JudikaturVwGH

Ra 2022/19/0222 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
25. Juli 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision der M O N, vertreten durch die Mutter J O C als gesetzliche Vertreterin, diese vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Goldschmiedgasse 6/6 8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juli 2022, I405 2256025 1/2E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

1 Die Revisionswerberin ist eine im Oktober 2021 in Österreich geborene Staatsangehörige Nigerias. Ihr Vater, ihre Mutter und ihre im August 2017 (ebenfalls) in Österreich geborene Schwester sind auch nigerianische Staatsangehörige. Deren Anträge auf internationalen Schutz hatte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 11. April 2021 im Beschwerdeweg zuletzt rechtskräftig zur Gänze abgewiesen.

2 Durch ihre Mutter als gesetzliche Vertreterin stellte die Revisionswerberin am 19. November 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend wurde unter anderem vorgebracht, der Revisionswerberin drohe einerseits wegen der Armut ihrer Eltern „ein Leben auf der Straße“ als auch die in Nigeria verbreitete Genitalverstümmelung, insbesondere weil ihre Urgroßmutter ein „Witchdoktor“ sei und auch die Großmutter väterlicherseits zugunsten ihrer Beschneidung Druck ausüben würde.

3 Diesen Antrag wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 10. Mai 2022 ab, erteilte der Revisionswerberin keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Nigeria zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. In seiner Begründung traf das BFA Länderfeststellungen, denen zufolge die Inanspruchnahme staatlichen Schutzes gegen Genitalverstümmelung innerhalb des Federal Capital Territory Nigerias möglich sei und Eltern, die mit der Beschneidung ihrer Tochter nicht einverstanden seien, eine Genitalverstümmelung „in der Regel“ verhindern könnten, wobei auf Eltern und Kind Druck ausgeübt werden könnte und durch einen Umzug Eltern am ehesten die Beschneidung ihrer Tochter verhindern könnten. Beweiswürdigend verwies das BFA auf das Erkenntnis des BVwG im Asylverfahren der Schwester der Revisionswerberin, in dem das BVwG zu der dort ebenfalls von der Mutter der Revisionswerberin vorgebrachten Gefahr der Genitalverstümmelung ausgeführt habe, dass die Inanspruchnahme staatlichen Schutzes und ein Umzug der Familie in eine Region, in der keine derartige Gefahr drohe, möglich wäre. Vor diesem Hintergrund nahm das BFA an, dass auch die Revisionswerberin der Gefahr einer Beschneidung in Nigeria nicht ausgesetzt sei.

4 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei. Im Hinblick auf die in der Beschwerde wiederholte Behauptung einer drohenden Genitalverstümmelung schloss sich das BVwG der Begründung des BFA an und betonte ferner, dass der Beschwerde kein substantiiertes Vorbringen zu entnehmen sei, weshalb es den Eltern der Revisionswerberin nicht möglich sein sollte, ihre Tochter vor derartigen Praktiken zu beschützen, zumal ihnen zumutbar sei, sich in einem anderen Landesteil außerhalb der Heimatregion niederzulassen und sich dort eine Existenz aufzubauen, um eine etwaige Beschneidung der Revisionswerberin und einen allfälligen Kontakt mit der Urgroßmutter zu vermeiden.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8 Zu ihrer Zulässigkeit macht die Revision geltend, das BVwG habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterlassen, gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz verstoßen und einschlägige Berichte zur Genitalverstümmelung in Nigeria unberücksichtigt gelassen.

9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:

10 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüberhinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. etwa VwGH 18.11.2021, Ra 2021/19/0153, mwN).

11 Dass das BVwG von diesen Leitlinien abgewichen wäre, vermag die Revision in ihrem Zulassungsvorbringen nicht aufzuzeigen.

12 Fallbezogen ist nicht ersichtlich, dass das BFA kein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt hätte. Entgegen dem Vorbringen in der Revision ist dem von der Behörde festgestellten Sachverhalt in der Beschwerde auch nicht substantiiert entgegengetreten worden. Wie das BVwG zutreffend ausführte, gilt das auch für die Annahme des BFA, die Eltern der Revisionswerberin könnten eine Genitalverstümmelung ihrer Tochter durch die Übersiedlung in einen insofern sicheren Landesteil Nigerias vermeiden. Angesichts der Länderfeststellungen des BFA zur Grundversorgungssituation von Rückkehrern gilt gleiches ebenso für das mit Blick auf die Eltern der Revisionswerberin wiederholte Vorbringen der Armutsgefährdung.

13 Ferner wurden in der Beschwerde auszugsweise undatierte Länderberichte, deren Aktualität (auch angesichts der darin enthaltenen Bezugnahme auf eine Studie aus dem Jahr 1997) nicht ersichtlich ist, zitiert. Die Revision legt jedoch nicht dar, inwieweit diese Informationen den vom BFA herangezogenen Länderberichten inhaltlich widersprechen und insbesondere der Annahme einer innerstaatlichen Übersiedlungsmöglichkeit entgegenstehen würden.

14 Soweit die Revision überdies einen Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz behauptet, macht sie einen Verfahrensfehler geltend, dessen Relevanz für den Verfahrensausgang schon in der Zulässigkeitsbegründung darzutun wäre (vgl. VwGH 9.1.2020, Ra 2019/19/0547, mwN). Eine solche Darstellung gelingt der Revision auch durch die vorgebrachte Armutsgefährdung angesichts der in dieser Hinsicht nicht konkret bestrittenen Länderberichte und in Anbetracht der hohen Schwelle des Art. 3 EMRK (vgl. allgemein VwGH 25.9.2019, Ra 2019/19/0358, mwN) nicht.

15 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 25. Juli 2023

Rückverweise