behörde habe dem Mitbeteiligten lediglich pauschal die Verletzung der Untersuchungs- und Erhebungspflicht im Sinn des § 55 ÄrzteG 1998 vorgeworfen und nicht geprüft, ob die Schlussfolgerung, dass bei einem nicht festgestellten Allergieausschluss bereits eine „Impfunfähigkeit“ vorliege, den wissenschaftlichen Erkenntnissen oder medizinischen Erfahrungen widerspreche. Abschließend wies das Verwaltungsgericht darauf hin, dass die ärztliche Fachmeinung des Mitbeteiligten, wonach bei fehlender Allergieabklärung eine „Impfunfähigkeit“ vorliege, in der einschlägigen Fachliteratur nicht geteilt werde. Dem Mitbeteiligten sei jedoch nicht die Ausstellung eines Gutachtens mit einem nicht dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Inhalt vorgeworfen worden.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision des Disziplinarrates der Österreichischen Ärztekammer, Disziplinarkommission für Salzburg sowie des Disziplinaranwalts.
7 Der Mitbeteiligte erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Vorverfahren eine Revisionsbeantwortung, in der er die kostenpflichtige Zurück- bzw. Abweisung der Revision beantragte sowie eine Stellungnahme zur Revisionsbeantwortung der Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz abgab.
8 Die Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz hat nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof eine Revisionsbeantwortung eingebracht.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9In der Revision wird zur Zulässigkeit unter anderem ein Abweichen von näher dargelegter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verpflichtung nach § 55 ÄrzteG 1998 geltend gemacht.
10 Die Revision erweist sich im Hinblick darauf als zulässig; sie ist auch begründet.
11Nach § 55 ÄrzteG 1998 darf ein Arzt ärztliche Zeugnisse nur nach gewissenhafter ärztlicher Untersuchung und nach genauer Erhebung der im Zeugnis zu bestätigenden Tatsachen nach seinem besten Wissen und Gewissen ausstellen.
12Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind sowohl ärztliche Zeugnisse sowie ärztliche Gutachten von § 55 ÄrzteG 1998 umfasst (vgl. dazu grundlegend VwGH 22.9.2021, Ro 2020/09/0016). Der Verwaltungsgerichtshof hat ebenfalls bereits festgehalten, dass ein für eine bestimmte Person ausgestelltes ärztliches Gutachten, mit dem das Risiko einer konkreten Impfung für eine individuelle Patientin beurteilt werden soll, von § 55 ÄrzteG 1998 umfasst ist (vgl. VwGH 22.3.2023, Ra 2022/09/0122; denselben Mitbeteiligten betreffend: VwGH 3.9.2024, Ra 2023/09/0140, 0141 [„Gutachten zur vorläufigen Impfunfähigkeit“ iZm SARS CoV 2Impfungen]) und daher grundsätzlich nur nach gewissenhafter ärztlicher Untersuchung ausgestellt werden darf (vgl. neuerlich VwGH 22.3.2023, Ra 2022/09/0122).
13Die vom Mitbeteiligten ausgestellten „Gutachten zur Impfunfähigkeit mit einem monovalenten oder polyvalenten Masernvirus enthaltenen Impfstoff“ sind daher zweifellos von § 55 ÄrzteG 1998 umfasst.
14Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist nach den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen, ob in der Ausstellung eines ärztlichen Zeugnisses ohne eine ärztliche Untersuchung ein Verstoß gegen die in § 55 ÄrzteG 1998 auferlegte Verpflichtung zu sehen ist, wobei allerdings die Ausstellung eines ärztlichen Zeugnisses ohne vorherige Untersuchung als Ausnahmefall einer nachvollziehbaren Begründung bedarf (vgl. abermals etwa VwGH 22.3.2023, Ra 2022/09/0122, mwN).
15 Eine solche Unvertretbarkeit der verwaltungsgerichtlichen Beurteilung liegt im Revisionsfall jedoch vor. Das Verwaltungsgericht hat das Vorliegen eines Ausnahmefalls damit begründet, dass mit den gegenständlichen Gutachten lediglich die grundsätzliche Möglichkeit auf Impfstoffe allergisch zu reagieren bescheinigt werde und diese Bescheinigungen aufgrund konkreter Information einer Person über das Nichtvorliegen einer Allergieausschlussdiagnostik für diese Person individualisiert würden. Damit übergeht es jedoch, dass nach den Feststellungen mit den inkriminierten Bescheinigungen eine gegenwärtige Impfunfähigkeit des jeweiligen Kindes bestätigt wird („soll bei [...] keine Impfung gegen das MasernVirus erfolgen“), sohin das aktuelle Impfrisiko hinsichtlich einer derartigen Impfung individuell beurteilt wird und damit eine Abwägung des Risikos einer Erkrankung mit dem möglichen Risiko einer Impfung vorgenommen wird. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass eine derartige Einschätzung ohne persönlichen Kontakt und gewissenhafter ärztlicher Untersuchung lediglich aufgrund der ungeprüften Übernahme der Beantwortung der online gestellten Fragen zur Problematik, ob eine Allergie gegen die Impfstoffe ausgeschlossen werden könne, nicht den Anforderungen des § 55 ÄrzteG 1998 an eine nach bestem Wissen und Gewissen vorgenommene Ausstellung nach genauer Erhebung der zu bestätigenden Tatsachen entspricht. Dies umso mehr, als die ausgestellten Bescheinigungen Kinder betrafen (siehe zur Verpflichtung zu Maßnahmen zum Schutz eines Kindes abermals VwGH 22.3.2023, Ra 2022/09/0122, unter Hinweis auf VwGH 10.12.2014, Ro 2014/09/0056).
16Schon aus diesem Grund erweist sich das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes behaftet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Wien, am 4. September 2025