JudikaturVwGH

Ra 2022/18/0280 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
01. Februar 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed, die Hofräte Dr. Sutter und Mag. Tolar als Richter sowie die Hofrätinnen Dr. in Gröger und Dr. in Sabetzer als Richterinnen, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des I C, vertreten durch Dr. Jonathan Moritz, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Berggasse 7/5, als bestellter Verfahrenshelfer, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. September 2022, L507 2208846 1/27E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit, beantragte am 9. Dezember 2016 internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, dass seine Sicherheit aufgrund seiner kurdischen Abstammung nicht gewährleistet sei. Er sei Mitglied der Parteien DTP und HDP gewesen. Im Herbst 2015 sei er in seiner Heimatstadt von der türkischen Armee gesucht worden. Zeitgleich sei sein Bruder verhaftet worden. Nachdem sein Auto in Brand gesetzt und sein Neffe hierbei schwer verletzt worden sei, habe er die Türkei verlassen. Zusätzlich brachte er im Laufe des Verfahrens vor, in der Türkei würden gegen ihn strafrechtliche Ermittlungen geführt, die als asylrelevante Verfolgung anzusehen seien.

2 Mit Bescheid vom 24. September 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

4 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, der Revisionswerber sei seit dem Jahr 2012 einfaches Mitglied der (kurdische Minderheitsinteressen vertretenden Partei) HDP gewesen und nehme auch in Österreich an Parteitreffen als Redner oder Zuhörer teil. Allein deshalb sei er bei Rückkehr in die Türkei jedoch von keiner Verfolgung bedroht. Außerdem habe der Revisionswerber in Österreich auf seinem Facebook Profil Beiträge gepostet, die zu Ermittlungsverfahren der türkischen Behörden gegen ihn wegen „Propaganda für eine terroristische Organisation“ (gemeint: die PKK) geführt hätten. Es könne jedoch nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber im Zusammenhang mit den anhängigen Ermittlungsverfahren einer nicht den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens genügenden Verfahrensführung durch die türkischen Gerichte unterworfen werde oder eine unverhältnismäßige Bestrafung wegen der ihm zur Last gelegten Strafen drohe. Der Revisionswerber sei weder einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen, noch drohe ihm eine solche im Falle der Rückkehr.

5 Die vorliegende Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit soweit gegenständlich von Relevanz vor, dem Erkenntnis hafte ein entscheidungsrelevanter Verfahrensmangel an. Das BVwG habe Feststellungen der türkischen Behörden hinsichtlich der Zuordnung des Revisionswerbers zur PKK unreflektiert übernommen. Diese Übernahme stehe jedoch im Widerspruch zu den unter einem getroffenen Feststellungen des BVwG, wonach massive Zweifel an der Unabhängigkeit der türkischen Justiz bestünden. Der Revisionswerber könne in der Türkei kein faires Verfahren erwarten.

6 Das BFA erstattete dazu keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 Die Revision ist zulässig und begründet.

8 Vorauszuschicken ist, dass es bei Behauptung einer asylrelevanten Verfolgung durch die Strafjustiz im Herkunftsstaat einer Abgrenzung zwischen der legitimen Strafverfolgung („prosecution“) einerseits und der Asyl rechtfertigenden Verfolgung aus einem der Gründe des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) („persecution“) andererseits bedarf.

9 Keine Verfolgung im asylrechtlichen Sinn ist im Allgemeinen in der staatlichen Strafverfolgung zu erblicken. Allerdings kann auch die Anwendung einer durch Gesetz für den Fall der Zuwiderhandlung angeordneten, jeden Bürger des Herkunftsstaates gleich treffenden Sanktion unter bestimmten Umständen „Verfolgung“ im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) aus einem dort genannten Grund sein; etwa dann, wenn das den nationalen Normen zuwiderlaufende Verhalten des Betroffenen im Einzelfall auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht und den Sanktionen jede Verhältnismäßigkeit fehlt.

10 Um feststellen zu können, ob die strafrechtliche Verfolgung wegen eines auf politischer Überzeugung beruhenden Verhaltens eines Asylwerbers einer Verfolgung im Sinne der GFK gleichkommt, kommt es somit entscheidend auf die angewendeten Rechtsvorschriften, aber auch auf die tatsächlichen Umstände ihrer Anwendung und die Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe an (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 2.2.2023, Ro 2022/18/0002, mwN).

11 Im gegenständlichen Verfahren ging das BVwG davon aus, dass gegen den Revisionswerber in der Türkei aufgrund von näher bezeichneten in Österreich veröffentlichten Beiträgen in den sozialen Medien (in denen er zusammengefasst die PKK gutgeheißen und den türkischen Staatspräsidenten beleidigt habe) ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Propaganda für eine terroristische Organisation (die PKK) eingeleitet worden sei. Es seien aber „jedenfalls keine Hinweise ersichtlich“, dass den Revisionswerber in der Türkei kein faires Strafverfahren erwarte und ihm eine strengere Strafe drohe, als sie sonst von türkischen Gerichten im Rahmen der Verurteilung wegen Begehung solcher Straftaten zugemessen würden.

12 Keine Erwähnung finden in diesen Erwägungen des BVwG die im angefochtenen Erkenntnis umfangreich getroffenen Länderfeststellungen des BVwG insbesondere zur Rechtsstaatlichkeit und dem Justizwesen in der Türkei, die zusammengefasst davon ausgehen, dass „vor allem bei Fällen von Terrorismus ... die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt [hätten], der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet“ (Seite 26 f des Erkenntnisses). Problematisch seien „vor allem der weit ausgelegte Terrorismus Begriff in der Anti Terror Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches“ und ihre Anwendung, wie etwa der „Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen“ und der „Beleidigung des Staatsoberhauptes“ (Seite 27 des Erkenntnisses). Der EGMR habe im „Fall Vedat Şorli vs. Turkey“ festgestellt, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsehe, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der EMRK entspreche (Seite 28 des Erkenntnisses).

13 Die Einschätzung des BVwG, es seien „jedenfalls keine Hinweise“ für eine dem Revisionswerber möglicherweise drohende asylrelevante Verfolgung im Sinne der dargestellten Rechtsprechung ersichtlich, stehen damit zu den von ihm selbst der Entscheidung zugrunde gelegten Länderfeststellungen in einem unaufgeklärten Spannungsverhältnis (vgl. auch VfGH 8.6.2021, E1559/2021). Sie lassen sich allein mit der vom BVwG gegebenen Begründung, die bisher in Abwesenheit des Revisionswerbers gesetzten Ermittlungsschritte der türkischen Behörden seien rechtsstaatlich nicht problematisch gewesen, nicht entkräften, ergibt sich daraus doch nicht, welche konkreten Straftaten die türkischen Behörden dem Revisionswerber (nach wie vor) anlasten und welche Strafen er dafür nach dem türkischen Strafrecht in seiner tatsächlichen Anwendung zu erwarten hat. Ohne solche Feststellungen kann aber die Verhältnismäßigkeit einer drohenden Bestrafung nicht beurteilt werden.

14 Soweit das BVwG argumentiert, das Vorgehen der türkischen Behörden bzw. Gerichte sei nur der Bekämpfung der Unterstützung einer terroristischen Organisation wie der PKK geschuldet, ließe sich allein daraus die Verhältnismäßigkeit einer allenfalls drohenden strengen Bestrafung des (kurdischen) Revisionswerbers nicht ableiten (siehe im Vergleich dazu etwa RIS Justiz, RS 0131683, wonach bloße Sympathiebekundungen für eine terroristische Vereinigung nach österreichischem Strafrecht die Voraussetzungen des Gutheißens zumindest einer konkreten terroristischen Straftat iSd § 278c Abs. 1 Z 1 bis 9 oder 10 StGB nicht erfüllen).

15 In diesem Sinne ist das gegenständliche Erkenntnis sohin mit entscheidungswesentlichen Begründungsmängeln behaftet.

16 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

17 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

18 Der Kostenzuspruch gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 1. Februar 2024

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