JudikaturVwGH

Ra 2024/07/0175 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
02. September 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Kreil, über die Revision der Landeshauptfrau von Niederösterreich gegen den Beschluss des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 4. Juli 2024, LVwG AV 41/0012024, betreffend Aufhebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 VwGVG in einer Angelegenheit der Genehmigung einer Anlage nach dem AWG 2002 (mitbeteiligte Parteien: 1. A B, 2. Mag. I I, beide vertreten durch Dr. Georg Retter, Rechtsanwalt in Krems an der Donau, und 3. S KG in 2201 Hagenbrunn, Brünner Straße 4), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

1 Die drittmitbeteiligte Partei (im Folgenden: Konsenswerberin) beantragte die abfallrechtliche Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb einer Behandlungsanlage und eines Zwischenlagers für gefährliche und nicht gefährliche Abfälle.

2 Die erst- und zweitmitbeteiligten Parteien sind jeweils Hälfteeigentümer des Grundstücks, das westlich an das nach dem Projekt zu bebauende Grundstücks angrenzt. Auf dem Grundstück der erst- und zweitmitbeteiligten Parteien wurde die Errichtung eines Werkstättengebäudes samt Nebengebäuden baubehördlich bewilligt, wobei der Rohbau bereits abgeschlossen ist.

3 Die erst- und zweitmitbeteiligten Parteien erhoben Einwendungen gegen die Bewilligung und brachten vor, der vorgeschriebene Abstand zu ihrer Grundstücksgrenze werde nicht eingehalten, weshalb eine Beeinträchtigung der Belichtung der Innenräume des Werkstätteninnenraums zu befürchten sei.

4 Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und Einholung von Gutachten von Amtssachverständigen aus den Fachgebieten der Abfallchemie, Maschinenbautechnik, Wasserbautechnik und Gewässerschutz, Verkehrstechnik, Lärmtechnik, Luftreinhaltung sowie Bautechnik erteilte die Revisionswerberin der Konsenswerberin mit Bescheid vom 11. Dezember 2023 die beantragte Genehmigung unter Vorschreibung mehrerer Auflagen.

5 In Ihrer Begründung stellte die Revisionswerberin das beantragte Vorhaben sowie die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens dar und setzte sich mit den Genehmigungsvoraussetzungen sowie den von mehreren Grundstücksnachbarnerhobenen Einwänden gegen das Projekt auseinander. Hinsichtlich des Vorbringens der erst- und zweitmitbeteiligten Parteien führte die Revisionswerberin aus, bei den Vorschriften über einzuhaltende Abstände zur Grundstücksgrenze bzw. die Belichtung nach der NÖ Bauordnung 2014 (NÖ BO 2014) handle es sich um baurechtliche, nicht aber bautechnische Vorschriften. Diese Bestimmungen seien daher nicht nach § 38 Abs. 2 AWG 2002 im Bewilligungsverfahren nach dem AWG 2002 anzuwenden. Ein Entzug von Licht könnte allenfalls nach § 43 Abs. 1 AWG 2002 unzulässig sein. Für das Werkstättengebäude der erst- und zweitmitbeteiligten Parteien sei jedoch im Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides noch nicht einmal eine Betriebsanlagengenehmigung beantragt worden. Demnach hielten sich keine Personen regelmäßig im Gebäude auf, deren Interessen nach § 43 Abs. 1 AWG 2002 geschützt werden könnten.

6Mit dem in Revision gezogenen Beschluss hob das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (Verwaltungsgericht) den Bescheid in Stattgabe einer Beschwerde der erst- und zweitmitbeteiligten Parteien nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG auf und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Revisionswerberin zurück. Eine Revision gegen diesen Beschluss erklärte es für nicht zulässig.

7 Das Verwaltungsgericht stellte begründend fest, das Projekt der Konsensbewerberin sehe die Errichtung von mehreren Gebäuden vor, wobei die Werks- und Lagerhalle direkt ohne Abstand an der Grundgrenze zum Grundstück der erst- und zweitmitbeteiligten Parteien errichtet und eine Gebäudehöhe von 7,89 m haben solle. Hinsichtlich der auf dem Grundstück der erst- und zweitmitbeteiligten Parteien geplanten Werkstatt sei ein gewerberechtliches Genehmigungsverfahren anhängig. Entsprechend der baubehördlichen Bewilligung sei beim Rohbau der Werkstatt ein Abstand zur Grundstücksgrenze der Konsenserwerberin von 3 m eingehalten worden. Die Grundstücke aller Beteiligten seien als „Bauland-Industriegebiet“ gewidmet.

8In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, es sei zu prüfen ob das verfahrensgegenständliche Projekt eine Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit oder eine unzumutbare Belästigung von Personen im Sinn von § 43 Abs. 1 Z. 3 AWG 2002 erwarten lasse. Im Weiteren sei zu beachten, dass in § 38 Abs. 2 AWG 2002 eine Verfahrenskonzentration vorgesehen sei, wonach die bautechnischen Bestimmungen im Genehmigungsverfahren anzuwenden seien. Bautechnische Vorschriften seien jedenfalls die Bestimmungen nach Abschnitt II, „Bautechnik“, der NÖ BO 2014, wozu auch die Regelungen nach §§ 43, 49 bis 52 und 54 NÖ BO 2014 gehörten. Insbesondere hätten die erst- und zweitmitbeteiligten Parteien daher nach § 50 Abs. 2 NÖ BO 2014 einen Anspruch auf ausreichende Belichtung der Hauptfenster des auf ihrem Grundstück befindlichen Gebäudes. Die gegenteilige Ansicht der Revisionswerberin treffe nicht zu. Zu Unrecht seien daher im Genehmigungsverfahren insoweit keine Ermittlungen durchgeführt worden.

9Zwar sei in § 28 VwGVG ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert. Ausgehend davon, dass die zulässige Bebauung nach § 50 Abs. 2 NÖ BO 2014 nicht geprüft worden sei, habe die Revisionswerberin jedoch nur ansatzweise ermittelt, sodass mit der Aufhebung des Bescheides und der Zurückverweisung der Angelegenheit vorzugehen gewesen sei.

10 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende Amtsrevision. Nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof haben die erst- und zweitmitbeteiligten Parteien eine Revisionsbeantwortung erstattet und beantragt, der Amtsrevision keine Folge zu geben.

11Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

12Die Revisionswerberin macht zur Begründung der Zulässigkeit ihrer Revision im Wesentlichen geltend, das Verwaltungsgericht sei von der (näher bezeichneten) Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs zu den Voraussetzungen einer Aufhebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG abgewichen. Es treffe in Hinblick auf die umfangreich durchgeführten Erhebungen jedenfalls nicht zu, dass von ihr bloß ansatzweise ermittelt worden wäre.

13Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in § 28 VwGVG ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheids streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden; eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 4.5.2023, Ra 2022/07/0218, 0219, mwN). Zudem hat das Verwaltungsgericht nachvollziehbar zu begründen, wenn es eine meritorische Entscheidungszuständigkeit nicht als gegeben annimmt (vgl. etwa VwGH 23.2.2024, Ra 2023/22/0106, mwN).

14Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung darauf gegründet, dass die Revisionswerberin im Genehmigungsverfahren in Verkennung der Rechtslage im Sinn von § 38 Abs. 2 AWG 2002 nicht auch die Voraussetzungen nach § 50 Abs. 2 NÖ BO 2014 geprüft habe, weshalb bloß ansatzweise ermittelt worden sei. Der alleinige Umstand, dass das Verwaltungsgericht die rechtliche Beurteilung der belangten Behörde des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens für unrichtig erachtet, enthebt das Verwaltungsgericht aber nicht seiner - nach der dargestellten Rechtsprechung primären - Verpflichtung, in der Sache selbst zu entscheiden (vgl. etwa VwGH 26.6.2018, Ra 2018/04/0104, mwN).

15 Dass im Sinn der genannten Rechtsprechung tatsächlich bloß ansatzweise ermittelt worden wäre, ist nicht zu sehen, zumal im verwaltungsbehördlichen Verfahren neben einer Reihe anderer Sachverständigengutachtenunter anderem auch ein bautechnisches Gutachten eingeholt worden ist und insgesamt umfangreiche Ermittlungen durchgeführt worden sind. Insoweit ist zu beachten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die (ergänzende) Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht im Interesse der Raschheit im Sinn des § 28 Abs. 2 Z 2 erster Fall VwGVG liegt, wenn (lediglich) ergänzende Ermittlungen vorzunehmen sind, zumal diesbezüglich nicht bloß auf die voraussichtliche Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens alleine, sondern auf die Dauer des bis zur meritorischen Entscheidung insgesamt erforderlichen Verfahrens abzustellen ist. Auch eine erforderliche Ergänzung eines Gutachtens bzw. eine Befragung von Sachverständigen oder überhaupt die Notwendigkeit der Einholung eines (weiteren) Gutachtens rechtfertigen im Allgemeinen nicht die Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG (vgl. VwGH 4.5.2023, Ra 2022/07/0218, 0219, mwN).

16Der angefochtene Beschluss war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 2. September 2025