Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Zettl, über die Revision des J W, vertreten durch Dr. Markus Freund, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Riemergasse 6, gegen das am 20. März 2023 mündlich verkündete und mit 31. März 2023 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien, VGW 151/071/13564/2022 11, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
1.1. Mit dem angefochtenen am 20. März 2023 mündlich verkündeten und mit 31. März 2023 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien (im Folgenden: Verwaltungsgericht) die Beschwerde des Revisionswerbers, eines liberianischen Staatsangehörigen, gegen den Bescheid des Landeshauptmanns von Wien (im Folgenden: Behörde) vom 3. Oktober 2022, mit dem sein Antrag vom 25. März 2022 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot Weiß Rot Karte plus“ abgewiesen worden war, als unbegründet ab.
1.2. Das Verwaltungsgericht stellte soweit im Revisionsverfahren von Bedeutung fest, dem Revisionswerber sei zunächst eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 AsylG 2005 mit Gültigkeit von 2. November 2017 bis 1. November 2018 und anschließend ein in der Folge zweimal verlängerter Aufenthaltstitel „Rot Weiß Rot Karte plus“ gemäß § 41a Abs. 9 NAG, zuletzt mit Gültigkeit von 4. November 2020 bis 4. November 2021, erteilt worden.
Der Revisionswerber habe gegen die (zuletzt erfolgte) Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot Weiß Rot Karte plus“ am 18. Juni 2021 Beschwerde erhoben und in dieser die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt EU“ beantragt. Aufgrund dieser Antragsänderung habe das Verwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 12. Oktober 2021 die Erteilung des Aufenthaltstitels „Rot Weiß Rot Karte plus“ (gültig bis 4. November 2021) ersatzlos behoben. Diese Entscheidung sei in Rechtskraft erwachsen.
Im fortgesetzten Verfahren habe die Behörde sodann den Antrag vom 18. Juni 2021 (auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt EU“) mit Bescheid vom 15. März 2022 abgewiesen. In der dagegen erhobenen Beschwerde vom 25. März 2022 habe der Revisionswerber (wiederum) die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot Weiß Rot Karte plus“ begehrt. Aufgrund dieser Antragsänderung habe das Verwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 7. Juni (mündlich verkündet) bzw. 5. Juli 2022 (schriftlich ausgefertigt) den Bescheid ersatzlos behoben. Diese Entscheidung sei in Rechtskraft erwachsen.
Schließlich habe die Behörde mit dem nunmehr vor dem Verwaltungsgericht bekämpften Bescheid vom 3. Oktober 2022 über den Antrag vom 25. März 2022 abgesprochen, indem sie das Begehren wegen Nichterfüllung der besonderen Erteilungsvoraussetzungen abgewiesen habe.
1.3. Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen, nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs sei „Sache“ des Beschwerdeverfahrens vor dem Verwaltungsgericht nur jene Angelegenheit, die den Inhalt des bescheidmäßigen Spruchs der Verwaltungsbehörde gebildet habe. Der äußerste Rahmen für die Entscheidungsbefugnis des Verwaltungsgerichts sei daher die „Sache“ des bekämpften Bescheids.
Vorliegend habe der Revisionswerber zunächst in der Beschwerde vom 18. Juni 2021 (gegen die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot Weiß Rot Karte plus“ gültig bis 4. November 2021) eine Antragsänderung dahin vorgenommen, dass er fortan die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt EU“ begehrte. Diese Antragsänderung habe die „Sache“ des bekämpften Bescheids überschritten und sei daher als Stellung eines neuen Antrags unter konkludenter Zurückziehung des ursprünglichen Begehrens zu werten gewesen. Im Hinblick darauf sei die Zuständigkeit der Behörde zur Erlassung des Bescheids nachträglich weggefallen, der Bescheid sei daher mit Rechtswidrigkeit behaftet und vom Verwaltungsgericht ersatzlos zu beheben gewesen.
Nunmehr habe die Behörde [zu ergänzen: nach Abweisung des Antrags vom 18. Juni 2021 mit Bescheid vom 15. März 2022 und nach Antragsänderung in der Beschwerde vom 25. März 2022 (unter konkludenter Zurückziehung des bisherigen Begehrens) sowie nach ersatzloser Behebung des Bescheids vom 15. März 2022 mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichts vom 7. Juni bzw. 5. Juli 2022] den gegenständlichen Antrag vom 25. März 2022 (auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot Weiß Rot Karte plus“) mit Bescheid vom 3. Oktober 2022 abgewiesen.
Diese Antragsabweisung sei zu Recht erfolgt, da der Revisionswerber die Voraussetzungen des § 41a (insbesondere Abs. 9) NAG und des § 46 NAG nicht erfülle. Ein Aufenthaltstitel sei auch nicht etwa zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des § 11 Abs. 3 NAG zu erteilen gewesen.
1.4. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
2. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die gegenständliche außerordentliche Revision, in deren Zulässigkeitsbegründung ein Abgehen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bzw. das Vorliegen einer nicht einheitlichen Rechtsprechung behauptet wird (vgl. näher unten Pkt. 4.1.).
3. Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nicht einheitlich beantwortet wird.
An den Ausspruch des Verwaltungsgerichts gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision unter dem genannten Gesichtspunkt nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat jedoch die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichts die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
4.1. Der Revisionswerber macht in der Zulässigkeitsbegründung geltend, das Verwaltungsgericht habe bereits im Erkenntnis vom 12. Oktober 2021 eine „Wertung“ in Bezug auf die Beschwerde vom 18. Juni 2021 (gemeint: dass damit eine Antragsänderung unter konkludenter Zurückziehung des ursprünglichen Begehrens erfolgte) getätigt. Diese Wertung, die von der Behörde in den weiteren Bescheiden und auch vom Verwaltungsgericht im nunmehr angefochtenen Erkenntnis übernommen worden sei, weiche jedoch von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ab, wonach Antragsänderungen, die sich im Rahmen der „Sache“ (des bekämpften Bescheids) bewegten, zulässig und nicht als Antragszurückziehung zu erachten seien. Vorliegend habe sich der Revisionswerber stets im Rahmen der „Sache“ (des bekämpften Bescheids) bewegt und wenn auch unter wiederholter Änderung des begehrten Aufenthaltszwecks nie von sich aus einen Antrag ersatzlos zurückgezogen. Soweit das Verwaltungsgericht die gegenteilige Ansicht vertrete, weiche es von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ab bzw. fehle eine einheitliche Rechtsprechung. Das Verwaltungsgericht verkenne, dass gemäß § 24 Abs. 4 NAG mit einem Verlängerungsantrag bis zur Bescheiderlassung ein Zweckänderungsantrag verbunden werden könne. Der Revisionswerber habe stets einen solchen kombinierten Verlängerungs- und Zweckänderungsantrag gestellt. Soweit das Verwaltungsgericht vermeine, das Begehren auf Erteilung eines Aufenthaltstitels mit geändertem Zweck bedeute eine konkludente Zurückziehung des Verlängerungsantrags, verkenne es die Rechtslage.
4.2. Mit diesem Vorbringen wird keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG aufgezeigt.
5.1. Der Revisionswerber wendet sich im Ergebnis gegen die rechtliche Würdigung des Verwaltungsgerichts in den Erkenntnissen vom 12. Oktober 2021 und vom 7. Juni bzw. 5. Juli 2022 (wonach er in den Beschwerden vom 18. Juni 2021 und vom 25. März 2022 Antragsänderungen vorgenommen habe, mit denen die „Sache“ der jeweils bekämpften Bescheide überschritten worden sei und die daher als neue Antragstellungen unter konkludenter Zurückziehung der ursprünglichen Begehren zu erachten seien) sowie gegen die Übernahme dieser Würdigung durch die Behörde und das Verwaltungsgericht im fortgesetzten Verfahren, insbesondere auch im hier angefochtenen Erkenntnis.
5.2. Der Revisionswerber lässt dabei freilich die Bestimmung des § 28 Abs. 5 VwGVG außer Acht, wonach die Behörden wenn das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid aufhebt verpflichtet sind, in der betreffenden Rechtssache mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichts entsprechenden Rechtszustand herzustellen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bedeutet dies, dass bei der Erlassung der Ersatzentscheidung die Verwaltungsbehörden und auch das Verwaltungsgericht selbst an die vom Verwaltungsgericht im aufhebenden Erkenntnis geäußerte Rechtsanschauung gebunden sind. Eine Ausnahme bildet (lediglich) der Fall einer wesentlichen Änderung der Sach und Rechtslage. Die schon vor der Erlassung bestehende Sachlage ist indessen von der Rechtskraft der Entscheidung erfasst und bindet Gerichte und Behörden gleichermaßen, solange diese Entscheidung dem Rechtsbestand angehört (vgl. etwa VwGH 19.9.2017, Ra 2017/20/0045 bis 0047, Rn. 19, mwN; VwGH 29.3.2023, Ra 2022/01/0297, Rn. 21).
5.3. Vorliegend wurden die aufhebenden Erkenntnisse des Verwaltungsgerichts vom 12. Oktober 2021 und vom 7. Juni bzw. 5. Juli 2022 jeweils tragend damit begründet, dass der Revisionswerber in den Beschwerden vom 18. Juni 2021 und vom 25. März 2022 Antragsänderungen vorgenommen habe, mit denen die „Sache“ der jeweils bekämpften Bescheide überschritten worden sei und die daher als neue Antragstellungen unter konkludenter Zurückziehung der ursprünglichen Begehren zu erachten seien. Im Hinblick darauf sei daher jeweils die Zuständigkeit der Behörde nachträglich weggefallen und seien die bekämpften Bescheide insofern mit Rechtswidrigkeit behaftet und ersatzlos zu beheben gewesen.
Die soeben erörterten Erkenntnisse des Verwaltungsgerichts sind nach der Aktenlage jeweils unbekämpft geblieben und nach den getroffenen Feststellungen in Rechtskraft erwachsen. Aus der Rechtskraftwirkung dieser Entscheidungen folgt jedoch im Sinn der oben dargestellten ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu § 28 Abs. 5 VwGVG, dass im fortgesetzten Verfahren sowohl die Behörde als auch das Verwaltungsgericht an die in den in Rede stehenden Entscheidungen zum Ausdruck gebrachte tragende Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichts gebunden waren bzw. (solange die Entscheidungen dem Rechtsbestand angehören) weiterhin gebunden sind (vgl. auch VwGH 16.11.2015, Ra 2015/12/0044).
Eine Bindung im soeben erörterten Sinn wäre (nur) dann nicht gegeben, wenn sich die relevante Sach oder Rechtslage gegenüber dem Zeitpunkt der Erlassung der in Rede stehenden Erkenntnisse des Verwaltungsgerichts nachträglich geändert hätte (vgl. nochmals VwGH 19.9.2017, Ra 2017/20/0045 bis 0047, Rn. 21). Solche zu berücksichtigenden Änderungen, die der dargelegten Bindungswirkung entgegenstünden, wurden aber vom Revisionswerber nicht aufgezeigt und sind auch nicht zu sehen.
5.4. Nach dem Vorgesagten bestehen somit gegen die Übernahme der in den Erkenntnissen des Verwaltungsgerichts vom 12. Oktober 2021 und vom 7. Juni bzw. 5. Juli 2022 vertretenen tragenden Rechtsanschauung im fortgesetzten Verfahren durch die Behörde und das Verwaltungsgericht keine Bedenken. Die Übernahme war vielmehr aufgrund der Rechtskraftwirkung geboten.
6. Vor dem dargestellten Hintergrund ging das Verwaltungsgericht im nunmehr angefochtenen Erkenntnis ohne aufzugreifenden Rechtsirrtum davon aus, dass Gegenstand des Verfahrens ausschließlich der vom Revisionswerber zuletzt in der Beschwerde vom 25. März 2022 gestellte Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot Weiß Rot Karte plus“ ist.
Gegen die Abweisung dieses Antrags wegen Nichterfüllung der erforderlichen Voraussetzungen wendet sich der Revisionswerber (in der maßgeblichen Zulässigkeitsbegründung) nicht.
7. Die Revision war deshalb mangels Aufwerfung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
Wien, am 25. April 2024