Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A M, vertreten durch Mag. a Carolin Seifriedsberger, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Spiegelgasse 19, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Mai 2022, W175 2232664 1/12E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Der Revisionswerber, ein somalischer Staatsangehöriger, stellte am 20. Mai 2019 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass der Revisionswerber bereits in Italien um internationalen Schutz angesucht hatte und ihm dort der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde.
3 Mit Bescheid vom 29. April 2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag gemäß § 4a Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, stellte fest, dass sich der Revisionswerber nach Italien zurückbegeben müsse, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 und ordnete die Außerlandesbringung des Revisionswerbers an. Die Abschiebung nach Italien sei zulässig.
4 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die dagegen erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab. Die Revision erklärte es für nicht zulässig. Begründend führte das BVwG aus, dass der Revisionswerber bereits in Italien einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt und den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt bekommen habe. Aufgrund dessen habe das BFA zu Recht den in Österreich gestellten Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 4a AsylG 2005 zurückgewiesen und die Außerlandesbringung angeordnet. Der Revisionswerber laufe im Falle einer Überstellung nach Italien nicht Gefahr, einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe beziehungsweise einer sonstigen konkreten individuellen Gefahr unterworfen zu werden. Zu seinem in Österreich lebenden Onkel und dessen Familie würde keine besonders intensive Beziehung bestehen. Es liege weder ein gemeinsamer Haushalt, noch ein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis vor. Hinweise für eine fortgeschrittene Integration seien nicht hervorgekommen.
5 Dagegen wendet sich die vorliegende Revision, welche zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst geltend macht, das BVwG habe den Onkel des Revisionswerbers nicht als Zeugen vernommen und hierdurch seine amtswegige Ermittlungspflicht verletzt. Zudem sei die Beweiswürdigung hinsichtlich der drohenden Rückkehrsituation sowie der Verneinung eines engen Familienlebens auf unvertretbare Weise erfolgt. Der Revisionswerber drohe bei Rückkehr aus näher genannten Gründen in eine existenzbedrohende Situation zu geraten. Hinsichtlich der familiären Bindungen des Revisionswerbers habe das BVwG nicht nachvollziehbar dargelegt, weshalb es von keiner engen Beziehung zwischen dem Revisionswerber und seinem Onkel ausgehe. Auch habe es sich mit dem vorgelegten Obsorgebeschluss nicht auseinandergesetzt. Dem Umstand, dass die Integrationsbemühungen in einem Zeitraum entstanden seien, in welchem sich der Revisionswerber seines unsicheren Aufenthaltes habe bewusst sein müssen, sei ein unverhältnismäßig hoher Stellenwert eingeräumt worden.
6 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan.
7 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
8 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
9 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
10 Die Revision macht zum Einen geltend, der Revisionswerber würde im Falle seiner Rückkehr nach Italien in eine ausweglose und existenzbedrohende Situation geraten, die die vom Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung dargelegte Erheblichkeitsschwelle überschreite, was das BVwG verkannt habe.
11 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union zu Art. 33 Abs. 2 lit. a der Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. 2013 L 180, 60, hat eine Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz, weil bereits von einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden ist, zu unterbleiben, wenn die Lebensverhältnisse, die die antragstellende Partei in dem anderen Mitgliedstaat als anerkannter Flüchtling erwarten würde, sie der ernsthaften Gefahr aussetzten, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren (EuGH 13.11.2019, Rs C 540/17 u.a., Hamed u.a, Rz 43; ferner bereits EuGH 19.3.2019, Rs C 297/17 u.a., Ibrahim u.a., Rz 101).
12 Das mit der Rechtssache befasste Gericht wie zuvor auch die befasste Behörde trifft die Verpflichtung, „auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen“, die einer Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz entgegenstehen (vgl. EuGH 19.3.2019, Rs C 163/17, Jawo , Rz 90; EuGH 19.3.2019, Rs C 297/17, Ibrahim u.a, Rz 88).
13 Diese „Schwachstellen“ sind nur dann im Hinblick auf Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK relevant, „wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen (EuGH, Jawo , Rz 91, mit Verweis auf EGMR 21.1.2011 [Große Kammer], M.S.S./Belgien und Griechenland , 30696/09). Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, „wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (EuGH, Jawo , Rz 92, und EuGH, Ibrahim u.a, Rz 90; vgl. zu alledem VwGH 25.1.2022, Ra 2021/18/0085).
14 Vor dem Hintergrund der auf aktuellen Länderfeststellungen gründenden Ausführungen des BVwG hinsichtlich der Unterbringungs- und Versorgungslage von subsidiär Schutzberechtigten in Italien sowie den Feststellungen zur Person, wonach keine Vulnerabilität des Revisionswerbers ersichtlich ist, vermag die Revision nicht aufzuzeigen, dass eine Abschiebung nach Italien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK oder Art. 4 GRC führen würde.
15 Zum Anderen moniert die Revision, das BVwG habe die familiäre Beziehung des Revisionswerbers zu seinem Onkel und dessen Familie nicht gebührend gewürdigt. Dazu habe das BVwG es auch unterlassen, den Onkel des Revisionswerbers als Zeugen zu laden, obwohl dieser als enge und einzige Vertrauensperson darüber Auskunft hätte geben können, wie sich deren Beziehung gestalte, welche Integrationsschritte der Revisionswerber gesetzt habe und wie dieser unter den in Italien gemachten Erfahrungen leide. Aufgrund seiner amtswegigen Ermittlungspflicht wäre das BVwG - auch ohne entsprechenden Antrag des Revisionswerbers - verpflichtet gewesen, den Onkel als Zeugen einzuvernehmen.
16 Ob außerhalb des Bereiches des insbesondere zwischen Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern ipso iure zu bejahenden Familienlebens iSd Art. 8 EMRK ein Familienleben vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des EGMR jeweils von den konkreten Umständen ab, wobei für die Prüfung einer hinreichend stark ausgeprägten persönlichen Nahebeziehung gegebenenfalls auch die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung sind. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 19.10.2021, Ra 2021/18/0259, mwN).
17 Dass entgegen den Ausführungen des BVwG solche besonderen Abhängigkeitsmerkmale im Revisionsfall vorliegen würden, welche über die üblichen Bindungen hinausgehen und folglich eine unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK fallende familiäre Beziehung unter Erwachsenen zwischen dem Revisionswerber und seinem Onkel begründen, legt die Revision (auch mit dem Hinweis auf den vorgelegten Obsorgebeschluss) nicht dar.
18 Soweit die Revision in diesem Zusammenhang geltend macht, das BVwG habe es zu Unrecht unterlassen, den Onkel des Revisionswerbers als Zeugen einzuvernehmen, ist ihr zu erwidern, dass die Revision selbst einräumt, dass der Revisionswerber keinen diesbezüglichen Beweisantrag gestellt hat. Die Frage, ob weitere amtswegige Erhebungen erforderlich sind, stellt regelmäßig keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, sondern eine jeweils einzelfallbezogen vorzunehmende Beurteilung dar (vgl. VwGH 22.2.2021, Ra 2020/18/0504, mwN). Dass diese Beurteilung des BVwG im Revisionsfall unvertretbar erfolgt wäre, ist nicht ersichtlich (vgl. VwGH 29.8.2022, Ra 2022/18/0165, mwN), zumal der Revisionswerber selbst im Rahmen der mündlichen Verhandlung näher zu seinem Privat- und Familienleben und zu seiner Beziehung zu seinem Onkel und dessen Familie sowie dem Bestehen gegenseitiger Abhängigkeitsverhältnisse befragt wurde und das BVwG dies in seine Erwägungen einbezog.
19 Soweit sich die Revision schließlich insgesamt gegen die bei der Erlassung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme (hier: Anordnung zur Außerlandesbringung) vorgenommene Interessenabwägung des BVwG wendet, ist darauf hinzuweisen, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung des Verwaltungsgerichts im Allgemeinen wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel ist (vgl. VwGH 25.4.2019, Ra 2019/19/0114, mwN).
20 Dass das Ergebnis der gegenständlichen Interessenabwägung des BVwG fallbezogen als unvertretbar anzusehen wäre, vermag die Revision jedoch nicht aufzuzeigen.
21 In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 24. November 2022