Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed und den Hofrat Mag. Tolar als Richter sowie die Hofrätinnen Dr. in Gröger, Dr. in Sabetzer und Dr. Kronegger als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Hahn, LL.M., über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Juni 2023, W247 1263438 3/22E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: B K, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
1 Der Asylgerichtshof gab im Beschwerdeweg mit Erkenntnis vom 8. September 2010 dem Antrag des Mitbeteiligten, eines Staatsangehörigen der Russischen Föderation aus Tschetschenien, auf internationalen Schutz vom 21. Juli 2005 statt, gewährte ihm Asyl und stellte fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
2Mit Bescheid vom 10. April 2019 erkannte das nunmehr revisionswerbende Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem Mitbeteiligten den Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) in Verbindung mit Art. 1 Abschnitt C Z 5 Genfer Flüchtlingskonvention (Wegfall der Umstände, auf Grund derer er als Flüchtling anerkannt worden sei) ab und stellte fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme. Außerdem erkannte es dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest und erließ gegen ihn ein auf neun Jahre befristetes Einreiseverbot.
3 Der dagegen vom Mitbeteiligten erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis statt und behob den Bescheid des BFA vom 10. April 2019 ersatzlos. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
4 Das BVwG stellte fest, der Bruder des Mitbeteiligten sei wegen unterstellter Homosexualität in Grosny festgenommen und sieben Tage lang von der Polizei gefoltert worden. Nach seiner Freilassung habe der Bruder sofort Tschetschenien und später auch die Russische Föderation verlassen, wo jedoch weiterhin nach ihm gefahndet werde. Derzeit befinde sich der Bruder in Armenien in Haft; es laufe ein Auslieferungsverfahren mit der Russischen Föderation. Vor diesem Hintergrund bestehe die Gefahr, dass auch der Mitbeteiligte bei einer Rückkehr in die Russische Föderation willkürlich festgenommen und allenfalls zu seinem Bruder befragt würde oder der Sippenhaft ausgesetzt wäre. Auch bei Niederlassung in anderen Gebieten der Russischen Föderation als Tschetschenien wäre er nicht vor derartigen Behördenübergriffen geschützt. Damit unterliege er dem Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe „Familie“.
5 Rechtlich folgerte das BVwG, es sei mit erheblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat als Zugehöriger zur Kernfamilie eines politisch Verfolgten, nämlich seines Bruders, willkürlicher Verhaftung, unmenschlicher Behandlung oder gar Folter unterliegen würde. Es lägen somit neue Asylgründe vor.
6 Dagegen wendet sich die vorliegende Amtsrevision. Sie macht zusammengefasst geltend, das BVwG sei davon ausgegangen, dass die Zugehörigkeit des Mitbeteiligten zur Kernfamilie eines politisch Verfolgten seines Bruders unter den Konventionsgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe „Familie“ zu subsumieren sei. Zur Beurteilung der Richtigkeit dieser Rechtsansicht fehle es jedoch an aktueller Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Dieser habe zwar die Familie als soziale Gruppe grundsätzlich anerkannt, der EuGH habe in seiner bisherigen Judikatur aber ausgesprochen, dass dazu zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein müssten. Speziell zur zweiten Voraussetzung (die Gruppe müsse von der umgebenden Gesellschaft als „andersartig“ betrachtet werden) habe das BVwG gegenständlich keine Feststellungen getroffen, sondern sei fehlerhaft davon ausgegangen, dass Familien per se als soziale Gruppen iSd Genfer Flüchtlingskonvention anzusehen seien.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Einleitung des Vorverfahrens und Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch den Mitbeteiligten erwogen:
7 Die Revision ist zulässig und begründet.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung (vor Inkrafttreten der Statusrichtlinie) wiederholt festgehalten, dass einer Verfolgung schon dann Asylrelevanz zukommen kann, wenn ihr Grund in der bloßen Angehörigeneigenschaft des Asylwerbers, somit in seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention, etwa jener der Familie, liege (vgl. etwa VwGH 14.1.2003, 2001/01/0508, mwN).
9 Wie die Amtsrevision zutreffend geltend macht, ist diese Rechtsprechung im Lichte der Vorgaben von Art. 10 Abs. 1 lit. b Statusrichtlinie dahingehend zu prüfen, ob sei weiterhin uneingeschränkt aufrechterhalten werden kann.
10 Der EuGH hat zu den Voraussetzungen, wann eine Gruppe als eine „bestimmte soziale Gruppe“ im Sinne dieser Norm zu verstehen ist, bereits wiederholt Stellung genommen (vgl. etwa EuGH 11.6.2024, C 646/21, Rn. 40, mwN). Zuletzt hat er aufgrund des Vorabentscheidungsersuchens des Verwaltungsgerichtshofes, das zur Aussetzung des gegenständlichen Verfahrens geführt hat, mit Urteil vom 27. März 2025, C 217/23, Lagham , eine nähere Präzisierung vorgenommen, die auch für den vorliegenden Fall von Bedeutung ist.
11 In Rn. 27 der Begründung dieses Urteils hat der EuGH darauf hingewiesen, dass sich aus Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie ergibt, dass eine Gruppe als eine „bestimmte soziale Gruppe“ gilt, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Erstens müssen die Mitglieder der betreffenden Gruppe mindestens eines der drei im ersten Gedankenstrich dieser Bestimmung genannten Identifizierungsmerkmale teilen, nämlich „angeborene Merkmale“, einen „gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, oder „Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung ..., die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zweitens muss diese Gruppe im Herkunftsland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, „da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“.
12 Im Revisionsfall liegt die erste dieser Voraussetzungen für sich betrachtet vor, zumal der Mitbeteiligte und sein Bruder als die Angehörigen einer Familie aufgrund ihrer familiären Bindungen, unabhängig davon, ob sich diese Bindungen aus genetischer Abstammung, Adoption oder Ehe ergeben, ein „angeborenes Merkmal“ oder einen „gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann“ teilen (vgl. Rn. 28 des genannten Urteils des EuGH).
13 Zur zweiten Voraussetzung, die erfüllt sein muss, damit es sich um eine „bestimmte soziale Gruppe“ im Sinn von Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie handelt, nämlich die deutlich abgegrenzte Identität dieser Gruppe im betreffenden Herkunftsland, „da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“, legte der EuGH in Rn. 29 bis 37 des genannten Urteils dar, dass sich aus dem Wortlaut der Bestimmung in sämtlichen Sprachfassungen ergibt, dass die Wahrnehmung der Andersartigkeit der betroffenen Gruppe durch die sie umgebende Gesellschaft von entscheidender Bedeutung ist. Dabei kommt es nicht nur auf die Wahrnehmung einiger Individuen an, die Teil der umgebenden Gesellschaft sind. Ebenso wenig kann der Umstand, dass sich Opfer solcher Handlungen (dort: Blutrache) selbst als andersartig betrachten, für sich allein in diesem Zusammenhang ausschlaggebend sein (Rn. 35 und 36). Zusammenfassend hielt der EuGH in Rn. 37 des genannten Urteils fest, dass es darauf ankommt, dass eine Gruppe insbesondere aufgrund sozialer, moralischer oder rechtlicher Normen im Herkunftsland von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Dass die umgebende Gesellschaft eine Gruppe so wahrnimmt, kann insbesondere durch konkrete Anhaltspunkte wie Diskriminierungen, Ausschließungen oder Stigmatisierungen belegt werden, die die Mitglieder der fraglichen Gruppe allgemein betreffen und sie an den Rand der sie umgebenden Gesellschaft drängen.
14 Wie die Revision zu Recht geltend macht, hat das BVwG im vorliegenden Fall keinerlei Feststellungen getroffen, die vor dem Hintergrund der vom EuGH vorgenommenen Auslegung des Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie die rechtliche Würdigung zulassen würden, der Mitbeteiligte sei aufgrund seiner Eigenschaft als Bruder eines politisch Verfolgten als Teil einer Gruppe anzusehen, die „in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“.
15Da das BVwG somit im Lichte der zitierten Rechtsprechung des EuGH die Rechtslage verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
16 Diese Entscheidung konnte obwohl damit ein Abgehen von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes verbunden istin einem gemäß § 11 Abs. 1 VwGG gebildeten Senat getroffen werden. In jenem Fall, in dem der Verwaltungsgerichtshof durch Änderung seiner Rechtsprechung der Rechtsansicht des EuGH Rechnung trägt, bedarf es nämlich keiner Befassung eines verstärkten Senates nach § 13 Abs. 1 Z 1 VwGG (vgl. etwa VwGH 12.5.2025, Ra 2022/20/0289, mwN).
Wien, am 9. September 2025