JudikaturVwGH

Ra 2022/18/0197 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
21. November 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed und den Hofrat Mag. Tolar als Richter sowie die Hofrätin Dr. in Gröger als Richterin, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision der A A, vertreten durch Mag. Roman Jatzko als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Dr. Michael Vallender, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Paulanergasse 10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Juli 2022, W218 2254700 1/9E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige Afghanistans, stellte am 18. Februar 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid vom 1. April 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte der Revisionswerberin den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

3 Die gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides gerichtete Beschwerde der Revisionswerberin wies das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

4 Zur Begründung führte das BVwG insbesondere aus, die Revisionswerberin habe weder in Afghanistan noch seit ihrer Einreise nach Österreich eine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den in Afghanistan allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten darstelle. Sie habe nicht glaubhaft machen können, dass ihr aufgrund ihrer inneren Einstellung und ihrer Wünsche, ihr Leben selbst zu gestalten, arbeiten zu gehen sowie zu reisen und Sport zu machen, in Afghanistan asylrelevante Verfolgung drohe. Sie wäre auch alleine aufgrund des Umstandes, dass sie eine Frau sei, keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Das BVwG verkenne nicht, dass es seit der Machtübernahme durch die Taliban zu „weiteren Einschränkungen der Freiheiten von Frauen und Übergriffen auf Frauen“ komme. Allerdings sei „derzeit den Länderberichten und der Judikatur nicht zu entnehmen“, dass alle afghanischen Frauen gleichermaßen bloß aufgrund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen würden, einer Verfolgung aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe ausgesetzt zu sein.

5 Die dagegen gerichtete außerordentliche Revision behauptet im Rahmen der Darlegung ihrer Zulässigkeit nicht nur näher beschriebene Mängel im Ermittlungsverfahren betreffend die von der Revisionswerberin angenommene Lebensweise, sondern bringt insbesondere auch (sinngemäß) vor, aufgrund der veränderten politischen Situation seit der Machtübernahme der Taliban müsste nunmehr von einer asylrelevanten Verfolgung der Revisionswerberin im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihres Geschlechtes ausgegangen werden.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

6 Die Revision ist zulässig und begründet.

7 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat in seinem Urteil vom 4. Oktober 2024, C 608/22 und C 609/22, AH und FN, erkannt, dass diskriminierende Maßnahmen gegen Frauen, wie sie auch nach dem Vorbringen der Revisionswerberin vom Taliban Regime in Afghanistan gesetzt werden, sowohl aufgrund ihrer Intensität und ihrer kumulativen Wirkung als auch aufgrund der Folgen, die sie für die betroffenen Frauen haben, als „Verfolgung“ von Frauen im asylrechtlichen Sinn zu verstehen sind. Sie führen dazu, dass afghanischen Frauen in den Worten des EuGH „in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden. Diese Maßnahmen zeugen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in ihrem Herkunftsstaat verwehrt wird.“ (Rn. 44). Unter diesen Umständen könnten die zuständigen nationalen Behörden bei Anträgen auf internationalen Schutz, die von Frauen, die Staatsangehörige von Afghanistan sind, gestellt werden, davon ausgehen, dass es derzeit nicht erforderlich ist, bei der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin auf internationalen Schutz festzustellen, dass diese bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, sofern die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage wie ihre Staatsangehörigkeit oder ihr Geschlecht erwiesen sind (Rn. 57).

8 Mit diesen Erwägungen ist die Sichtweise des BVwG im vorliegenden Fall, die Revisionswerberin wäre bei Rückkehr nach Afghanistan keiner Verfolgung ausgesetzt, nicht in Einklang zu bringen.

9Insbesondere greift die Argumentation des BVwG, die Revisionswerberin habe seit ihrer Einreise nach Österreich noch keine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den in Afghanistan allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten darstelle, zu kurz. Wie der Verwaltungsgerichtshof im Gefolge des zitierten Erkenntnisses des EuGH bereits festgehalten hat, kommt es angesichts dessen, dass im Herkunftsstaat eine Situation gegeben ist, die in ihrer Gesamtheit Frauen zwingt, dort ein Leben zu führen, das mit der Menschenwürde unvereinbar ist, auf eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ nicht an (vgl. etwa VwGH 23.10.2024, Ra 2021/20/0425, Rn. 33).

10Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

11Von der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

12Die Zuerkennung von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 21. November 2024