Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm sowie den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Lodi Fè, über die Revision der H H, vertreten durch Mag. Michael Binder, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 29. April 2022, VGW 151/064/4532/2022 2, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
1 Mit Bescheid vom 28. Dezember 2021 wies der Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) den Antrag der Revisionswerberin, einer kosovarischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Niederlassungsbewilligung Angehöriger“ gemäß § 47 Abs. 3 Niederlassungsund Aufenthaltsgesetz (NAG) gestützt auf § 21a Abs. 1 NAG ab, weil sie keine ausreichenden Kenntnisse der deutschen Sprache habe nachweisen können.
2 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht Wien mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab. Weiters sprach es aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
3Das Verwaltungsgericht stellte zusammengefasst fest, die Revisionswerberin habe am 24. August 2021 bei der Österreichischen Botschaft in Skopje den gegenständlichen Erstantrag gestellt. Sie habe keinen Nachweis von Kenntnissen der deutschen Sprache auf dem Niveau A1 erbracht. Einen Zusatzantrag auf Absehen von einem Sprachnachweis gemäß § 21a Abs. 5 NAG habe die Revisionswerberin trotz dahingehender Belehrung nicht gestellt. Die Revisionswerberin habe bei der Antragstellung ein Schreiben von Dr. KH, dem „Vertrauensarzt der Österreichischen Botschaft in Skopje auf dem Gebiet der Psychiatrie und Allgemeinmedizin“, vorgelegt. Das Verwaltungsgericht legte den Inhalt des Schreibens dar, wonach der Vertrauensarzt mit näherer Begründung zu dem Schluss komme, dass es der Revisionswerberin nicht möglich bzw. nicht zumutbar sei, die erforderlichen Deutschkenntnisse auf Niveau A1 zu erwerben. Allerdings könne so das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung weiteraus dem Schreiben des Vertrauensarztes nicht schlüssig und nachvollziehbar gefolgert werden, dass die Revisionswerberin physisch oder psychisch nicht in der Lage sei, einen Deutschnachweis zu erbringen. Das Schreiben des Vertrauensarztes lasse die für ein taugliches Sachverständigengutachten nach § 52 AVG erforderliche Vollständigkeit und Schlüssigkeit vermissen. Es könne daher nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerberin die Erbringung des Deutschnachweises unmöglich oder unzumutbar gewesen wäre. Somit komme die Ausnahmebestimmung des § 21a Abs. 4 Z 2 NAG nicht zum Tragen. Da eine besondere Erteilungsvoraussetzung für den beantragten Aufenthaltstitel nicht erfüllt sei, habe die belangte Behörde den Antrag der Revisionswerberin zu Recht abgewiesen.
4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die in ihrer Zulässigkeitsbegründung unter dem Aspekt einer Abweichung von näher angeführter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofeszusammengefasst vorbringt, dass sich die Revisionswerberin ohnehin an den von der österreichischen Behörde im Ausland zur Verfügung gestellten Vertrauensarzt gewandt habe. Wenn dessen Begutachtung nicht den Anforderungen an ein Gutachten genüge und der Revisionswerberin aber auch kein anderer Arzt zur Verfügung gestellt werde, werde ihr ein Nachweis gemäß § 21a Abs. 4 Z 2 NAG unmöglich gemacht.
5 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
6Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Revision ist aus dem in der Zulässigkeitsbegründung angeführten Grund zulässig; sie ist aus den nachfolgenden Erwägungen auch begründet.
8§ 21a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005, in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, lautet auszugsweise:
„ Nachweis von Deutschkenntnissen
§ 21a. (1) Drittstaatsangehörige haben mit der Stellung eines Erstantrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 8 Abs. 1 Z 2, 4, 5, 6, 8, 9 oder 10 Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen. Dieser Nachweis hat mittels eines allgemein anerkannten Sprachdiploms einer durch Verordnung gemäß Abs. 6 oder 7 bestimmten Einrichtung zu erfolgen, in welchem diese schriftlich bestätigt, dass der Drittstaatsangehörige über Kenntnisse der deutschen Sprache zumindest zur elementaren Sprachverwendung auf einfachstem Niveau verfügt. Das Sprachdiplom darf zum Zeitpunkt der Vorlage nicht älter als ein Jahr sein.
(4) Abs. 1 gilt nicht für Drittstaatsangehörige,
...
2. denen auf Grund ihres physischen oder psychischen Gesundheitszustandes die Erbringung des Nachweises nicht zugemutet werden kann; dies hat der Drittstaatsangehörige durch ein amtsärztliches Gutachten oder ein Gutachten eines Vertrauensarztes einer österreichischen Berufsvertretungsbehörde nachzuweisen; steht kein oder kein geeigneter Vertrauensarzt zur Verfügung, hat der Drittstaatsangehörige diesen Nachweis durch ein Gutachten eines sonstigen von der österreichischen Berufsvertretungsbehörde bestimmten Arztes oder einer von dieser bestimmten medizinischen Einrichtung zu erbringen,
(5) Die Behörde kann auf begründeten Antrag eines Drittstaatsangehörigen von einem Nachweis nach Abs. 1 absehen:
...
2.zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK (§ 11 Abs. 3).
Die Stellung eines solchen Antrages ist nur bis zur Erlassung des Bescheides zulässig. Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren; § 13 Abs. 3 AVG gilt.
...“
9Gemäß § 21a Abs. 1 NAG haben Drittstaatsangehörige mit der Stellung eines Erstantrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (unter anderem) gemäß § 8 Abs. 1 Z 6 NAG Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen. Der Nachweis hat mittels eines allgemein anerkannten Sprachdiploms (einer näher bestimmten Einrichtung) über Kenntnisse der deutschen Sprache zumindest zur elementaren Sprachverwendung auf einfachstem Niveau (A1 Niveau) zu erfolgen.
10Gemäß § 21a Abs. 4 Z 2 NAG haben Drittstaatsangehörige die Möglichkeit, durch ein amtsärztliches Gutachten oder ein Gutachten eines Vertrauensarztes einer österreichischen Berufsvertretungsbehörde nachzuweisen, dass ihnen auf Grund ihres physischen oder psychischen Gesundheitszustands der Nachweis der erforderlichen Deutschkenntnisse nicht zugemutet werden kann.
11Die Beurteilung des Vorliegens eines vom Drittstaatsangehörigen zu behauptenden und nachzuweisenden Unzumutbarkeitsgrundes im Sinn des § 21a Abs. 4 Z 2 NAG hat auf Basis eines entsprechenden ärztlichen Gutachtens (unter anderem eines Vertrauensarztes einer österreichischen Berufsvertretungsbehörde) zu erfolgen (vgl. VwGH 27.7.2017, Ra 2016/22/0066; vgl. auch VwGH 21.11.2023, Ra 2023/01/0258, zur vergleichbaren Bestimmung des § 10a Abs. 2 Z 3 Staatsbürgerschaftsgesetz). Allerdings trifft ein Verwaltungsgericht die Verpflichtung, im Rahmen der Begründung seiner Entscheidung ein Gutachten (auch eines Amtssachverständigen) auf seine Richtigkeit, Vollständigkeit und Schlüssigkeit hin zu prüfen, weshalb es gehalten ist, sich im Rahmen der Begründung seiner Entscheidung mit dem Gutachten auseinander zu setzen und dieses entsprechend zu würdigen (vgl. etwa VwGH 21.1.2019, Ra 2018/03/0130, mwN). Bei einem ergänzungsbedürftigen Gutachten hat es dessen Ergänzung zu veranlassen bzw. von Amts wegen weitere Ermittlungsschritte zu setzen (vgl. etwa VwGH 20.11.2018, Ra 2017/12/0123).
12 Im vorliegenden Fall stellte die Revisionswerberin am 24. August 2021 bei der Österreichischen Botschaft in Skopje einen Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels „Niederlassungsbewilligung Angehöriger“ und legte dem Antrag ein Schreiben Dris. KH vom 11. August 2021 bei. In diesem Schreiben hielt der Arzt abschließend fest, dass die geistige Leistungsfähigkeit der 59 jährigen Revisionswerberin aufgrund ihres körperlichen und geistigen Zustandes in Verbindung mit ihrer schlechten Ausbildung vermindert sei, sodass sie in dieser Hinsicht kaum in der Lage sei, Neues zu lernen. Infolgedessen kam Dr. KH zu dem Schluss, dass der Revisionswerberin der Erwerb der erforderlichen Deutschkenntnisse auf Niveau A1 nicht möglich bzw. nicht zumutbar sei.
13 Im vorliegenden Verfahren wurde weder von der belangten Behörde noch vom Verwaltungsgericht in Frage gestellt, dass Dr. KH als Vertrauensarzt der Österreichischen Botschaft in Skopje tätig ist.
14Der Verwaltungsgerichtshof hat darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber bereits durch die Anordnung einer Prüfung auf Basis eines Gutachtens eines Amtsarztes oder Vertrauensarztes in § 21a Abs. 4 Z 2 NAG implizit zum Ausdruck gebracht hat, dass ein solcher Arzt allenfalls unter Heranziehung einer ergänzenden fachlichen Expertise (etwa Beischaffung von fachärztlichen Befunden bzw. Stellungnahmen)grundsätzlich zu einer solchen Begutachtung in der Lage ist (vgl. VwGH 8.2.2022, Ra 2021/22/0190).
15Vor dem Hintergrund, dass die Revisionswerberin ihren Erstantrag zutreffend (vgl. § 21 Abs. 1 NAG) bei der Österreichischen Botschaft in Skopje gestellt und zum Nachweis der medizinischen Unzumutbarkeit der Erbringung der erforderlichen Deutschkenntnisse wie vom Gesetzgeber vorgesehenein Gutachten eines Vertrauensarztes iSd § 21a Abs. 4 Z 2 NAG vorgelegt hatte, in dem ihr eine Unzumutbarkeit im genannten Sinn attestiert wurde, hätte sich das Verwaltungsgericht (und auch die belangte Behörde) nicht auf den Standpunkt, dass die Begutachtung des Vertrauensarztes unschlüssig sei und nicht den Anforderungen eines Sachverständigengutachtens entspreche, zurückziehen und ihm somit von vornherein jeglichen Beweiswert absprechen dürfen. Vielmehr wäre es in einem Fall, in dem ein Gutachten eines Vertrauensarztes einer österreichischen Berufsvertretungsbehörde etwaige Unvollständigkeiten oder Unschlüssigkeiten aufweist, gehalten gewesen, zur Schaffung einer einwandfreien Entscheidungsgrundlage Ergänzungen durchzuführen oder allenfalls eine weitere fachliche Expertise heranzuziehen.
16Da das Verwaltungsgericht aufgrund einer unrichtigen Rechtsansicht demnach die für eine Beurteilung nach § 21a Abs. 4 Z 2 NAG erforderlichen Ergänzungen und Feststellungen unterlassen hat, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
17Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGHAufwandersatzverordnung 2014. Das auf Ersatz der Umsatzsteuer gerichtete Mehrbegehren der Revisionswerberin war abzuweisen, weil in dem in der genannten Verordnung vorgesehenen Pauschalbetrag die Umsatzsteuer bereits enthalten ist (vgl. etwa VwGH 27.2.2024, Ra 2024/22/0003, mwN).
Wien, am 1. Dezember 2025
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