JudikaturVwGH

Ra 2022/21/0161 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
24. Oktober 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. in Oswald und den Hofrat Mag. Schartner, Bakk., als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Eraslan, über die Revision des M L S, vertreten durch die Winkler Reich Rohrwig Illedits Wieger Rechtsanwälte Partnerschaft in 1010 Wien, Gonzagagasse 14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Juni 2022, I415 1240450 5/16E, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbots (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der 1976 geborene Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Gambia, reiste erstmals im Jahr 2003 in Österreich ein. Nach erfolglos gebliebenen Anträgen auf internationalen Schutz wurde der im Zeitraum von 2005 bis 2013 wiederholt straffällig gewordene Revisionswerber am 5. Juni 2015 im Luftweg nach Gambia abgeschoben.

2 Am 31. Juli 2015 heiratete der Revisionsweber in Gambia eine seit 2008 in Österreich wohnhafte und beruflich gut integrierte ungarische Staatsangehörige, mit der er schon seit mehreren Jahren eine Beziehung geführt hatte. Im Hinblick darauf wurde ihm zur Dokumentation seines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts eine Aufenthaltskarte als Angehöriger einer EWR Bürgerin ausgestellt. Der Revisionswerber reiste in der Folge am 28. Juni 2016 nach Erteilung eines „Visums D zur Abholung eines Aufenthaltstitels“, somit rechtmäßig, erneut in das Bundesgebiet ein. Er lebt mit seiner Ehefrau im gemeinsamen Haushalt und ist beruflich integriert.

3Mit dem rechtskräftigen Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 12. August 2019 wurde der Revisionswerber wegen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 neunter Fall, Abs. 2a zweiter Fall, Abs. 3, Abs. 5 SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass der damals an Suchtmittel gewöhnteRevisionswerber im Zeitraum von Ende 2017 bis Juli 2019 gewerbsmäßig gemeinsam mit einem Mittäter teilweise im öffentlichen Raum anderen Personen Kokain verkauft bzw. allein durch Vermittlung an Suchtgiftverkäufer verschafft habe, wobei er die Taten vorwiegend begangen hat, um sich für seinen persönlichen Gebrauch Suchtmittel zu verschaffen. Das Strafgericht wertete sein überschießendes Geständnis und die Sicherstellung von Suchtgift als mildernd, die einschlägigen Vorstrafen und den langen Tatzeitraum hingegen als erschwerend. Bereits am 27. September 2019 wurde der Revisionswerber wegen Gewährung eines Strafaufschubs gemäß § 39 SMG zur Absolvierung einer Therapie aus der Strafhaft entlassen.

4 Mit Bescheid vom 21. April 2020 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl unter Bezugnahme auf seine strafgerichtlichen Verurteilungen gegen den Revisionswerber gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein fünfjähriges Aufenthaltsverbot und gewährte ihm einen Durchsetzungsaufschub von einem Monat.

5Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 28. Juni 2022 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung insofern teilweise statt, als es die Dauer des Aufenthaltsverbots auf zwei Jahre herabsetzte. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

6 Gegen dieses Erkenntnis, und zwar soweit damit die Beschwerde (implizit) abgewiesen wurde, richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die sich wie die weiteren Ausführungen zeigen unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig erweist; sie ist auch berechtigt.

7 Die Revision wendet sich in ihrer Begründung zur Zulässigkeit zunächst gegen den vom BVwG herangezogenen Gefährdungsmaßstab und rügt in diesem Zusammenhang auch das Fehlen ausreichender Feststellungen zu dem den strafgerichtlichen Verurteilungen zugrunde liegenden Fehlverhalten des Revisionswerbers. Damit ist sie im Ergebnis im Recht.

8Das BVwG hat das bekämpfte Aufenthaltsverbot auf § 67 Abs. 1 erster und zweiter Satz FPG gegründet. Danach ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen den Revisionswerber, dem aufgrund der Ehe mit einer in Österreich unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWRBürgerin die Stellung als begünstigter Drittstaatsangehöriger iSd § 2 Abs. 4 Z 11 FPG zukommt, zulässig, wenn aufgrund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Nach dem dritten und vierten Satz dieser Bestimmung können strafrechtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen und vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.

9Entgegen dem Revisionsvorbringen, das sich auf einen seit mehr als zehnjährigen Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet beruft, kommt die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Aufenthaltsverbotes am Boden des verschärften Gefährdungsmaßstabes nach § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG („nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich“) im vorliegenden Fall nicht in Betracht. Der Genuss dieses verstärkten Schutzes ist nämlich davon abhängig, dass sich der Betroffene in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates rechtmäßig aufgehalten hat. Dieser Aufenthaltszeitraum von zehn Jahren muss grundsätzlich ununterbrochen gewesen sein und ist vom Zeitpunkt der Verfügung der Ausweisung des Betroffenen an zurückzurechnen (vgl. etwa VwGH 19.5.2022, Ra 2019/21/0396, Rn. 19, mwN).

10 Diese Voraussetzung war im vorliegenden Fall schon angesichts der am 5. Juni 2015 zur Beendigung des damals unrechtmäßigen Aufenthalts erfolgten Abschiebung des Revisionswerbers nach Gambia und der darauffolgenden ungefähr einjährigen Unterbrechung seines Aufenthaltes bis zu seiner Wiedereinreise am 28. Juni 2016 nicht erfüllt.

11Allerdings hätte das BVwG die Zulässigkeit der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen den Revisionswerber am Maßstab des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG messen müssen. Nach dieser Bestimmung ist eine Ausweisung unter anderem von begünstigten Drittstaatsangehörigen, die bereits das Daueraufenthaltsrecht (§ 54a NAG) erworben haben, nur zulässig, wenn ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.

12Der Verwaltungsgerichtshof judiziert in ständiger Rechtsprechung, dass hinsichtlich Personen, die das Daueraufenthaltsrecht erworben haben, nicht nur bei der Ausweisung, sondern auch bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes der in § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG vorgesehene Gefährdungsmaßstab, der jenem in Art. 28 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie entspricht, heranzuziehen ist. Dieser Maßstab liegt im abgestuften System der Gefährdungsprognosen über dem vom BVwG für maßgeblich erachteten Gefährdungsmaßstab nach dem ersten und zweiten Satz des § 67 Abs. 1 FPG (vgl. etwa VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0205, Rn. 13, mwN).

13Der hier einschlägige § 54a Abs. 1 NAG stellt in Bezug auf den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt auf einen fünf Jahre rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalt im Bundesgebiet ab. Das BVwG nahm im angefochtenen Erkenntnis (Seite 16) selbst an, dass sich der Revisionswerber seit seiner (legalen) Wiedereinreise am 28. Juni 2016 (als Angehöriger einer Unionsbürgerin) rechtmäßig und ohne Unterbrechungen in Österreich aufgehalten habe, sodass davon ausgehend die Voraussetzungen für den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts erfüllt sind. Auf dieser Grundlage hätte über den Revisionswerber aber nur bei Vorliegen von Gründen im Sinn des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG („schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit“) ein Aufenthaltsverbot erlassen werden dürfen.

14 Indem das BVwG nicht auf diesen höheren Gefährdungsmaßstab abstellte, zugleich durch die Herabsetzung der Dauer des Aufenthaltsverbotes auf zwei Jahre aber zu erkennen gab, unter anderem aufgrund des „nicht derart schwerwiegenden“ Unrechtsgehalts der letzten Straftat nur von einer geringen Gefährdung durch den Revisionswerber auszugehen, hat es das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.

15 Im Übrigen hat das BVwG zum persönlichen Verhalten des Revisionswerbers außer betreffend seine letzte Verurteilung im Jahr 2019 keine näheren Feststellungen getroffen, sondern sich auf eine im Wesentlichen der Strafregisterauskunft folgende Beschreibung der zuvor erfolgten strafgerichtlichen Verurteilungen beschränkt. Das istselbst unter Zugrundelegung des vom BVwG herangezogenen Gefährdungsmaßstabes nach § 67 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPGnicht ausreichend. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist nämlich bei der notwendigen Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs. 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das „persönliche Verhalten“ des Fremden abzustellen ist und strafrechtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (vgl. etwa VwGH 15.3.2018, Ra 2018/21/0007, Rn. 6, mwN).

16 Dazu kommt, dass die vom BVwG im Rahmen der Interessenabwägung gemäß § 9 BFA VG getroffene Annahme, der Revisionswerber könne das Familienleben mit seiner Ehefrau in Ungarn fortsetzen, auf keinem tragenden Tatsachensubstrat beruht. Insbesondere hat das BVwG nicht nachvollziehbar geprüft, ob der seit 2008 in Österreich lebenden Ehefrau des Revisionswerbers eine Wohnsitzverlegung nach Ungarn und ein (tägliches) Pendeln zu ihrem Arbeitsplatz nach Wien überhaupt zumutbar ist.

17Aus den dargestellten Gründen hat das BVwG das angefochtene Erkenntnis (vorrangig) mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben ist.

18 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.

19Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 24. Oktober 2024