JudikaturVwGH

Ro 2023/08/0018 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
26. Februar 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Sasshofer, über die Revision der Pensionsversicherungsanstalt in Wien, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Dr. in Simone Metz und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in 1050 Wien, Schönbrunner Straße 42/6, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. September 2023, W209 22514111/3E, betreffend Selbstversicherung in der Pensionsversicherung gemäß § 18a ASVG (mitbeteiligte Partei: U K in G, vertreten durch Jarolim Partner Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Volksgartenstraße 3/2. OG; weitere Partei: Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

1 Mit Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) vom 4. Dezember 2007 wurde einem Antrag der Mitbeteiligten auf Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege des behinderten Kindes L ab 1. Juni 2007 stattgegeben und festgestellt, dass ein näher bezeichneter Beitrag zur Selbstversicherung aus Mitteln des Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen getragen werde.

2 Mit Bescheid vom 11. Juli 2016 stellte die PVA fest, dass die Selbstversicherung in der Pensionsversicherung mit 31. Dezember 2015 ende. Dies wurde damit begründet, dass die Mitbeteiligte den Aufforderungen der PVA zur Vorlage der erforderlichen Nachweise nicht nachgekommen sei.

3 Die Mitbeteiligte stellte am 14. Juni 2021 neuerlich einen Antrag auf Selbstversicherung für Zeiten der Pflege eines behinderten Kindes (ihres Sohnes L) „ab 01.01.2016“ und merkte im Antragsschreiben Folgendes an (Anonymisierungen hier und im Nachfolgenden durch den Verwaltungsgerichtshof):

„Die letzte Überprüfung meines Sohnes war 2014. Ab 2015 wurden die Überprüfungsbögen ihrerseits an eine falsche Adresse gesendet, somit habe ich diese nicht erhalten. Nach telefonischer Absprache mit Hr. S (PVA) soll ich nochmals einen Antrag senden.“

4 Mit Bescheid vom 10. November 2021 sprach die PVA über diesen Antrag nach Einholung eines ärztlichen Gutachtens mit folgendem Spruch ab:

„Dem Antrag vom 14. Juni 2021 auf Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege des behinderten Kindes L, geb. ... wird ab 1. Jänner 2005 mit Unterbrechung(en) stattgegeben und endet mit 28. Februar 2019.“

5 Gegen diesen Bescheid erhob die Mitbeteiligte Beschwerde und führte mit näherer Begründung aus, dass sich an der Behinderung ihres Kindes nichts geändert habe und der Anspruch bzw. ein erhöhter Betreuungsbedarf noch bestehe.

6Mit dem angefochtenen Beschluss vom 5. September 2023 hob das Bundesverwaltungsgericht den Bescheid vom 10. November 2021 gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG auf und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurück. Das Bundesverwaltungsgericht erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für zulässig.

7 Die Begründung des angefochtenen Beschlusses nimmt einleitend darauf Bezug, dass die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht nicht von der Hauptstelle der PVA, sondern von der Landesstelle Niederösterreich vorgelegt worden sei und enthält einleitende Ausführungen zur Frage der Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts zur inhaltlichen Erledigung der auf diese Weise nach seiner Auffassung von unzuständiger Stelle vorgelegten Beschwerde.

8 Die Aufhebung und Zurückverweisung begründete das Bundesverwaltungsgericht wie folgt:

9Gemäß § 18a Abs. 1 ASVG in der anzuwendenden Fassung BGBl. I Nr. 2/2015 (in Kraft von 01.01.2015 bis 31.12.2022) müsse die Arbeitskraft überwiegend beansprucht werden, um den Anspruch anerkennen zu können. Dies sei gemäß § 18a Abs. 3 Z 2 ASVG jedenfalls dann der Fall, wenn das behinderte Kind während der Dauer der allgemeinen Schulpflicht wegen Schulunfähigkeit (§ 15 Schulpflichtgesetz 1985) entweder von der allgemeinen Schulpflicht befreit sei oder ständiger persönlicher Hilfe und besonderer Pflege bedürfe.

10Der im April 2002 geborene Sohn der Mitbeteiligten habe im Jahr 2018 die allgemeine Schulpflicht erfüllt. Strittig sei der Zeitraum ab 1. März 2019, weil die Beschwerde gegen den Ausspruch des Bescheides gerichtet sei, demzufolge die Selbstversicherung „mit 28.02.2019 ende“. Eine Befreiung von der allgemeinen Schulpflicht sei nicht behauptet worden und auch nach der Aktenlage nicht ersichtlich. Gemäß § 18a Abs. 3 Z 3 ASVG werde eine überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft im Sinne des § 18a Abs. 1 ASVG jedenfalls dann angenommen, wenn und solange das behinderte Kind nach Vollendung der allgemeinen Schulpflicht und vor Vollendung des 40. Lebensjahres dauernd bettlägrig sei oder ständiger persönlicher Hilfe und besonderer Pflege bedürfe. Somit sei im Wege eines Sachverständigengutachtens zu klären gewesen, ob (und in welchem Umfang) unter Berücksichtigung des Alters und der spezifischen Behinderung des Kindes dessen ständige Betreuung erforderlich sei und ob bei Unterbleiben dieser Betreuung die Entwicklung des Kindes im Verhältnis zu einem ähnlich behinderten Kind, dem diese Zuwendung zuteil wird, benachteiligt oder gefährdet gewesen sei (Hinweis auf VwGH 16.11.2005, 2003/08/0261).

11Ein derartiger ständiger Bedarf persönlicher Hilfe und besonderer Pflege sei nach dem von der PVA von Amts wegen eingeholten Sachverständigengutachten zu verneinen. Mit dem Wort „jedenfalls“ im Einleitungssatz des § 18a Abs. 3 ASVG idF BGBl. I Nr. 2/2015 habe der Gesetzgeber jedoch zum Ausdruck gebracht, dass neben den in Z 1 bis 3 aufgezählten Fällen eine überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft auch auf andere Weise gegeben sein könne. Die Legaldefinition des § 18a Abs. 3 ASVG stelle zwar nicht (primär) auf eine zeitliche Inanspruchnahme durch die Pflege, sondern auf speziell für behinderte Kinder zugeschnittene andere Kriterien ab. Eine überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft sei jedoch jedenfalls bei einem durchschnittlichen Pflegeaufwand ab 21 Stunden wöchentlich bzw. ab 90 Stunden monatlich (entspreche mehr als der halben Normalarbeitszeit) anzunehmen (Hinweis auf VwGH 19.1.2017, Ro 2014/08/0084, sowie Zehetnerin Sonntag [Hrsg] ASVG 14 § 18a Rz 4a).

12 Wie den Angaben der Mitbeteiligten im Antrag auf Selbstversicherung zu entnehmen sei, bestehe für ihren Sohn zwar kein Anspruch auf Pflegegeld, die Arbeitskraft der Pflegeperson werde durch die Pflege des Kindes jedoch überwiegend beansprucht. Auch in der Beschwerde habe die Mitbeteiligte angegeben, dass sich an der Behinderung des Kindes nichts geändert habe und ein erhöhter Betreuungsbedarf noch bestehe. Weder dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten vom 16. September 2021 noch dem verfahrensgegenständlichen Bescheid sei aber zu entnehmen, „welches Stundenausmaß für die Pflege und Betreuung des Kindes“ der Mitbeteiligten „pro Monat erforderlich“ sei.

13 Die PVA habe somit jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen, um festzustellen, ob der (behinderungsspezifische) Pflegeund Betreuungsaufwand der Mitbeteiligten „die maßgebliche Grenze von 90 Stunden monatlich“ überschreite. Dadurch habe sie keine für eine Entscheidung in der Sache nach § 28 Abs. 2 VwGVG ausreichenden brauchbaren Ermittlungsergebnisse geliefert, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden mündlichen Verhandlung im Sinne des § 24 VwGVG bloß zu vervollständigen gewesen wären. Dies berechtige das Verwaltungsgericht, von einer Entscheidung in der Sache abzusehen und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen (Hinweis auf VwGH 20.10.2015, Ra 2015/09/0088).

14 Was die Ermittlung der für das Ausmaß der Beanspruchung der Arbeitskraft im Sinn der obigen Abgrenzung relevantenAnzahl von Pflegestunden im fortgesetzten Verfahren betreffe, so seien „nur jene Zeiten zu berücksichtigen, in denen tatsächlich notwendige Leistungen der Betreuung und Hilfe erbracht werden“. Um welche Verrichtungen es sich dabei handle und welcher zeitliche Aufwand damit jeweils verbunden sei, sei an Hand der Regelungen des Bundespflegegeldgesetzes (BPGG) sowie der dazu ergangenen EinstufungsverordnungEinstV, BGBl. II Nr. 37/1999, zu beurteilen (Hinweis auf VwGH 19.1.2017, Ro 2014/08/0084).

15 Da auf den „auch für die Ermittlung des Pflegegelds maßgeblichen Pflegebedarf abzustellen“ sei, werde als Grundlage für die Beurteilung in der Regel ein bereits im Verfahren über die Zuerkennung oder Neubemessung des Pflegegelds eingeholtes soweit noch aktuelles bzw. sonst entsprechendesSachverständigengutachten (§ 8 EinstV) dienen können. Erforderlichenfalls werde ein weiteres Gutachten einzuholen sein.

16 Zur Begründung der Zulassung der Revision iSd. Art. 133 Abs. 4 B VG führte das Bundesverwaltungsgericht aus, „im Hinblick auf den gegenständlichen Sachverhalt“ sei auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 25. September 1990, 89/08/0119, zu verweisen, welcher eine ähnliche Konstellation zugrunde gelegen sei. Durch das SozialversicherungsOrganisationsgesetz 2018 [SVOG], BGBl. I Nr. 100/2018, sei jedoch eine völlige Neuorganisation der Versicherungsträger erfolgt, welche auch eine Neufassung der Satzung und des Anhanges zur Geschäftsordnung erforderlich gemacht habe. Da zur sachlichen und örtlichen Zuständigkeit der Hauptstelle der PVA einerseits und der Landesstellen der PVA andererseits, „fallbezogen zur Vorlage einer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht“, nach Neuorganisation durch das SV OG keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vorliege, sei die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG zulässig.

17 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende ordentliche Revision der PVA. Im vom Bundesverwaltungsgericht durchgeführten Vorverfahren erstattete die Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Revision beantragte.

18Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

19 Die Revision nimmt auf die Zulassungsbegründung des angefochtenen Beschlusses kursorisch Bezug und macht darüber hinaus gerade noch erkennbar eine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 BVG dahin geltend, dass die Auslegung des § 18a Abs. 3 ASVG, wonach für die Zwecke der Selbstversicherung nach § 18a ASVG auf die Stundensätze gemäß BPGG und EinstV zu rekurrieren sei, von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abweiche, und dass entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auch noch keine Judikatur vorliege, die diese Rechtsmeinung zu stützen vermöge.

20 Den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts, wonach die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht von einer unzuständigen Behörde, nämlich der „Pensionsversicherungsanstalt Landesstelle Niederösterreich“ vorgelegt worden sei, tritt die Revision mit näherer Begründung entgegen.

21 Das vom Bundesverwaltungsgericht vertretene Ergebnis, dass dieses (ungeachtet der Frage einer allfälligen Zurechnung des Beschwerdevorlageschreibens zur Landesstelle der PVA) zur Entscheidung über die ihm vorgelegte Beschwerde zuständig gewesen sei, stellt die revisionswerbende Partei jedoch ebenso wie die Mitbeteiligte nicht in Frage.

22Die Revision erweist sich aber insofern als zulässig, als die Abweichung von der hg. Rechtsprechung (bzw. das Fehlen einer solchen Rechtsprechung) behauptet und darin der im angefochtenen Beschluss vertretenen Auslegung des § 18a Abs. 3 ASVG entgegengetreten wird. Der angefochtene Beschluss weicht insbesondere von dem nach Einbringung der vorliegenden Revision ergangenen hg. Erkenntnis vom 17. Oktober 2023, Ra 2021/08/0142, auf welches gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, ab. Ausgehend von dem relevanten Kriterium, ob von einem Betreuungsbedarf auszugehen ist, der dem Maßstab der „ständigen persönlichen Hilfe und besonderen Pflege“ nach Umfang und Art gleichkommt, ist die Prämisse des den angefochtenen Beschluss tragenden Arguments, dass das von der PVA geführte Verfahren wegen der mangelnden Feststellungen zum Pflegebedarf nach der Einstufungsverordnung Ermittlungslücken im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. 3 VwGVG aufgewiesen hätte, hinfällig und die damit überbundene Rechtsansicht unrichtig. Schon aus diesem Grund ist nicht ersichtlich, inwiefern das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren nicht, allenfalls im Zusammenhalt mit einer durchzuführenden Verhandlung (§ 24 VwGVG) vervollständigen hätte können.

23Indem das Bundesverwaltungsgericht eine auf § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG gestützte Aufhebung und Zurückverweisung vornahm, belastete es den angefochtenen Beschluss mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Im Hinblick darauf war der angefochtene Beschluss gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 26. Februar 2025