Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision des O O, vertreten durch Dr. Roland Deißenberger, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Dominikanerbastei 4, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 1. März 2023, VGW 151/023/15831/2022 13, betreffend Wiederaufnahme von Verfahren nach dem NAG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang seiner Anfechtung (Spruchpunkt I.) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
1 Dem angefochtenen Erkenntnis liegt auf das Wesentliche zusammengefasst folgender unbestritten gebliebener Sachverhalt zugrunde: Dem Revisionswerber, einem nigerianischen Staatsangehörigen, wurde vom Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) aufgrund seines Antrags vom 30. Juli 2015 gestützt auf seine am 23. Jänner 2014 geschlossene Ehe mit der in Österreich über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ verfügenden MI (ebenfalls eine nigerianische Staatsangehörige) ein Aufenthaltstitel „Rot Weiß Rot Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) erteilt. Dieser Aufenthaltstitel wurde ihm von der belangten Behörde aufgrund der Verlängerungsanträge vom 21. Juli 2016, 29. August 2017 und 16. Juli 2020 jeweils verlängert. Am 7. Juli 2022 stellte der Revisionswerber einen weiteren Verlängerungsantrag.
2 Mit Bescheid vom 14. November 2022 nahm die belangte Behörde die rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren über den Erstantrag des Revisionswerbers sowie über die Verlängerungsanträge vom 21. Juli 2016, 29. August 2017 und 16. Juli 2020 gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 iVm Abs. 3 AVG von Amts wegen wieder auf (Spruchpunkte 1.a. bis 1.d.). Unter einem wies sie den Erstantrag auf Grund des Vorliegens einer Aufenthaltsehe gemäß § 30 Abs. 1 NAG (Spruchpunkt 2.a.) und die drei genannten Verlängerungsanträge auf Grund des Vorliegens einer Aufenthaltsehe gemäß § 30 Abs. 1 NAG und mangels Vorliegens eines gültigen Aufenthaltstitels gemäß § 24 NAG ab (Spruchpunkt 2.b.). Auch den Verlängerungsantrag vom 7. Juli 2022 wies die belangte Behörde mit „Spruchpunkt 2.b.“ (gemeint wohl und daher in weiterer Folge: Spruchpunkt 2.c.) ab.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 1. März 2023 wies das Verwaltungsgericht Wien die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab (Spruchpunkt I.), verpflichtete ihn zum Ersatz näher bezeichneter Barauslagen (Spruchpunkt II.) und erklärte die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig (Spruchpunkt III.).
4 Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung zugrunde, die (mittlerweile am 13. Dezember 2018 wieder geschiedene) Ehe des Revisionswerbers mit MI sei zu dem Zweck geschlossen worden, dem Revisionswerber den legalen Aufenthalt im Bundesgebiet sowie den Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Ein tatsächliches Familienleben sei zu keinem Zeitpunkt entfaltet worden. In seiner Beweiswürdigung stützte sich das Verwaltungsgericht im Wesentlichen darauf, dass bei der Erörterung der Ehe und des Familienlebens der Revisionswerber und MI einen unglaubwürdigen und unsicheren Eindruck hinterlassen hätten und in ihren Aussagen etliche (näher dargestellte) Widersprüche aufgetreten seien. Zudem habe der Revisionswerber drei Monate nach der Scheidung von MI erneut eine Ehe mit einer nigerianischen Staatsangehörigen geschlossen.
5 Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht, die Voraussetzungen zur amtswegigen Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 AVG seien erfüllt, weil der Revisionswerber eine Heiratsurkunde und weitere Unterlagen vorgelegt habe, um den Eindruck zu erwecken, dass er mit MI eine aufrechte Ehe im Sinn des Art. 8 EMRK geführt habe. Ihm sei auch klar gewesen, dass dieses Verhalten lediglich dem Zweck gedient habe, die Behörde im Verfahren über Tatsachen zu täuschen, damit ihm ein Aufenthaltstitel erteilt werde. Das Verwaltungsgericht hielt weiters fest, Maßstab für die neue Entscheidung in einem wiederaufgenommenen Verfahren sei die Sach- und Rechtslage zum Entscheidungszeitpunkt. Da der Revisionswerber (infolge der Scheidung am 13. Dezember 2018) nicht mehr Familienangehöriger einer Zusammenführenden im Sinn des § 46 Abs. 1 NAG sei, seien der Erstantrag und die beiden Verlängerungsanträge vom 21. Juli 2016 und 29. August 2017 mangels Vorliegen der besonderen Erteilungsvoraussetzungen abzuweisen. Da der Revisionswerber nach erfolgter Wiederaufnahme über keinen Aufenthaltstitel verfüge, komme ihm auch kein eigenständiges Niederlassungsrecht im Sinn des § 27 Abs. 1 NAG zu. Zudem würden auch die besonderen Erteilungsvoraussetzungen nicht vorliegen. Daher seien auch die Verlängerungsanträge vom 16. Juli 2020 und 7. Juli 2022 abzuweisen.
6 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 4. Oktober 2023, E 1289/2023, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
In der Folge erhob der Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision, die sich erkennbar nur gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Erkenntnisses richtet.
7 Die belangte Behörde nahm von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Der Revisionswerber bringt in der Zulässigkeitsbegründung im Wesentlichen vor, er habe bereits in der Beschwerde an das Verwaltungsgericht und in einem (weiteren) Schriftsatz vom 3. Februar 2023 unter Angabe eines Beweisthemas die Einvernahme mehrerer von ihm namhaft gemachter Zeugen zum Nachweis dafür beantragt, dass zwischen ihm und MI ein Eheleben bestanden habe. Das Verwaltungsgericht habe die (zur Verhandlung am 13. Februar 2023 zwar nicht geladenen, aber dennoch stellig gemachten) Zeugen nicht einvernommen und dies im angefochtenen Erkenntnis auch nicht begründet. Die Angaben der Zeugen wären jedoch für die vor dem Verwaltungsgericht maßgebliche Frage der Beurteilung einer Aufenthaltsehe entscheidungsrelevant gewesen.
9 Die Revision ist in Bezug auf dieses Vorbringen unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG zulässig und auch begründet.
10 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist Beweisanträgen grundsätzlich zu entsprechen, wenn die Aufnahme des darin begehrten Beweises im Interesse der Wahrheitsfindung notwendig erscheint. Dementsprechend dürfen Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich ungeeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts beizutragen. Ob eine Beweisaufnahme in diesem Sinn notwendig ist, unterliegt der einzelfallbezogenen Beurteilung des Verwaltungsgerichtes. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG läge nur dann vor, wenn diese Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre und zu einem die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Ergebnis geführt hätte (vgl. etwa VwGH 3.2.2021, Ra 2021/22/0016, Rn. 13, mwN).
11 Es ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht zulässig, ein vermutetes Ergebnis noch nicht aufgenommener Beweise vorwegzunehmen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge ungeachtet der Ergebnisse des bisherigen Beweisverfahrens nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. etwa VwGH 20.10.2020, Ra 2020/22/0036, Rn. 10, mwN).
12 Im vorliegenden Fall beantragte der Revisionswerber in der Beschwerde sowie in den Schriftsätzen vom 3. bzw. 6. Februar 2023 die Einvernahme seines ehemaligen Schwiegervaters sowie mehrerer Freunde zum Nachweis dafür, dass zwischen ihm und MI ein Eheleben bestanden habe, und trat dem von der Behörde festgestellten Sachverhalt (im Hinblick auf die Annahme, es sei eine Aufenthaltsehe vorgelegen, weshalb der Revisionswerber seinen Aufenthaltstitel erschlichen habe und das Verfahren wiederaufzunehmen gewesen sei) entgegen. Hingewiesen wurde darauf, dass zu den Zeugen regelmäßiger Kontakt bestanden habe, gegenseitige Besuche erfolgt seien bzw. ein gemeinsames Wochenende verbracht worden sei.
13 Dem angefochtenen Erkenntnis lässt sich keine Begründung dafür entnehmen, warum diesen Beweisanträgen nicht entsprochen wurde. Es kann vorliegend auch nicht davon ausgegangen werden, dass unklar gewesen wäre, wozu die Zeugen befragt werden hätten sollen, dass es auf diese Beweismittel nicht ankäme bzw. dass die Durchführung der beantragten Vernehmungen keine abweichenden Feststellungen ermöglicht hätte und somit zu keinem anderen, für den Revisionswerber günstigeren Ergebnis führen hätten können (vgl. zur beantragten Vernehmung von Familienangehörigen, dort den Schwiegereltern, VwGH 22.1.2013, 2012/18/0184). Da sich das Verwaltungsgericht somit begründungslos ohne das Vorliegen der in der Rechtsprechung aufgestellten Kriterien zur Ablehnung von Beweisanträgen darzulegen über nicht von vornherein untaugliche Beweisanträge hinweggesetzt hat, ist es von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.
14 Das Verwaltungsgericht hat daher sein Erkenntnis im Hinblick auf die Wiederaufnahme des Verfahrens über den Erstantrag des Revisionswerbers sowie über die Verlängerungsanträge vom 21. Juli 2016, 29. August 2017 und 16. Juli 2020 mit Rechtswidrigkeit belastet (Spruchpunkte 1.a. bis 1.d. des Bescheides). Angesichts dessen können aber auch die durch das Verwaltungsgericht bestätigten Spruchpunkte 2.a. und 2.b. betreffend die Abweisung der genannten Anträge im wiederaufgenommenen Verfahren keinen Bestand haben. Gleiches gilt im Ergebnis für die Abweisung des Verlängerungsantrags des Revisionswerbers vom 7. Juli 2022 (Spruchpunkt 2.c. des Bescheides), weil jedenfalls der vom Verwaltungsgericht insoweit ins Treffen geführte Grund, wonach dem Revisionswerber mangels eines Aufenthaltstitels kein eigenständiges Niederlassungsrecht im Sinn des § 27 Abs. 1 NAG zukomme, infolge der Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses hinsichtlich der zuvor genannten Spruchpunkte des Bescheides der belangten Behörde weggefallen ist (siehe zu einer vergleichbaren Konstellation VwGH 10.11.2022, Ra 2022/22/0139, Rn. 13).
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher im Umfang seiner Anfechtung gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 Ausgehend davon erübrigt es sich, über den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung abzusprechen.
17 Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014. Das auf Ersatz der Umsatzsteuer gerichtete Mehrbegehren des Revisionswerbers war abzuweisen, weil in dem in der genannten Verordnung vorgesehenen Pauschalbetrag die Umsatzsteuer bereits enthalten ist (vgl. etwa VwGH 28.11.2023, Ra 2022/22/0043, Rn. 25, mwN).
Wien, am 27. Februar 2024
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