Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm sowie den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Zettl, über die Revision des R S, vertreten durch Rast Musliu, Rechtsanwälte in 1080 Wien, Alser Straße 23/14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2022, W205 2249856 1/3E, betreffend Ausweisung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Mit Bescheid vom 29. März 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde) den Revisionswerber, einen indischen Staatsangehörigen, gemäß § 66 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) iVm § 55 Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) unter Gewährung eines einmonatigen Durchsetzungsaufschubs (§ 70 Abs. 3 FPG) aus dem österreichischen Bundesgebiet aus.
2 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 21. Juni 2022 ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Weiters sprach das Verwaltungsgericht aus, dass eine Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
3 Zusammengefasst stellte das Verwaltungsgericht fest, der Revisionswerber halte sich seit etwa zehn Jahren im Bundesgebiet auf. Der Revisionswerber habe am 4. Juni 2012 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt, der verbunden mit einer Ausweisung abgewiesen worden sei. Im Jahr 2017 sei dem Revisionswerber aufgrund seiner Ehe mit einer rumänischen Staatsangehörigen eine Aufenthaltskarte als Angehöriger einer EWR Bürgerin mit Gültigkeit bis Juli 2022 ausgestellt worden. Die im Juli 2016 geschlossene Ehe sei im Jänner 2020 wieder geschieden worden. In Österreich habe der Revisionswerber keine Familienangehörigen. Der Revisionswerber sei seit Dezember 2017 durchgehend bei verschiedenen Dienstgebern beschäftigt und verfüge über einen Bekannten- und Freundeskreis in Österreich.
4 In seiner rechtlichen Beurteilung ging das Verwaltungsgericht davon aus, dass der Revisionswerber durch seine Ehe mit einer rumänischen Staatsangehörigen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hatte, den Status eines begünstigten Drittstaatsangehörigen iSd § 2 Abs. 4 Z 11 FPG und demnach ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht erlangt habe. Ein Fremder, für den eine Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts ausgestellt worden sei, bleibe selbst bei Wegfall des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts bis zum Abschluss des nach § 55 NAG vorgesehenen Verfahrens gemäß § 31 Abs. 1 Z 2 FPG rechtmäßig aufhältig. Der Aufenthalt sei allein schon wegen des Vorhandenseins einer (bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes noch gültigen) Dokumentation als rechtmäßig anzusehen. Die Beurteilung der Rechtsmäßigkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme erfolge demnach anhand des § 66 Abs. 1 erster Satzteil FPG, wonach begünstigte Drittstaatsangehörige ausgewiesen werden können, wenn ihnen aus den Gründen des § 55 Abs. 3 NAG das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr zukomme.
5 Das Verwaltungsgericht führte eine Interessenabwägung durch und hielt dem zehnjährigen Aufenthalt des Revisionswerbers entgegen, dass sich der Revisionswerber nach der Abweisung seines Asylantrages und der gleichzeitig ausgesprochenen Ausweisung jahrelang unrechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe und seiner Ausreisepflicht nicht nachgekommen sei. Der Revisionswerber habe sich daher der Unsicherheit seines weiteren Aufenthalts im Bundesgebiet bewusst sein müssen. Auch die während seines unsicheren Aufenthalts geschlossene und im Jänner 2020 geschiedene Ehe falle bei der Abwägung nicht ins Gewicht. Der Revisionswerber habe spätestens seit Einreichung des Scheidungsantrages im Oktober 2019 damit rechnen müssen, nicht dauerhaft im Bundesgebiet verbleiben zu können. Aus diesem Grund falle auch seine berufliche Integration nicht besonders stark ins Gewicht, weil diese ausschließlich aufgrund der Antragstellung auf internationalen Schutz und der eingegangenen Ehe möglich gewesen sei. Der Revisionswerber spreche „nach eigenen Angaben“ zwar „recht gut“ Deutsch; im Ergebnis sei jedoch davon auszugehen, dass die Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Bundesgebiet trotz knapp zehnjährigen Aufenthalts gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung in den Hintergrund träten.
6 Die belangte Behörde sei somit zu Recht davon ausgegangen, dass die Ausweisung des Revisionswerbers gemäß § 66 Abs. 1 erster Satzteil FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG zulässig sei.
7 Eine mündliche Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG entfallen können. Der Sachverhalt sei durch die belangte Behörde vollständig erhoben worden und weise die gebotene Aktualität auf. Des Weiteren finde sich in der Beschwerde kein ausreichend substantiiertes Vorbringen, welches im konkreten Fall geeignet sei, die behördliche Entscheidung in Frage zu stellen. Damit sei der maßgebliche Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt anzusehen, wobei eine mündliche Erörterung auch keine weitere Klärung der Rechtssache erwarten lasse.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung unter dem Aspekt eines Verstoßes gegen näher zitierte Judikatur im Wesentlichen gegen die im angefochtenen Erkenntnis vorgenommene Interessenabwägung sowie gegen das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung wendet.
9 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision ist zulässig und begründet, weil das Verwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur Verhandlungspflicht abgewichen ist.
12 Sofern sich die Revision zunächst auf den erhöhten Gefährdungsmaßstab des § 66 Abs. 3 FPG („nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich“) beruft, ist darauf hinzuweisen, dass die Anwendung dieses Maßstabs voraussetzt, dass sich der Revisionswerber in den letzten zehn Jahren vor Erlassung der Ausweisung rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hätte, was unzweifelhaft nicht der Fall ist (vgl. VwGH 9.11.2023, Ra 2023/22/0067, Rn. 19, mwN).
13 Allerdings betont der Verwaltungsgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA VG (vgl. zu den Kriterien für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung nach dieser Gesetzesbestimmung grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018), dass die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden kann, sondern der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zukommt. Nur in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann eine Verhandlung unterbleiben (vgl. VwGH 4.3.2024, Ra 2023/22/0186, Rn. 9, mwN).
14 Zudem ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. VwGH 23.2.2024, Ra 2021/22/0256, Rn. 12, mwN).
15 Schon im Hinblick auf die im Revisionsfall durchzuführende Interessenabwägung erwies sich daher gegenständlich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unerlässlich. Entgegen der Beurteilung des Verwaltungsgerichts konnte vor dem Hintergrund des zehnjährigen Aufenthaltes des unbescholtenen Revisionswerbers und seiner beruflichen Tätigkeit in Österreich fallbezogen nicht von einer Konstellation ausgegangen werden, in der das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung wegen eines eindeutigen Ergebnisses der Interessenabwägung ausnahmsweise als zulässig zu erachten gewesen wäre. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass es sich bei den vom Verwaltungsgericht betonten Gesichtspunkten (unsicherer und insbesondere ab rechtskräftiger Erledigung eines Asylantrages unrechtmäßiger Aufenthalt, Nichtbeachtung einer Ausreiseverpflichtung) um solche handelt, die in mehr oder weniger großem Ausmaß typischerweise auf Personen zutreffen, die nach negativer Erledigung ihres Antrags auf internationalen Schutz insgesamt einen mehr als zehnjährigen inländischen Aufenthalt im Bundesgebiet aufweisen; sie fallen somit anders als in Fällen kürzerer Aufenthaltsdauer bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG für sich genommen nicht entscheidungswesentlich ins Gewicht (vgl. VwGH 17.11.2022, Ra 2020/21/0093, Rn. 13, mwN).
16 Vor diesem Hintergrund ist für den Verwaltungsgerichtshof nicht zu erkennen, dass hier ein eindeutiger Fall im Sinn der zitierten Rechtsprechung vorläge, in dem auch bei Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung kein günstigeres Ergebnis zu erwarten gewesen wäre.
17 Im Hinblick darauf war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
18 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 8. Oktober 2024