JudikaturBVwG

W119 2284377-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
15. Oktober 2024

Spruch

W119 2284377-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Eigelsberger als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX auch XXXX , StA. Syrien, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Gregor KLAMMER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.11.2023, Zahl: 1317444909/222362725, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des bekämpften Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wird XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III., IV., V. und VI. des bekämpften Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein syrischer Staatsangehöriger, reiste illegal und schlepperunterstützt in das Bundesgebiet ein und stellte am 30.07.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen seiner Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 31.07.2022 brachte der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund vor: „Ich bin wegen dem Krieg ausgereist, weil ich Angst davor habe. Das ist mein einziger Fluchtgrund.“ Bezüglich seiner Rückkehrbefürchtung nannte er den Krieg in der Heimat.

Am 19.07.2023 wurde der Beschwerdeführer durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) niederschriftlich einvernommen und erkärte im Wesentlichen, er habe 2016 begonnen, für die Kurden im Heimatdorf Dienst zu leisten, sei nach einem Monat im November 2016 illegal in den Libanon gegangen und im August 2021 legal nach Syrien in sein Heimatdorf zurückgekehrt. Nach einem Monat hätten die Kurden versucht, ihn zu rekrutieren und es habe deswegen am 15.08.2021 bei ihm eine Hausdurchsuchung stattgefunden, woraufhin er im September 2021 illegal in die Türkei ausgereist sei. Während dieser Hausdurchsuchung sei der Beschwerdeführer beim Fischen gewesen und bei seiner Rückkehr von seiner Familie darüber informiert worden. Die Kurden hätten dieser gesagt, dass seine Freunde ihnen mitgeteilt hätten, der Beschwerdeführer sei aus dem Libanon zurückgekehrt. Sonst sei nichts passiert. Für die Regierung habe er keinen Dienst geleistet, nur den Kurden gedient, und zwar im Juli 2016.

Während seines Militärdienstes sei er in einem Haus gesessen, das die Kurden als Rekrutierungsstelle genutzt hätten und habe nichts gemacht.

Vom syrischen Militär habe der Beschwerdeführer bei der Einreise eine Aufforderung erhalten, dass er sich innerhalb von 15 Tagen melden müsse.

Mit dem gegenständlich bekämpften Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberichtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF (Spruchpunkt I.) wie auch gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr 100/2005 (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Syrien zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung. (Spruchpunkt VI.)

Gegen diesen Bescheid wurde rechtzeitig die gegenständliche Beschwerde erhoben. In dieser wurde im Wesentlichen vorgebracht, dem Beschwerdeführer drohe die Einziehung zum syrischen wie auch zum kurdischen Militärdienst bzw. Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung und könnte ihm auch wegen der Asylantragstellung im Ausland eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden.

Am 17.09.2024 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Arabisch eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der das Bundesamt entschuldigt nicht teilnahm, der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Lebensumständen und Fluchtgründen befragt wurde und die erkennende Richterin die Länderfeststellungen der Staatendokumentation zur Situation in Syrien vom 27.03.2024 sowie UNHCR: 1. Erwägungen zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (Aktualisierung V. und VI.), November 2017 und März 2021; InterimsIeitfaden zum internationalen Schutzbedarf von Asylsuchenden aus Syrien: Aufrechterhaltung der UNHCR Position aus dem Jahr 2017, vom Februar 2020; Schreiben vom Februar 2020: Vorläufige UNHCR Empfehlungen zum internationalen Schutzbedarf von Asylsuchenden aus Syrien: Fortgesetzte Anwendbarkeit der UNHCR Position aus 2017, ACCORD –Anfragebeantwortung zu Syrien: Gefälschte Dokumente bzw. echte Dokumente mit wahrheitswidrigem Inhalt (insb. Militär- u. Personalausweise, Strafregister-, Personenstands- und Familienbuchauszüge); Häufigkeit, Erlangung, Vorgehensweise, Preis, Bezahlung, Aushändigung durch Schlepper) [a-12196], 03. 08.2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2095411.html ACCORD - Anfragebeantwortung zu Syrien: Zwangsrekrutierung von Erwachsenen durch die Syrische Nationale Armee (SNA) oder andere oppositionelle militärische Gruppierungen [a-12101], 20.03.2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2091203.html ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (Autor): Anfragebeantwortung zu Syrien: Informationen über kurzen zeitlichen Aufschub zum Antritt des Wehrdiensts für Rückkehrer [a-12200], 5. September 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2096758.html eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien vom 27. 1. 2022: Wehrdienst, ACCORD-Anfragebeantwortung zu Syrien: Wehrdienstverweigerung und Desertion vom 8. 9. 2022, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien vom 14. 11. 2022: Rekrutierungspraxis der syrischen Regierungskräfte, EUAA Country Guidance: Syria vom April 2024, Asylländerbericht Syrien der ÖB Damaskus (Stand: Ende September 2021), Bericht DIS (Danish immigration Service), Staatendokumentation des BFA: Anfragebeantwortung Syrien – Wehrdienst, 27.01.2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068212/SYRI_SM_Wehrdienst_2022_01_27_KE.odt, Staatendokumentation des BFA zu Syrien: für Personenverkehr zur Einreise aktuell offener Grenzübergänge, 22.11.2022, ACCORD - Anfragebeantwortung zu Syrien: Sicherheitslage in Nordostsyrien, insbesondere in der Grenzregion um Semalka; Informationen zur Bewegungsfreiheit in den Gebieten unter kurdischer Selbstverwaltung [a-11859-2], 23.05.2022, Staatendokumentation des BFA - Anfragebeantwortung Syrien:, Fragen des BvwG zur Bestrafung von Wehrdienstverweigerung und Desertion, 16.09.2022, ACCORD - Anfragebeantwortung zu Syrien: Einberufung von Reservisten der syrischen Armee: Bedarf, Bedingungen, Alter, Dauer, Einsatzbereich, Möglichkeit des Freikaufens [a-12132-1], 14.06.2023, ACCORD –Anfragebeantwortung zu Syrien: Möglichkeit der syrischen Behörden, in den kurdisch kontrollierten Gebieten, in denen die Regierung Präsenz hat (Manbij, Ain Al-Arab, Tal Rifaat, Landstreifen entlang der türkischen Grenze) Personen für den Reservedienst einzuziehen; Personenkontrollen in diesen Gebieten, die einen Aufgriff von Regierungskritikerinnen ermöglichen [a-12197], 24.08.2023, ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (Autor): Anfragebeantwortung zu Syrien: Informationen über kurzen zeitlichen Aufschub zum Antritt des Wehrdiensts für Rückkehrer [a-12200], 5. September 2023, Staatendokumentation des BFA: Anfragebeantwortung Syrien – Wehrdienst, 27.01.2022, Staatendokumentation des BFA zu Syrien: für Personenverkehr zur Einreise aktuell offener Grenzübergänge, 22.11.2022, Staatendokumentation des BFA: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Einreise türkisch syrische Grenze, Weiterreise in AANES Gebiete, besonders Tal Rifaat, 29. März 2023, COUNTRY OF ORIGIN INFORMATION (COI) Report, Syria Military Service, Jänner 2024, Anfragebeantwortung zu Syrien: Konsequenzen bei Verweigerung des Dienstes in den Selbstverteidigungskräften; Konsequenzen für Angehörige; Wahrnehmung von Personen, die den Dienst in den Selbstverteidigungskräften verweigern; Situation von Arabern; Einsatz von Rekruten im Rahmen der Selbstverteidigungspflicht an der Front [a-12188] 6. September 2023. Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: SYRIEN, Zugriff des syrischen Regimes auf Deserteure in der AANES, vom 17. 4. 2024, Syrien Grenzübergänge COI CMS Version 1, 25.10.2023, EUAA Syria, major human rights, security, socio-economic developments Staatendokumentation des BFA: Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation zu Syrien: Rekrutierungspraxis YPG; Rekrutierung von Arabern, 2. März 2023 Staatendokumentation des BFA: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Provinz Aleppo 2012 bis 2017, Akteure in der Region zw. Manbidsch und Al Khafsah, 5. September 2019, Anfragebeantwortung zu Syrien: Rekrutierung Wehrpflichtiger durch die syrische Regierung in Manbidsch (Provinz Aleppo) vom 7. September 2023, ACCORD-Anfrage: Wehrdienst, 20. März 2024 https://www.ecoi.net/de/laender/arabische-republik-syrien/themendossiers/wehrdienst-syrien/ EUAA Country of Origin Information – Syria-Security Information vom Oktober 2023 in das Verfahren einführte und eine zweiwöchige Frist zur Abgabe einer Stellungnahme gewährte.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist syrischer Staatsangehöriger und gehört der kurdischen Volksgruppe sowie der islamisch-sunnitischen Religion an. Seine Muttersprache ist Arabisch.

Er wurde in XXXX bei Manbij im Gouvernement Aleppo geboren, wo er im Familienverband mit Eltern und Geschwistern lebte, vier Jahre die Schule besuchte und als Fischer und in der familieneigenen Landwirtschaft als Hirte tätig war. 2016 bis 2021 hielt er sich im Libanon auf und arbeitete auf dem Bau, anschließend kehrte er in sein Heimatdorf zurück und verdiente seinen Lebensunterhalt wiederum als Fischer. Er ist ledig und kinderlos.

Die Eltern, ein jüngerer Bruder und zwei jüngere Schwestern des Beschwerdeführers befinden sich noch im Herkunftsort. Die Familie verdient ihren Unterhalt durch die Fischerei bzw. der Vater des Beschwerdeführers als Verputzer.

Der Beschwerdeführer ist gesund, arbeitsfähig und selbsterhaltungsfähig.

Er reiste über mehrere Länder illegal und schlepperunterstützt nach Österreich ein und stellte am 30.07.2022 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer war in Syrien in der Vergangenheit keiner individuellen Bedrohung bzw. Verfolgung durch staatliche Stellen oder eine andere Gruppe ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer weist keine verinnerlichte politische Überzeugung gegen das syrische Regime oder die örtlichen Machthaber auf und wird ihm eine solche auch nicht unterstellt. Er hat keine als oppositionell anzusehenden Handlungen gesetzt, die ihn mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ins Blickfeld des syrischen Regimes oder der örtlichen Machthaber gebracht haben.

Der Beschwerdeführer konnte nicht glaubhaft machen, Rekrutierungsversuchen durch die kurdische SDF/YPG/PKK ausgesetzt gewesen oder 2016 vom Selbstverteidigungsdienst desertiert zu sein und er hat kein Verhalten gesetzt, aufgrund dessen ihm seitens der kurdischen Autonomiebehörden eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde. Es handelt sich bei ihm um keine exponierte Person. Die Autonomiebehörden sehen eine Verweigerung des Militärdienstes in der „Demokratischen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien“ grundsätzlich nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung an.

Ebensowenig droht ihm mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Rekrutierung durch türkische Einheiten.

Die Herkunftsregion des Beschwerdeführers steht unter kurdischer Kontrolle.

Das syrische Regime hat in der Umgebung seines Heimatbezirks zwar Stützpunkte, jedoch keinen Zugriff auf die Herkunftsregion des Beschwerdeführers selbst und ist dort nicht in der Lage, die Wehrpflicht durchzusetzen oder Oppositionelle zu verhaften. Der Beschwerdeführer wäre daher im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsort jedenfalls nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der Gefahr ausgesetzt, zum Wehrdienst für die syrische Armee eingezogen oder wegen Wehrdienstverweigerung bzw. –entziehung belangt bzw. verfolgt zu werden. Ihm wird durch das Regime auch keine oppositionelle Gesinnung unterstellt.

Dem Beschwerdeführer ist die Einreise in dieses Gebiet ohne Kontakt zum syrischen Regime über den nicht von der syrischen Regierung kontrollierten Grenzübergang Semalka-Faysh Khabur möglich. Er müsste bei einer Rückkehr in seine Heimatregion keine Gebiete durchqueren, die vom syrischen Regime kontrolliert werden.

Dem Beschwerdeführer droht nicht allein aufgrund seiner Ausreise oder der Asylantragstellung die Gefahr der Anwendung von physischer und/oder psychischer Gewalt.

Der Beschwerdeführer ist auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Blutrache wegen seiner Familienangehörigkeit bedroht.

Festgestellt wird, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr keine persönliche Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung droht.

Bei einer Rückführung des Beschwerdeführers nach Syrien kann angesichts der aktuellen Länderberichte des Bundesamtes das reale Risiko einer Verletzung von Art. 3 EMRK derzeit nicht mit ausreichender Sicherheit verneint werden (vgl. VwGH 25.06.2024, Ra 2024/18/0151).

Zur Situation im Herkunftsstaat:

Länderinformationsblatt der Staatendokumentation

Sicherheitslage

Letzte Änderung 2024-03-08 11:17

Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt (USIP 14.3.2023). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022).

Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse

Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Die Suche nach einer politischen Beilegung verlief im Sand (USIP 14.3.2023). Im Wesentlichen gibt es drei Militärkampagnen: Bestrebungen durch eine Koalition den Islamischen Staat zu besiegen, Kampfhandlungen zwischen der Syrischen Regierung und Kräften der Opposition und türkische Militäroperationen gegen syrische Kurden (CFR 24.1.2024). Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB Damaskus 1.10.2021). In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023).

Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 60 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 2.2.2024). United Nations Geospatial veröffentlichte eine Karte mit Stand Juni 2023, in welcher die wichtigsten militärischen Akteure und ihre Einflussgebiete verzeichnet sind (UNGeo 1.7.2023):

Karte mit Einflussgebieten der militärischen Akteure in Syrien

UNGeo 1.7.2023 (Stand: 6.2023)

Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien, wobei auch Konvoi- und Patrouille-Routen eingezeichnet sind, die von syrischen, russischen und amerikanischen Kräften befahren werden. Im Nordosten kommt es dabei zu gemeinsam genutzten Straßen [Anm.: zu den Gebieten mit IS-Präsenz siehe Unterkapitel zu den Regionen]:

Kontrollgebiete der einzelnen Akteure farbig dargestellt auf einer Karte von Syrien

CC 13.12.2023 (Stand: 30.9.2023)

Die militärischen Akteure und Syriens militärische Kapazitäten

Die Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.9.2021). Der Sondergesandte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen (VN) für Syrien Geir O. Pedersen wies am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden (UNSC 29.11.2022). Im Hinblick auf das Niveau der militärischen Gewalt ist eine Verstetigung festzustellen. Auch das Erdbeben am 6.2.2023 hat zu keiner nachhaltigen Verringerung der Kampfhandlungen geführt. In praktisch allen Landesteilen kam es im Berichtszeitraum zu militärischen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art und Ausprägung. Dabei bestanden auch teils erhebliche Unterschiede zwischen Regionen mit einer hohen Zahl gewalttätiger Auseinandersetzungen und vergleichsweise ruhigeren Landesteilen (AA 29.3.2023). Für keinen Landesteil Syriens kann insofern von einer nachhaltigen Beruhigung der militärischen Lage ausgegangen werden (AA 2.2.2024).

Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) der VN stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den VN benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). Im Mai 2023 begannen zusätzlich dazu die jordanischen Streitkräfte Luftangriffe gegen die Drogenschmuggler zu fliegen (SOHR 8.5.2023). Die USA sind mit mindestens 900 Militärpersonen in Syrien, um Anti-Terror-Operationen durchzuführen (CFR 24.1.2024). Seit Ausbruch des Krieges zwischen der Hamas und Israel begannen die USA mehrere Luftangriffe gegen iranische Milizen in Syrien und dem Irak zu fliegen. Anfang Februar 2024 eskalierten die Spannungen zwischen dem Iran und den USA, nachdem iranische Milizen in Jordanien eine militärische Stellung der USA mit einer Drohne angriffen und dabei mehrere US-amerikanische Soldaten töteten und verletzten. Die USA reagierten mit erhöhten und verstärkten Luftangriffen auf Stellungen der iranischen Milizen in Syrien und dem Irak. In Syrien trafen sie Ziele in den Räumen Deir ez-Zor, Al-Bukamal sowie Al-Mayadeen. Die syrische Armee gab an, dass bei den Luftangriffen auch Zivilisten sowie reguläre Soldaten getötet wurden (CNN 3.2.2024).

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 intensivierte Israel die Luftangriffe gegen iranische und syrische Militärstellungen CFR 24.1.2024). Infolge der kriegerischen Kampfhandlungen zwischen Israel und Hamas in und um Gaza seit dem 7.10.2023, wurde israelisch kontrolliertes Gebiet auch von Syrien aus mindestens dreimal mit Raketen beschossen. Israel habe daraufhin Artilleriefeuer auf die Abschussstellungen gerichtet. Beobachter machten iranisch kontrollierte Milizen für den Raketenbeschuss verantwortlich. Israel soll im selben Zeitraum, am 12.10.2023 und 14.10.2023 jeweils zweimal den Flughafen Aleppo sowie am 12.10.2023 den Flughafen Damaskus mit Luftschlägen angegriffen haben; aufgrund von Schäden an den Start- und Landebahnen mussten beide Flughäfen daraufhin den Betrieb einstellen (AA 2.2.2024).

Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018). Die syrische Regierung hat derzeit die Kontrolle über ca. zwei Drittel des Landes, inklusive größerer Städte, wie Aleppo und Homs. Unter ihrer Kontrolle sind derzeit die Provinzen Suweida, Daraa, Quneitra, Homs sowie ein Großteil der Provinzen Hama, Tartus, Lattakia und Damaskus. Auch in den Provinzen Aleppo, Raqqa und Deir ez-Zor übt die syrische Regierung über weite Teile die Kontrolle aus (Barron 6.10.2023). Aktuell sind die syrischen Streitkräfte mit Ausnahme von wenigen Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 2.2.2024). Die Opposition konnte eingeschränkt die Kontrolle über Idlib und entlang der irakisch-syrischen Grenze behalten. Das Erdbeben 2023 in der Türkei und Nordsyrien machte die tatsächliche Regierung fast unmöglich, weil die Opposition Schwierigkeiten hatte, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen (CFR 24.1.2024).

Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023) [Anm.: zu israelischen und amerikanischen Militäraktionen siehe u.a. Unterkapitel Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet und Unterkapitel Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien]. Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. Das Regime ist trotz begrenzter Kapazitäten grundsätzlich zu Luftangriffen im gesamten Land fähig, mit Ausnahme von Gebieten unter türkischer oder kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze. Nichtsdestotrotz basiert seine militärische Durchsetzungsfähigkeit fast ausschließlich auf der massiven militärischen Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans, bzw. durch seitens Iran unterstützte Milizen, einschließlich Hizbollah (AA 2.2.2024). Wenngleich offene Quellen seit August 2022 den Abzug militärischer Infrastruktur (insb. Luftabwehrsystem S-300) vermelden, lassen sich Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die russische Einsatzfähigkeit in Syrien bislang nicht substantiieren. Die Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) behauptet, dass Russland syrische Söldner u.a. aus den Streitkräften für den Kampfeinsatz in der Ukraine abwirbt. Unter Bezug auf syrische Militärangehörige sowie Familien der Söldner spricht STJ von 300 syrischen Kämpfern, die im Zeitraum Juni bis September 2022 nach Russland oder Ukraine verlegt worden seien. Mehrere von ihnen seien laut einer unbestätigten Mitteilung der rekrutierenden al-Sayyad Company for Guarding and Protection Services, welche der russischen Wagner-Gruppe zugeschrieben wird, gefallen (AA 29.3.2023). Russland hatte noch z.B. im Oktober 2022 seine Luftangriffe in der Provinz Idlib verstärkt (ICG 10.2022).

Die folgende Karte zeigt die verschiedenen internationalen Akteure und deren militärische Interessenschwerpunkte in Syrien:

Karte der ausländischen Kräfte in Syrien Stand Mitte 2023 Jusoor 30.7.2023

Im Jahr 2022 hielten die Kämpfe im nördlichen Syrien mit Beteiligten wie den Regimetruppen, den SDF, HTS sowie türkischen Streitkräften und ihren Verbündeten an (FH 9.3.2023). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien unter dem Namen 'Operation Claw-Sword', die nach türkischen Angaben auf Stellungen der SDF und der syrischen Streitkräfte abzielte, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße traf (HRW 7.12.2022). Die Türkei führte seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien durch (France 24 20.11.2022; vgl. CFR 24.1.2024). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 7.12.2022). Die türkischen Militäroperationen trieben Tausende Menschen in die Flucht und stellten 'eine ernste Bedrohung für ZivilistInnen' in den betroffenen Gebieten dar. Kämpfe zwischen den pro-türkischen Gruppen ermöglichten Vorstöße der HTS (FH 9.3.2023). Im Nordwesten Syriens führte im Oktober 2022 das Vordringen der HTS in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen (ICG 10.2022). Die Türkei bombardierte auch im Oktober 2023 kurdische Ziele in Syrien als Reaktion auf einen Bombenangriff in Ankara durch die PKK (Reuters 7.10.2023; vgl. AA 2.2.2024).

Im Gouvernement Dara'a kam es 2022 weiterhin zu Gewalt zwischen Regimekräften und lokalen Aufständischen trotz eines nominellen Siegs der Regierung im Jahr 2018 und eines von Russland vermittelten 'Versöhnungsabkommens'. Eine allgemeine Verschlechterung von Recht und Ordnung trägt in der Provinz auch zu gewalttätiger Kriminalität bei (FH 9.3.2023). In Suweida kam es 2020 und 2022 ebenfalls zu Aufständen, immer wieder auch zu Sicherheitsvorfällen mit Milizen, kriminellen Banden und Drogenhändlern. Dies führte immer wieder zu Militäroperationen und schließlich im August 2023 zu größeren Protesten (CC 13.12.2023). Die Proteste weiteten sich nach Daraa aus. Die Demonstranten in beiden Provinzen forderten bessere Lebensbedingungen und den Sturz Assads (Enab 20.8.2023).

Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“ (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.1.2022).

Seit Beginn 2023 wurden mit Stand 1.5.2023 auch 258 ZivilistInnen durch andere Akteure (als dem Regime) getötet, somit 75 Prozent aller zivilen Toten in diesem Jahr. Viele von ihnen wurden beim Trüffelsuchen getötet, und dazu kommen auch Todesfälle durch Landminen. Außerdem bietet die Unsicherheit in vielen Gebieten ein passendes Umfeld für Schießereien durch nicht-identifzierte Akteure (SNHR 1.5.2023).

Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS)

Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem US-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Sein Nachfolger Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraishi beging im Februar 2022 beim Eintreffen einer US-Spezialeinheit im Gouvernement Idlib Selbstmord. Als sein Nachfolger wurde Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi ernannt (EUAA 9.2022; vgl. DS 10.3.2022). Am 30.11.2022 bestätigte die Dschihadistenmiliz den Tod von Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi (BAMF 6.12.2022; vgl. CNN 30.11.2022). Das Oberkommando der US-Streitkräfte in der Region bestätigte, dass al-Quraishi Mitte Oktober 2022 bei einer Operation von syrischen Rebellen in der südlichen syrischen Provinz Dara’a getötet wurde (BAMF 6.12.2022). Der IS ernannte Abu al-Husain al-Husaini al-Quraishi zu seinem Nachfolger (CNN 30.11.2022; vgl. BAMF 6.12.2022). Im August 2023 wurde dieser bei Kampfhandlungen mit der HTS getötet und der IS musste zum dritten Mal innerhalb von zwei Jahren einen neuen Führer ernennen. Als Nachfolger wurde Abu Hafs al-Hashimi al-Qurayshi eingesetzt (WSJ 3.8.2023). Die Anit-Terror-Koalition unter der Führung der USA gibt an, dass 98 Prozent des Gebiets, das der IS einst in Syrien und Irak kontrollierte, wieder unter Kontrolle der irakischen Streitkräfte bzw. der SDF sind (CFR 24.1.2024).

Der Sicherheitsrat der VN schätzt die Stärke der Gruppe auf 6.000 bis 10.000 Kämpfer in ganz Syrien und im Irak, wobei die operativen Führer der Gruppe hauptsächlich in Syrien stationiert sind (EUAA 9.2022). Die Terrororganisation IS kann in Syrien selbst in ihren Rückzugsgebieten im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien weiterhin keine territoriale Kontrolle mehr ausüben. Mit mehreren Tausend Kämpfern sowie deren Angehörigen, die sich in Gefängnissen und Lagern in Nordostsyrien in Gewahrsam der SDF befinden, sowie einer vermutlich dreistelligen Zahl von im Untergrund aktiven Kämpfern bleibt der IS jedoch ein relevanter asymmetrischer Akteur (AA 2.2.2024). Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle und Attentate (DIS 29.6.2020). Der IS verübte immer wieder Angriffe und Anschläge, insbesondere auf Einheiten der SDF im Nordosten sowie auf Truppen des Regimes in Zentralsyrien (AA 2.2.2024). IS-Kämpfer sind in der Wüste von Deir ez-Zor, Palmyra und Al-Sukhna stationiert und konzentrieren ihre Angriffe auf Deir ez-Zor, das Umland von Homs, Hasakah, Aleppo, Hama und Raqqa (NPA 15.5.2023). In der ersten Jahreshälfte 2023 wurde von 552 Todesopfer durch Angriffe des IS berichtet (NPA 8.7.2023).

Trotz der starken Präsenz syrischer und russischer Streitkräfte in Südsyrien sind mit dem IS verbundene Kämpfer in der Region aktiv und das syrische Regime ist derzeit nicht in der Lage, IS-Aktivisten in Gebieten zurückzudrängen, die vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen (VOA 24.10.2022). Der IS ist im Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent bei Anti-­Terror­-Operationen auftritt als die SDF (Zenith 11.2.2022). Nach Angaben der International Crisis Group verübten IS-Zellen Ende 2021 durchschnittlich zehn bis 15 Angriffe auf die Regierungsstreitkräfte pro Monat, die meisten davon im Osten von Homs und im ländlichen westlichen Deir Ez-Zour. Dieser Trend setzte sich auch im Jahr 2022 fort (EUAA 9.2022). Mitte 2020 gehörten zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (DIS 29.6.2020). Der IS profitierte auch von einem Sicherheitsvakuum, das dadurch entstand, dass die verschiedenen militärischen Kräfte ihre Aktivitäten aufgrund der COVID-19-Pandemie reduzierten (USDOS 30.3.2021).

Zivile Todesopfer landesweit

Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in London (SOHR), verzeichnete für das Jahr 2023 mit 4.361 getöteten Personen die höchste Todesopferzahl in drei Jahren. Darunter zählten sie 1.889 ZivilistInnen, darunter 307 Kinder und 241 Frauen (SOHR 31.12.2023).

Balkendiagramm der monatlichen Todesopfer SOHR 31.12.2023

Das Armed Conflict Location Event Data Project (ACLED) dokumentierte im Zeitraum 1.1.2021 bis 30.6.2023 in den syrischen Gouvernements die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer sowie Todesopfern. Demnach kamen im Jahr 2022 5.949 Menschen ums Leben und im ersten Halbjahr 2023 2.796 Personen (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):

ACLED o.D.

Gouverne-ments Vorfälle 2021

Todesopfer 2021

Vorfälle 2022

Todesopfer 2022

Vorfälle 2023 (bis 30.6.)

Todesopfer (bis 30.6.)

Deir ez Zor 473 1131 339 755 277 560

Daraa 375 649 467 708 195 326

Al Hasakeh 345 621 340 926 74 119

Aleppo 308 701 503 1260 216 502

Idlib 306 697 213 481 134 321

Raqqa 296 780 270 748 73 127

Hama 143 547 96 252 67 232

Homs 114 402 112 376 87 309

Rural Damascus 113 140 157 244 46 75

As Sweida 39 47 35 66 14 22

Quneitra 31 39 12 22 19 30

Lattakia 29 69 39 84 43 141

Damaskus 14 41 15 22 12 31

Tartous 4 8 3 5 1 1

Insg. 2590 5872 2601 5949 1258 2796

Im Monatsverlauf dokumentierte ACLED im Zeitraum 1.1.2020-30.6.2023 die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):

Strichdiagramm der sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer pro Monat

ACLED o.D.; *2023: Zeitraum 1.1.-30.6.2023

Der Großteil der von ACLED gesammelten Daten basiert auf öffentlich zugänglichen Sekundärquellen. Die Daten können daher das Ausmaß an Vorfällen unterschätzen. Insbesondere Daten zur Anzahl an Todesopfern sind den Gefahren der Verzerrung und der ungenauen Berichterstattung ausgesetzt. ACLED gibt an, konservative Schätzungen zu verwenden (ACLED/ACCORD 25.3.2021).

Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 29.11.2021).

Informationen zur Untersuchung von Chemiewaffeneinsätzen in Syrien

Die syrische Regierung wird beschuldigt mehrmals chemische Waffen eingesetzt zu haben, was zu internationalen Verurteilungen in den Jahren 2013, 2017 und 2018 führte (CFR 24.1.2024). Seit der im November 2017 an russischen Vetos im VN-Sicherheitsrat gescheiterten Verlängerung des Mandats des „Joint Investigative Mechanism“ (JIM) fehlte ein Mechanismus, der die Urheberschaft von Chemiewaffeneinsätzen feststellt. Ein gegen heftigen Widerstand Russlands im Juni 2018 angenommener Beschluss erlaubt nun der Organisation für das Verbot von Chemischen Waffen (OPCW), die Verantwortlichen der Chemiewaffenangriffe in Syrien im Rahmen eines hierfür neu gebildeten „Investigation and Identification Teams“ (IIT) zu ermitteln. Im April 2021 legte das IIT seinen zweiten Ermittlungsbericht vor, demzufolge hinreichende Belege vorliegen, dass der Chemiewaffeneinsatz in der Stadt Saraqib im Februar 2018 auf Kräfte des syrischen Regimes zurückzuführen ist. Die Untersuchung dreier Angriffe im März 2017 kam zu dem Ergebnis, dass hinreichende Belege vorliegen, dass die syrischen Luftstreitkräfte für den Einsatz von Sarin am 24. und 30.3.2017 sowie Chlorgas am 25.3.2017 in Latamenah verantwortlich sind. Die unabhängigen internationalen Experten der FFM gehen, davon unabhängig, weiter Meldungen zu mutmaßlichen Chemiewaffeneinsätzen nach. So kommt der FFM-Bericht vom 1.3.2019 zu dem Ergebnis, dass bei der massiven Bombardierung von Duma am 7.4.2018 erneut Chemiewaffen (Chlor) eingesetzt wurden („reasonable grounds“). Auch eine Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen kam zu diesem Ergebnis. Pressemeldungen zufolge soll das Assad-Regime am 19.5.2019 wiederholt Chlorgas in Kabana/Jabal al-Akrad im Gouvernement Lattakia eingesetzt haben. Die US-Regierung hat hierzu erklärt, dass auch sie über entsprechende Hinweise verfüge, um den Chlorgaseinsatz entsprechend zuzuordnen. Untersuchungen durch FFM bzw. IIT stehen noch aus. Am 1.10.2020 veröffentlichte die FFM zwei weitere Untersuchungsberichte zu vermuteten Chemiewaffeneinsätzen in Saraqib (1.8.2016) und Aleppo (24.11.2018). In beiden Fällen konnte die OPCW angesichts der vorliegenden Informationslage nicht sicher feststellen, ob chemische Waffen zum Einsatz gekommen sind (AA 29.11.2021). Am 26.1.2022 veröffentlichte die Untersuchungskommission der OPCW einen Bericht, in dem sie zu dem Schluss kommt, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.9.2015 in Marea, Syrien, ein chemischer Blisterstoff als Waffe eingesetzt wurde (OPCW 26.1.2022). In einem weiteren Bericht vom 1.2.2022 kommt die OPCW zu dem Schluss, dass es außerdem hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.10.2016 in Kafr Zeita eine industrielle Chlorflasche als chemische Waffe eingesetzt wurde (OPCW 1.2.2022).

Eine umfangreiche Analyse des Global Public Policy Institute (GPPi) von 2019 konnte auf Basis der analysierten Daten im Zeitraum 2012 bis 2018 mindestens 336 Einsätze von Chemiewaffen im Syrien-Konflikt bestätigen und geht bei 98 Prozent der Fälle von der Urheberschaft des syrischen Regimes aus (AA 29.11.2021).

Auch wenn es im Jahr 2022 kein Einsatz von chemischen Waffen berichtet wurde, so wird davon ausgegangen, dass das Regime weiterhin über ausreichende Vorräte von Sarin und Chlor verfügt, und über die Expertise zur Produktion und Anwendung von Chlor-hältiger Munition verfügt. Das Regime erfüllte nicht die Forderungen der Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) Conference of the States Parties, weshalb seine Rechte in der Organisation suspendiert bleiben (USDOS 20.3.2023).

Kontaminierung mit Minen und nicht-detonierten Sprengmitteln

Neben der Bedrohung durch aktive Kampfhandlungen besteht in weiten Teilen des Landes eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch Kampfmittel. So zählt die CoI in ihrem jüngsten Bericht 12.350 Vorfälle mit Blindgängern oder Landminen im Zeitraum 2019 bis April 2022. Die Gesamtzahl der durch Landminen (bekannten) getöteten Opfer im Jahr 2023 beträgt 101, darunter 25 Kinder und acht Frauen. Laut dem Humanitarian Needs Overiew der VN für 2022 ist jede dritte Gemeinde in Syrien kontaminiert, besonders betroffen sind demnach die Gebiete in und um die Städte Aleppo, Idlib, Raqqa, Deir ez-Zor, Quneitra, Dara‘a und die ländliche Umgebung von Damaskus. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt. Im Juli 2018 wurde ein Memorandum of Understanding zwischen der zuständigen United Nations Mine Action Service (UNMAS) und Syrien unterzeichnet. Dennoch behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und - Räumung spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA 2.2.2024).

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Zenith (11.2.2022): Der IS rekrutiert eine neue Generation von Kämpfern, https://magazin.zenith.me/de/politik/interview-mit-syrien-experte-fabrice-balanche-%C3%BCber-den-die-kurden-und-syrien, Zugriff 6.7.2023

"Versöhnungsabkommen" (auch "Beilegungsabkommen")

Letzte Änderung 2024-03-08 11:22

Die syrischen Behörden nutzen sogenannte "reconciliation agreements" [in anderen Quellen auch als "settlement agreements" - Beilegungsabkommen - bezeichnet] seit Beginn des Konfliktes (NMFA 5.2022). Die Evakuierung der von Rebellen gehaltenen Gemeinde Daraya im August 2016 markierte dabei einen Wendepunkt in der Nutzung von Versöhnungsabkommen durch die syrische Regierung als Strategie zur Rückeroberung der von Rebellen gehaltenen Gebiete. Bis zur Vereinbarung in Daraya waren in verschiedenen Gemeinden in ganz Syrien örtlich begrenzte Waffenstillstände eingesetzt worden. Sowohl die lokalen Waffenstillstände als auch die Versöhnungsvereinbarungen sind eine militärische Strategie, mit der Rebellengebiete entweder sofort oder zu einem späteren Zeitpunkt zum Einlenken gezwungen werden sollen, um Menschen und Gebiete in den Staat wiedereinzugliedern (MEE 28.3.2018). Das Verfahren ist grundsätzlich für Personen gedacht, die im Sicherheitsapparat aktenkundig sind oder die von den Behörden im Zusammenhang mit einer offenen Angelegenheit gesucht werden. Sowohl Kombattanten als auch Zivilisten können Versöhnungsvereinbarungen unterzeichnen. Es gibt lokale und individuelle Versöhnungsabkommen (NMFA 5.2022).

Lokale Versöhnungsabkommen in ehemaligen Oppositionsgebieten

Die "Versöhnungsprozesse" scheinen ad hoc durchgeführt zu werden, was bedeutet, dass sie variieren und keine eindeutige Beschreibung des Prozesses gegeben werden kann. Für die praktische Umsetzung der Vereinbarungen ist ein "Versöhnungsausschuss" zuständig. Dieses Gremium ist kein Gericht. Es gibt kein materiell-rechtliches Verfahren und das Justizministerium ist nicht beteiligt. Das Ergebnis ist kein Urteil, sondern eine Sicherheitserklärung. Der Inhalt des Abkommens kann nicht angefochten werden. Die betreffende Person gibt ihre leichten Waffen ab und erklärt schriftlich, dass sie von Widerstandstätigkeiten absehen wird. Im Gegenzug verspricht die syrische Regierung, die Vorwürfe aus dem Strafregister zu streichen und den Namen der Person von den Fahndungslisten zu entfernen. Männer, die noch ihren Militärdienst ableisten müssen, haben sechs Monate Zeit, sich beim Rekrutierungsbüro zu melden. Es gibt Quellen, die berichten, dass diejenigen, die freigelassen werden, ein Dokument erhalten (NMFA 5.2022).

Der Abschluss der "Versöhnungsabkommen" folgt in der Regel einem Muster, das mit realer Versöhnung wenig gemeinsam hat. Die Vereinbarungen mit Rebellentruppen werden meist am Ende einer Belagerung durch Regierungstruppen abgeschlossen (ÖB Damaskus 12.2022). Laut der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD), eine 2018 gegründete zivilgesellschaftliche Basisbewegung aus Syrien, gehörten zu den Taktiken bisher auch Belagerungen, bei denen das Regime die Menschen in diesen Gebieten nicht nur der Grundversorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten beraubte, sondern sie auch mit Luftangriffen und Granaten beschoss, die Infrastruktur zerstörte und Zivilisten tötete, um das Gebiet schließlich zur Kapitulation und zur Unterzeichnung eines Versöhnungsabkommens zu zwingen (SACD 8.11.2021). Im Allgemeinen bieten die Versöhnungsverfahren zwei Möglichkeiten: eine Versöhnungsvereinbarung zu unterzeichnen und weiterhin im Regierungsgebiet zu leben oder in das Oppositionsgebiet im Nordwesten Syriens zu ziehen (NMFA 5.2022). Die Vereinbarungen beinhalten oft die Evakuierung der Gebiete von Rebellenkämpfern und deren Familien, die dann in andere Regionen des Landes (zumeist im Norden) verbracht werden (ÖB Damaskus 12.2022). Sie werden also auch dazu benutzt, Bevölkerungsgruppen umzusiedeln (ÖB Damaskus 12.2022; vgl. OFPRA 13.12.2022) und sind de facto Kapitulationsvereinbarungen (NMFA 5.2022; vgl. SACD 8.11.2021, TIMEP 15.10.2021). Weiters dienen die Versöhnungsabkommen der Syrischen Regierung zur Rekrutierung von Wehrpflichtigen, die dann entweder in der regulären Armee oder regierungsnahen Milizen dienen müssen (EUAA 10.2023).

Die von der Regierung angebotenen Versöhnungsabkommen sind an verschiedene Bedingungen geknüpft (STDOK 8.2017). Die Wehrpflicht war bisher meist ein zentraler Bestandteil der Versöhnungsabkommen (AA 13.11.2018). Manche Vereinbarungen besagen, dass Männer nicht an die Front geschickt werden, sondern stattdessen bei der örtlichen Polizei eingesetzt werden (STDOK 8.2017), oder den Männern im wehrpflichtigen Alter wird eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert (AA 2.2.2024; vgl. EB 14.6.2023; vgl. SD 9.6.2023). Einem von EUAA interviewten Experten zufolge können Deserteure oder Wehrdienstverweigerer durch ein Versöhnungsabkommen mit der Regierung Strafen entgehen. Teilweise treten sie im Rahmen dieser Abkommen Milizen bei oder formen neue, welche mit der syrischen Armee oder dem Geheimdienst zusammenarbeiten (EUAA 10.2023). Im Rahmen von Versöhnungsabkommen gemachte Garantien der Regierung werden jedoch nicht eingehalten. Die syrischen Behörden haben Einzelpersonen verhaftet, nachdem ihnen die Freilassung zugesichert wurde, und Vereinbarungen über die Freistellung von der Wehrpflicht, über den Dienstort neuer Wehrpflichtiger (BS 23.2.2022) oder zur Schonfrist vor dem Einzug zum Militärdienst wurden gebrochen (AA 2.2.2024). Es wird von willkürlichen Verhaftungen von Personen berichtet, die sich zuvor mit der syrischen Regierung "versöhnt" hatten (UNHRC 7.2.2023; vgl. HRW 12.1.2023; vgl. UNHRC 24.8.2023) und es kommt trotz Abkommen zu Verhaftungen und dem Verschwinden von früheren Kämpfern in deren Häusern oder an Checkpoints. Es gibt Berichte über die gezielte Tötung von ehemaligen Kämpfern, die sich nunmehr den syrischen Streitkräften angeschlossen haben (ÖB Damaskus 12.2022). Auch werden manche Personen, die einen Versöhnungsprozess durchlaufen haben, von ihren Nachbarn früherer Vergehen beschuldigt und bekommen dadurch Probleme mit dem Geheimdienst (EUAA 10.2023). Der Abschluss von "Versöhnungsabkommen" in bestimmten Gebieten schützt die dortige Bevölkerung nicht vor dem willkürlichen, rücksichtslosen Verhalten der dort präsenten regierungsfreundlichen Milizen (OFPRA 13.12.2022). Diese Menschenrechtsverletzungen decouragieren auch die Rückkehr von geflüchteten Personen. Durch mehrere Gesetzeserlässe wurde die Regierung 2019 zur Konfiskation des Eigentums von "Terroristen" ermächtigt. Als Terroristen werden vor allem auch viele Oppositionelle gelistet (ÖB Damaskus 12.2022).

Generell lässt sich seitens der Regierung das Bestreben feststellen, möglichst schnell wieder staatliche Strukturen in den eroberten Gebieten zu etablieren. Allerdings gibt es offenbar große Herausforderungen für die syrische Regierung, dieses Bestreben flächendeckend umzusetzen (ÖB Damaskus 12.2022).

Individuelle Versöhnungsabkommen

Soweit bekannt, gibt es auch individuelle Versöhnungsabkommen für Syrer, die aus dem Ausland nach Syrien zurückkehren wollen, bzw. für Vertriebene, die in ein Gebiet unter der Kontrolle der Behörden zurückkehren. Der Abschluss eines individuellen Versöhnungsabkommens ist auch hier kein genau definiertes Verfahren und kann von Person zu Person und von Botschaft zu Botschaft variieren; in der Regel beinhaltet es jedoch die Unterzeichnung eines Dokuments in einer Botschaft, in dem die Person ihre "Straftat" zugibt. Versöhnungsabkommen bieten allerdings keinen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen (NMFA 5.2022). Eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums gibt an, dass der individuelle Versöhnungsprozess entweder aus dem Ausland oder aus einem Gebiet, das nicht unter Regierungskontrolle steht, begonnen werden kann, aber der Abschluss in einem Gebiet unter Regierungskontrolle erfolgen muss. Das Dokument zur Bestätigung dieses individuellen Versöhnungsprozesses kann nur in einem Gebiet unter der Kontrolle der syrischen Regierung ausgestellt werden. Dieselbe Quelle merkt an, dass Personen, die einen solchen individuellen Versöhnungsprozess beginnen, erst recht die Aufmerksamkeit der syrischen Behörden auf sich ziehen (NMFA 8.2023).

Anmerkung: Für weitere Informationen sowie zusätzliche Genehmigungsverfahren siehe Kapitel Rückkehr, Unterkapitel "Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort".

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff 3.7.2023

BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): Syria Country Report 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 4.7.2023

EB - Enab Baladi (14.6.2023): New security settlement to enhance regime grip on Daraa: activists, displaced, https://english.enabbaladi.net/archives/2023/06/new-security-settlement-to-enhance-regime-grip-on-daraa-activists-displaced/, Zugriff 24.1.2024

EUAA - European Union Asylum Agency (10.2023): Syria: Country Focus, https://www.ecoi.net/en/file/local/2098437/2023_10_EUAA_COI_Report_Syria_Country_focus.pdf, Zugriff 11.1.2024

HRW – Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085501.html, Zugriff 4.7.2023

MEE - Middle East Eye (28.3.2018): Besiege, bombard, retake: Reconciliation agreements in Syria, https://www.middleeasteye.net/opinion/besiege-bombard-retake-reconciliation-agreements-syria, Zugriff 3.7.2023

NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (8.2023): Country of Origin Information Report on Syria, https://open.overheid.nl/documenten/ronl-e07a04cd19e3da2dac1adebf7a36701e6aee7e7d/pdf, Zugriff 11.12.2023

NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 3.7.2023

ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2022, Antwortschreiben per E-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

OFPRA - Office français de protection des réfugiés et apatrides [France] (13.12.2022): Syrie : Situation dans les zones reconquises par les forces pro-régime depuis 2020, https://www.ofpra.gouv.fr/libraries/pdf.js/web/viewer.html?file=/sites/default/files/ofpra_flora/2212_syr_zones_reconquises_par_le_regime_156325_web.pdf, Zugriff 4.7.2023

SACD - Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD) (8.11.2021): Did Daraa mark the end of reconciliation agreements in Syria?, https://syacd.org/did-daraa-mark-the-end-of-reconciliation-agreements-in-syria/, Zugriff 3.7.2023

SD - Syria Direct (9.6.2023): Wave of new Daraa settlements amid Arab normalization efforts, https://syriadirect.org/wave-of-new-daraa-settlements-amid-arab-normalization-efforts/, Zugriff 24.1.2024

SHRC - Syrian Human Rights Committee, the (26.1.2023): Car Trader assasinated in Daraa, https://www.shrc.org/en/?p=34054, Zugriff 4.7.2023

SNHR - Syrian Network for Human Rights (17.1.2023); Most Notable Human Rights Violations in Syria in 2022, https://snhr.org/wp-content/uploads/2023/01/R221213E.pdf, Zugriff 4.7.2023

STDOK - Staatendokumentation of the BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Bericht Syrien – mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 3.7.2023

TIMEP - The Tahrir Institute for Middle East Policy (15.10.2021): Daraa: Another Example of the Regime’s Failure of Reconciliation, https://timep.org/commentary/analysis/daraa-another-example-of-the-regimes-failure-of-reconciliation/, Zugriff 3.7.2023

UNHRC – United Nations Human Rights Council (14.8.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://www.ecoi.net/en/file/local/2097210/G2315549.pdf, Zugriff 24.1.2024

UNHRC - United Nations Human Rights Council (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic*, **, https://www.ecoi.net/en/file/local/2088857/G2301021.pdf, Zugriff 4.7.2023

USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2089061.html, Zugriff 4.7.2023

Nordost-Syrien (Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) und das Gebiet der SNA (Syrian National Army)

Letzte Änderung 2024-03-08 15:02

Besonders volatil stellt sich laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amt die Lage im Nordosten Syriens (v. a. Gebiete unmittelbar um und östlich des Euphrats) dar. Als Reaktion auf einen, von der Türkei der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) zugeschriebenen, Terroranschlag mit mehreren Toten in Istanbul startete das türkische Militär am 19.11.2022 eine mit Artillerie unterstützte Luftoperation gegen kurdische Ziele u. a. in Nordsyrien. Bereits zuvor war es immer wieder zu vereinzelten, teils schweren Auseinandersetzungen zwischen türkischen und Türkei-nahen Einheiten und Einheiten der kurdisch dominierten SDF (Syrian Democratic Forces) sowie Truppen des Regimes gekommen, welche in Abstimmung mit den SDF nach Nordsyrien verlegt wurden. Als Folge dieser Auseinandersetzungen, insbesondere auch von seit Sommer 2022 zunehmenden türkischen Drohnenschlägen, wurden immer wieder auch zivile Todesopfer, darunter Kinder, vermeldet (AA 29.3.2023). Auch waren die SDF gezwungen, ihren Truppeneinsatz angesichts türkischer Luftschläge und einer potenziellen Bodenoffensive umzustrukturieren. Durch türkische Angriffe auf die zivile Infrastruktur sind auch Bemühungen um die humanitäre Lage gefährdet (Newlines 7.3.2023). Die Angriffe beschränkten sich bereits im 3. Quartal 2022 nicht mehr nur auf die Frontlinien, wo die überwiegende Mehrheit der Zusammenstöße und Beschussereignisse stattfanden; im Juli und August 2022 trafen türkische Drohnen Ziele in den wichtigsten von den SDF kontrollierten städtischen Zentren und töteten Gegner (und Zivilisten) in Manbij, Kobanê, Tell Abyad, Raqqa, Qamishli, Tell Tamer und Hassakah (CC 3.11.2022). Bereits im Mai 2022 hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine vierte türkische Invasion seit 2016 angekündigt (HRW 12.1.2023). Anfang Oktober 2023 begannen die türkischen Streitkräfte wieder mit der Intensivierung ihrer Luftangriffe auf kurdische Ziele in Syrien, nachdem in Ankara ein Bombenanschlag durch zwei Angreifer aus Syrien verübt worden war (REU 4.10.2023). Die Luftangriffe, die in den Provinzen Hasakah, Raqqa und Aleppo durchgeführt wurden, trafen für die Versorgung von Millionen von Menschen wichtige Wasser- und Elektrizitätsinfrastruktur (HRW 26.10.2023; vgl. AA 2.2.2024).

Die Türkei unterstellt sowohl den Streitkräften der Volksverteidigungseinheiten (YPG) als auch der Democratic Union Party (PYD) Nähe zur von der EU als Terrororganisation gelisteten PKK und bezeichnet diese daher ebenfalls als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 29.11.2021).

Der Think Tank Newslines Institute for Strategy and Policy sieht auf der folgenden Karte besonders die Gebiete von Tal Rifa'at, Manbij und Kobanê als potenzielle Ziele einer türkischen Offensive. Auf der Karte sind auch die Strecken und Gebiete mit einer Präsenz von Regime- und pro-Regime-Kräften im Selbstverwaltungsgebiet ersichtlich, die sich vor allem entlang der Frontlinien zu den pro-türkischen Rebellengebieten und entlang der türkisch-syrischen Grenze entlangziehen. In Tal Rifa'at und an manchen Grenzabschnitten sind sie nicht präsent:

Karte Syriens mit eingekreisten Ortschaften, Manbij, Tal Rifaat und Kobane, wo mögliche türkische Operationen stattfinden könnten

Newlines 7.3.2023

Der Rückzug der USA aus den Gebieten östlich des Euphrat im Oktober 2019 ermöglichte es der Türkei, sich in das Gebiet auszudehnen und ihre Grenze tiefer in Syrien zu verlegen, um eine Pufferzone gegen die SDF zu schaffen (CMEC 2.10.2020) [Anm.: Siehe hierzu Unterkapitel türkische Militäroperationen in Nordsyrien im Kapitel Sicherheitslage]. Aufgrund der türkischen Vorstöße sahen sich die SDF dazu gezwungen, mehrere tausend syrische Regierungstruppen aufzufordern, in dem Gebiet Stellung zu beziehen, um die Türkei abzuschrecken, und den Kampf auf eine zwischenstaatliche Ebene zu verlagern (ICG 18.11.2021). Regimekräfte sind seither in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent (AA 29.11.2021). Die Türkei stützte sich bei ihrer Militäroffensive im Oktober 2019 auch auf Rebellengruppen, die in der 'Syrian National Army' (SNA) zusammengefasst sind; seitens dieser Gruppen kam es zu gewaltsamen Übergriffen, insbesondere auf die kurdische Zivilbevölkerung sowie Christen und Jesiden (Ermordungen, Plünderungen und Vertreibungen). Aufgrund des Einmarsches wuchs die Zahl der intern vertriebenen Menschen im Nordosten auf über eine halbe Million an (ÖB Damaskus 1.10.2021).

Auf der folgenden Karte sind die militärischen Akteure der Region wie auch militärische und infrastrukturelle Maßnahmen, welche zur Absicherung der kurdischen "Selbstverwaltung" (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) nötig wären, eingezeichnet. Auf dieser Karte ist entlang der gesamten Frontlinie zu pro-türkischen Gebieten bzw. der türkisch-syrischen Grenze die Präsenz einer Kooperation zwischen SDF, Regime und russischen Truppen mit Ausnahme entlang des Tigris im äußersten Nordosten verzeichnet:

Karte von Nordostsyrien mit detaillierter Beschriftung TWI 15.3.2022

Entgegen früheren Ankündigungen bleiben die USA weiterhin militärisch präsent (ÖB Damaskus 1.10.2021; vgl. AA 29.11.2021; JsF 9.9.2022). Am 4.9.2022 errichteten die US-Truppen einen neuen Militärstützpunkt im Dorf Naqara im Nordosten Syriens, der zu den drei Standorten der US-geführten internationalen Koalition in der Region Qamishli gehört. Der neue Militärstützpunkt kann dazu beitragen, die verstärkten Aktivitäten Russlands und Irans in der Region zu überwachen; insbesondere überblickt er direkt den von den russischen Streitkräften betriebenen Luftwaffenstützpunkt am Flughafen Qamishli. Er ist nur wenige Kilometer von den iranischen Militärstandorten südlich der Stadt entfernt (JsF 9.9.2022). Hinzukamen wiederholte Luft- bzw. Drohnenangriffe zwischen den in Nordost-Syrien stationierten US-Truppen und Iran-nahen Milizen (AA 2.2.2024).

SDF, YPG und YPJ [Anm.: Frauenverteidigungseinheiten] sind nicht nur mit türkischen Streitkräften und verschiedenen islamistischen Extremistengruppen in der Region zusammengestoßen, sondern gelegentlich auch mit kurdischen bewaffneten Gruppen, den Streitkräften des Assad-Regimes, Rebellen der Freien Syrischen Armee und anderen Gruppierungen (AN 17.10.2021). Die kurdisch kontrollierten Gebiete im Nordosten Syriens umfassen auch den größten Teil des Gebiets, das zuvor unter der Kontrolle des IS in Syrien stand (ICG 11.10.2019; vgl. EUAA 9.2022). Raqqa war de facto die Hauptstadt des IS (PBS 22.2.2022), und die Region gilt als "Hauptschauplatz für den Aufstand des IS" (ICG 11.10.2019; vgl. EUAA 9.2022).

Die kurdischen YPG stellen einen wesentlichen Teil der Kämpfer und v. a. der Führungsebene der SDF, welche in Kooperation mit der internationalen Anti-IS-Koalition militärisch gegen die Terrororganisation IS in Syrien vorgehen (AA 29.11.2021). In Reaktion auf die Reorganisation der Truppen zur Verstärkung der Front gegen die Türkei stellten die SDF vorübergehend ihre Operationen und andere Sicherheitsmaßnahmen gegen den Islamischen Staat ein. Dies weckte Befürchtungen bezüglich einer Stärkung des IS in Nordost-Syrien (Newlines 7.3.2023). Die SDF hatten mit Unterstützung US-amerikanischer Koalitionskräfte allein seit Ende 2021 mehrere Sicherheitsoperationen durchgeführt, in denen nach eigenen Angaben Hunderte mutmaßliche IS-Angehörige verhaftet und einzelne Führungskader getötet wurden (AA 2.2.2024).

Der IS führt weiterhin militärische Operationen in der AANES durch. Die SDF reagieren auf die Angriffe mit routinemäßigen Sicherheitskampagnen, unterstützt durch die Internationale Koalition. Bisher konnten diese die Aktivitäten des IS und seiner affiliierten Zellen nicht einschränken. SOHR dokumentierte von Anfang 2023 bis September 2023 121 Operationen durch den IS, wie bewaffnete Angriffe und Explosionen, in den Gebieten der AANES. Dabei kamen 78 Personen zu Tode, darunter 17 ZivilistInnen und 56 Mitglieder der SDF (SOHR 24.9.2023).

Mit dem Angriff auf die Sina’a-Haftanstalt in Hassakah in Nordostsyrien im Januar 2022 und den daran anschließenden mehrtägigen Kampfhandlungen mit insgesamt ca. 470 Todesopfern (IS-Angehörige, SDF-Kämpfer, Zivilisten) demonstrierte der IS propagandawirksam die Fähigkeit, mit entsprechendem Vorlauf praktisch überall im Land auch komplexe Operationen durchführen zu können (AA 29.3.2023). Bei den meisten Gefangenen handelte es sich um prominente IS-Anführer (AM 26.1.2022). Unter den insgesamt rund 5.000 Insassen des überfüllten Gefängnisses befanden sich nach Angaben von Angehörigen jedoch auch Personen, die aufgrund von fadenscheinigen Gründen festgenommen worden waren, nachdem sie sich der Zwangsrekrutierung durch die SDF widersetzt hatten, was die SDF jedoch bestritten (AJ 26.1.2022). Die Gefechte dauerten zehn Tage, und amerikanische wie britische Kräfte kämpften aufseiten der SDF (HRW 12.1.2023). US-Angaben zufolge war der Kampf die größte Konfrontation zwischen den US-amerikanischen Streitkräften und dem IS, seit die Gruppe 2019 das (vorübergehend) letzte Stück des von ihr kontrollierten Gebiets in Syrien verloren hatte (NYT 25.1.2022). Vielen Häftlingen gelang die Flucht, während sich andere im Gefängnis verbarrikadierten und Geiseln nahmen (ANI 26.1.2022). Nach Angaben der Vereinten Nationen mussten schätzungsweise 45.000 Einwohner von Hassakah aufgrund der Kämpfe aus ihren Häusern fliehen, und die SDF riegelte große Teile der Stadt ab (MEE 25.1.2022; vgl. NYT 25.1.2022, EUAA 9.2022). Während der Kampfhandlungen erfolgten auch andernorts in Nordost-Syrien Angriffe des IS (TWP 24.2.2022). Die geflohenen Bewohner durften danach zurückkehren (MPF 8.2.2022), wobei Unterkünfte von mehr als 140 Familien scheinbar von den SDF während der Militäraktionen zerstört worden waren. Mit Berichtszeitpunkt Jänner 2023 waren Human Rights Watch keine Wiederaufpläne, Ersatzunterkünfte oder Kompensationen für die zerstörten Gebäude bekannt (HRW 12.1.2023).

Während vorhergehende IS-Angriffe von kurdischen Quellen als unkoordiniert eingestuft wurden, erfolgte die Aktion in Hassakah durch drei bestens koordinierte IS-Zellen. Die Tendenz geht demnach Richtung seltenerer, aber größerer und komplexerer Angriffe, während dezentralisierte Zellen häufige, kleinere Attacken durchführen. Der IS nutzt dabei besonders die große Not der in Lagern lebenden Binnenvertriebenen im Nordosten Syriens aus, z. B. durch die Bezahlung kleiner Beträge für Unterstützungsdienste. Der IS ermordete auch einige Personen, welche mit der Lokalverwaltung zusammenarbeiteten (TWP 24.2.2022). Das Ausüben von koordinierten und ausgeklügelten Anschlägen in Syrien und im Irak wird von einem Vertreter einer US-basierten Forschungsorganisation als Indiz dafür gesehen, dass die vermeintlich verstreuten Schläferzellen des IS wieder zu einer ernsthaften Bedrohung werden (NYT 25.1.2022). Trotz der laufenden Bemühungen zur Terrorismusbekämpfung hat der IS im Nordosten Syriens an Stärke gewonnen und seine Aktivitäten im Gebiet der SDF intensiviert. Am 28.9.2022 gaben die SDF bekannt, dass sie eines der größten Waffenverstecke des IS seit Anfang 2019 erobert haben. Sowohl die Größe des Fundes als auch sein Standort sind ein Beleg für die wachsende Bedrohung, die der IS im Nordosten Syriens darstellt (TWI 12.10.2022). Bei einem weiteren koordinierten Angriff des IS auf das Quartier der kurdischen de facto-Polizeikräfte (ISF/Asayish) sowie auf ein nahegelegenes Gefängnis für IS-Insassen in Raqqa Stadt kamen am 26.12.2022 nach kurdischen Angaben sechs Sicherheitskräfte und ein Angreifer ums Leben (AA 29.3.2023). Laut dem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juli 2022 sind einige der Mitgliedstaaten der Meinung, dass der IS seine Ausbildungsaktivitäten, die zuvor eingeschränkt worden waren, insbesondere in der Wüste Badiya wieder aufgenommen habe (EUAA 9.2022). Im Jahr 2023 haben die Aktivitäten von Schläferzellen des IS vor allem in der östlichen Wüste zugenommen (CFR 13.2.2024).

Für weitere Informationen über die Aktivitäten des IS in Syrien siehe das Kapitel "Sicherheitslage".

Die kurdischen Sicherheitskräfte kontrollieren weiterhin knapp 30 Lager mit 11.000 internierten IS-Kämpfern (davon 500 aus Europa) sowie die Lager mit Familienangehörigen; der Großteil davon in al-Hol (ÖB Damaskus 1.10.2021). Nach einigen Rückführungen und Repatriierungen beläuft sich die Gesamtzahl der Menschen in al-Hol nun auf etwa 53.000, von denen etwa 11.000 ausländische Staatsangehörige sind (MSF 7.11.2022b), auch aus Österreich (ÖB Damaskus 1.10.2021). Das Ziel des IS ist es, diese zu befreien, aber auch seinen Anhängern zu zeigen, dass man dazu in der Lage ist, diese Personen herauszuholen (Zenith 11.2.2022). Das Lager war einst dazu gedacht, Zivilisten, die durch den Konflikt in Syrien und im Irak vertrieben wurden, eine sichere, vorübergehende Unterkunft und humanitäre Dienstleistungen zu bieten. Der Zweck von al-Hol hat sich jedoch längst gewandelt, und das Lager ist zunehmend zu einem unsicheren und unhygienischen Freiluftgefängnis geworden, nachdem die Menschen im Dezember 2018 aus den vom IS kontrollierten Gebieten dorthin gebracht wurden (MSF 7.11.2022b). 65 Prozent der Bewohner von al-Hol sind Kinder, 52 Prozent davon im Alter von unter zwölf Jahren (MSF 19.2.2024), die täglicher Gewalt und Kriminalität ausgesetzt sind (STC 5.5.2022; vgl. MSF 7.11.2022a). Das Camp ist zusätzlich zu einem Refugium für den IS geworden, um Mitglieder zu rekrutieren (NBC News 6.10.2022). Am 22.11.2022 schlugen türkische Raketen in der Nähe des Lagers ein. Das Chaos, das zu den schwierigen humanitären Bedingungen im Lager hinzukommt, hat zu einem Klima geführt, das die Indoktrination durch den IS begünstigt. Die SDF sahen sich zudem gezwungen, ihre Kräfte zur Bewachung der IS-Gefangenenlager abzuziehen, um auf die türkische Bedrohung zu reagieren (AO 3.12.2022).

Türkische Angriffe und eine Finanzkrise destabilisieren den Nordosten Syriens (Zenith 11.2.2022). Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien befindet sich heute in einer zunehmend prekären politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Lage (TWI 15.3.2022). Wie in anderen Bereichen üben die dominanten Politiker der YPG, der mit ihr verbündeten Organisationen im Sicherheitsbereich sowie einflussreiche Geschäftsleute Einfluss auf die Wirtschaft aus, was verbreiteten Schmuggel zwischen den Kontrollgebieten in Syrien und in den Irak ermöglicht (Brookings 27.1.2023). Angesichts der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen im Nordosten Syriens haben die SDF zunehmend drakonische Maßnahmen ergriffen, um gegen abweichende Meinungen im Land vorzugehen und Proteste zum Schweigen zu bringen, da ihre Autorität von allen Seiten bedroht wird (Etana 30.6.2022). Nach den Präsidentschaftswahlen im Mai 2021 kam es in verschiedenen Teilen des Gebiets zu Protesten, unter anderem gegen den niedrigen Lebensstandard und die Wehrpflicht der SDF (al-Sharq 27.8.2021) sowie gegen steigende Treibstoffpreise (AM 30.5.2021). In arabisch besiedelten Gebieten im Gouvernement Hassakah und Manbij (Gouvernement Aleppo) starben Menschen, nachdem Asayish [Anm: Sicherheitskräfte der kurdischen Autonomieregion] in die Proteste eingriffen (al-Sharq 27.8.2021; vgl. AM 30.5.2021). Die Türkei verschärft die wirtschaftliche Lage in AANES absichtlich, indem sie den Wasserfluss nach Syrien einschränkt (KF 5.2022). Obwohl es keine weitverbreiteten Rufe nach einer Rückkehr des Assad-Regimes gibt, verlieren einige Einwohner das Vertrauen, dass die kurdisch geführte AANES für Sicherheit und Stabilität sorgen kann (TWI 15.3.2022).

Im August 2023 brachen gewaltsame Konflikte zwischen den kurdisch geführten SDF und arabischen Stämmen in Deir ez-Zor aus (AJ 30.8.2023), in dessen Verlauf es den Aufständischen gelungen war, zeitweise die Kontrolle über Ortschaften entlang des Euphrat zu erlangen. UNOCHA dokumentierte 96 Todesfälle und über 100 Verwundete infolge der Kampfhandlungen, schätzungsweise 6.500 Familien seien durch die Gewalt vertrieben worden. Nach Rückerlangung der Gebietskontrolle durch die SDF kam es auch in den folgenden Wochen zu sporadischen Attentaten auf SDF sowie zu vereinzelten Kampfhandlungen mit Stammeskräften (AA 2.2.2024).

[Anm: Eine detaillierte Information zu den Konflikten zwischen SDF und arabischen Stammeskämpfern findet sich im Unterkapitel Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches -Grenzgebiet]

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024

AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stand_November_2021%29%2C_29.11.2021.pdf, Zugriff 6.7.2023

AJ - Al Jazeera (30.8.2023): Several killed in fighting between SDF and tribesmen in eastern Syria, https://www.aljazeera.com/news/2023/8/30/several-killed-in-fighting-between-sdf-and-tribesmen-in-eastern-syria, Zugriff 6.2.2024

AJ - Al Jazeera (26.1.2022): Kurdish-led forces in Syria recapture prison from ISIL, https://www.aljazeera.com/news/2022/1/26/kurdish-led-forces-in-syria-recapture-prison-from-isil, Zugriff 6.7.2023

Al-Sharq - Al Sharq Strategic Research (27.8.2021): Heated Conflict or Consolidation of the Status Quo in Northeast Syria: What is next for the AANES?, https://research.sharqforum.org/2021/08/27/heated-conflict-or-consolidation-of-the-status-quo-in-northeast-syria-what-is-next-for-the-aanes/, Zugriff 6.7.2023

AM – Al-Monitor (26.1.2022): How attack on Kurdish-run prison in northeast Syria will affect Islamic State, https://www.al-monitor.com/originals/2022/01/how-attack-kurdish-run-prison-northeast-syria-will-affect-islamic-state, Zugriff 6.7.2023

AM - Al-Monitor (30.5.2021): Syrian Arab tribes put Kurdish administration on notice, https://www.al-monitor.com/originals/2021/05/syrian-arab-tribes-put-kurdish-administration-notice, Zugriff 6.7.2023

AN - Arab News (17.10.2021): How viable is the Kurds’ autonomous rule in northeastern Syria?, https://www.arabnews.com/node/1949126/middle-east, Zugriff 6.7.2023

ANI – Asian News International (26.1.2022): Over 500 Islamic State terrorists surrender in Syrian Al-Hasakah after prison break: SDF, https://www.aninews.in/news/world/asia/over-500-islamic-state-terrorists-surrender-in-syrian-al-hasakah-after-prison-break-sdf20220126120507/, Zugriff 6.7.2023

AO - Ahram Online (3.12.2022): IS coming back? https://english.ahram.org.eg/News/480731.aspx, Zugriff 6.7.2023

Brookings (Heydemann, Steven) (27.1.2023): Syria’s dissolving line between state and nonstate actors, https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2023/01/27/syrias-dissolving-line-between-state-and-nonstate-actors/, Zugriff 28.3.2023

CC - The Carter Center (3.11.2022): Quarterly Review on Syrian Political and Military Dynamics July-September 2022, https://storymaps.arcgis.com/stories/bb84958f3b0f456d9139f1447ba3e638, Zugriff 6.7.2023

CFR - Council on Foreign Relations (13.2.2024): Conflict in Syria, https://www.cfr.org/global-conflict-tracker/conflict/conflict-syria, Zugriff 23.2.2024

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JsF - Jusoor for Studies (9.9.2022): The US Strengthens its Presence in the Syrian File, Message in Multiple Directions, https://www.jusoor.co/details/The%20US%20strengthens%20its%20presence%20in%20the%20Syrian%20file,%20messages%20in%20multiple%20directions/1118/en, Zugriff 6.7.2023

KF - Kreisky Forum (5.2022): Report: Hegemonies and Alliances: Rojava and Sinjar as Security. Challenges for the Region and Beyond, https://www.kreisky-forum.org/wp-content/uploads/2022/05/Report-Rojava-and-Sinjar-as-Security-Challenges.pdf, Zugriff 6.7.2023

MSF - Medecins Sans Frontiers (19.2.2024): Syrien: Grosse psychische Not unter den Menschen im syrischen Al-Hol-Camp, https://www.msf.ch/de/neueste-beitraege/artikel/syrien-grosse-psychische-not-unter-den-menschen-im-syrischen-al-hol-camp, Zugriff 23.2.2024

MSF - Medecins Sans Frontieres (7.11.2022a): Between two fires: Danger and desperation in Syria's Al-Hol camp, https://www.msf.org/danger-and-desperation-syria%E2%80%99s-al-hol-camp-report-msf, Zugriff 6.7.2023

MSF - Medecins Sans Frontieres (7.11.2022b): A lost generation live in fear inside Syria's Al-Hol camp, https://www.msf.org/generation-lost-danger-and-desperation-syria%E2%80%99s-al-hol-camp, Zugriff 6.7.2023

NBC News - National Broadcasting Company (6.10.2022): ISIS infiltrated a refugee camp to recruit fighters. Inside the Biden admin’s plan to stop it, https://www.nbcnews.com/news/world/isis-syria-al-hol-camp-population-reduced-biden-administration-plan-rcna50877, Zugriff 6.7.203

Newlines Institute for Strategy and Policy (7.3.2023): Operation Claw-Sword Exposes Blind Spots in the US’ NE Syria Strategy, https://newlinesinstitute.org/syria/operation-claw-sword-exposes-blind-spots-in-the-us-ne-syria-strategy/, Zugriff 6.7.2023

NYT - New York Times (25.1.2022): Prison Attack in Syria Is Latest Sign of ISIS Resurgence, https://www.nytimes.com/live/2022/01/25/world/syria-news-isis-us,Zugriff 6.7.2023

ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 6.7.2023

PBS - Public Broadcasting Service (22.2.2022): In one-time ISIS capital of Raqqa, poverty and fear drive residents out, https://www.pbs.org/newshour/world/in-one-time-isis-capital-of-raqqa-poverty-and-fear-drive-residents-out, Zugriff 6.7.2023

REU - Reuters (4.10.2023): Turkey says bombers came from Syria, eyes cross-border targets, https://www.reuters.com/world/middle-east/turkey-says-ankara-bomb-attackers-came-syria-2023-10-04/, Zugriff 6.2.2024

SOHR - Syrian Observatory for Human Rights (24.9.2023): ISIS resurgence in 2023 - Over 120 attacks in SDF-controlled areas leave nearly 80 fatalities, https://www.syriahr.com/en/311748/, Zugriff 23.2.2024

STC - Save the Children (5.5.2022): Syrien: Kinder im Al Hol-Camp täglicher Gewalt ausgesetzt, https://www.savethechildren.de/news/syrien-kinder-im-al-hol-camp-taeglicher-gewalt-ausgesetzt/, Zugriff 6.7.2023

TWI - The Washington Institute for Near East Policy (12.10.2022): The SDF Is Caught Between Turkey and the Islamic State Again, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/sdf-caught-between-turkey-and-islamic-state-again, Zugriff 6.7.2023

TWI - The Washington Institute for Near East Policy (15.3.2022): How to Preserve the Autonomy of Northeast Syria, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/how-preserve-autonomy-northeast-syria, Zugriff 6.7.2023

TWP - The Washington Post (Loveluck, Louisa) (24.2.2022): How the Islamic State used bullying and bribes to rebuild in Syria, https://www.washingtonpost.com/world/2022/02/24/islamic-state-syria-attacks/, Zugriff 6.7.2023

Zenith (11.2.2022): Der IS rekrutiert eine neue Generation von Kämpfern, https://magazin.zenith.me/de/politik/interview-mit-syrien-experte-fabrice-balanche-%C3%BCber-den-die-kurden-und-syrien, Zugriff 6.7.2023

Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen

Letzte Änderung 2023-07-14 13:52

Anmerkungen:

In den folgenden Kapiteln kann aufgrund der Vielzahl an bewaffneten Gruppen nur auf die Rekrutierungspraxis eines Teils der Organisationen eingegangen werden.

Darin wird der Begriff „Militärdienst“ als Überbegriff für Wehr- und Reservedienst verwendet. Wo es die Quellen zulassen, wird versucht, klar zwischen Wehr- und Reservedienst bzw. zwischen Desertion und Wehrdienstverweigerung zu unterscheiden.

Siehe auch Kapitel "Länderspezifische Anmerkungen".

Zu den Themen Wehrdienst und Desertion darf auch auf die folgenden Anfragebeantwortungen verwiesen werden (abrufbar auf ecoi.net sowie dem Koordinationsboard (KoBo) der Staatendokumentation:

In Gebieten unter Kontrolle der syrischen Regierung:

SYRI_SM_Wehrdienst_2022_01_27_KE

SYRI_SM_MIL_Fragen+BVwG+Wehrdienstgesetze_2022_09_16_KE

SYRI_SM_MIL_Fragen+BVwG+Bestrafung+Wehrdienstverweigerung,+Desertion_2022_09_16_KE

Anfragebeantwortung zu Syrien: Wehrdienstverweigerung und Desertion [a-11951] (ACCORD)

SYRI_SM_MIL_Einberufung_über_syrische_Botschaft_2023_03_21_K

SYRI_RF_MLD_Kommunalbediensteten Ausreisemöglichkeiten, Kontrolle und dienstrechtliche Folgen einer unerlaubten Auslandsreise_2023_03_29_K

SYRI_RF_MLD_Zivile Angestellte des öffentlichen Diensts Ausreisemöglichkeiten, Kontrolle und dienstrechtliche Folgen einer unerlaubten Auslandsreise_2023_03_28_K

Anfragebeantwortung zu Syrien: Genehmigung der Ausreise eines Staatsangestellten durch den Vorgesetzten; Kontrolle bei Ausreise; Folgen illegaler Ausreise und zuständige Behörde; Folgen bei unerlaubtem Fernbleiben vom Arbeitsplatz; Ausreisegenehmigung für männliche Staatsangestellte im wehrdienstpflichtigen Alter [a-12103-1] (ACCORD)

Anfragebeantwortung zu Syrien: Reisepässe der syrischen Regierung für Männer im wehrdienstfähigen Alter; mögliches Sicherheitsrisiko für diese Personengruppe, im Ausland (insbesondere in der Türkei) einen Reisepass zu beantragen [a-12067-1] (ACCORD)

Anfragebeantwortung zu Syrien: Unterliegen Palästinenser, die den Wehrdienst absolviert haben, auch einer Pflicht zum Reservedienst? (ACCORD)

Anfragebeantwortung zu Syrien: Tauglichkeitskriterien der syrischen Armee; Einsatz von Wehrpflichtigen mit starker Sehschwäche [a-11869] (ACCORD)

SYRI_RF_MLD_Staatenlosigkeit_2022_12_15_KE

Anfragebeantwortung zu Syrien: Restriktionen bei der Beschaffung von Dokumenten für Syrer im Ausland im Wehrpflichtsalter, die der Wehrpflicht nicht nachgekommen sind und keine Ersatzzahlungen geleistet haben [a-11903] (ACCORD)

Anfragebeantwortung zu Syrien: Möglichkeit eines Familienbesuchs ohne Sanktionen trotz nicht abgeleisteten Militärdienst [a-11857-1] (ACCORD)

Anfragebeantwortung zu Syrien: Abgabe des Wehrdienstbuches und des Personalausweises zu Beginn des Wehrdienstes und Einbehaltung der Dokumente bis zur Ausmusterung von der Militärbehörde [a‑11840] (ACCORD)

Anfragebeantwortung zu Syrien: Zöllner als Teil des Sicherheitsapparats, Desertion, militärische und polizeiliche Aufgaben von Zöllnern im Krieg [a-11786] (ACCORD)

In Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung:

SYRI_SM_MIL_ergänzende+AFB+zu+Wehrdienstpflicht+in+Gebieten+außerhalb+Regierungskontrolle+2022_10_14_KE

SYRI_SM_MIL_Zwangsrekrutierung,+Kontrolle+Idlib_2022_03_17_KE

SYRI_MIL_Zwangsrekrutierung+von+Frauen+für+YBJ+bzw.+SDF_2022_09_22_KE

SYRI_SM_Rekrutierungspraxis YPG_2023_03_02_KE

Anfragebeantwortung zu Syrien: Höchstalter für die „Wehrpflicht“ im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet; unterlagen Altersvorgaben für „Wehrpflicht“ seit ihrer Einführung Schwankungen/Änderungen? [a-11932] (ACCORD)

Anfragebeantwortung zu Syrien: Stadt Ar-Raqqa: Bedrohung von Kommunalbediensteten bzw. insbesondere von Fahrern für die staatliche/städtische Müllentsorgung oder Angestellten in der Wasserversorgung durch die kurdische Selbstverwaltung (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) [a-12103-2] (ACCORD)

Anfragebeantwortung zu Syrien: Zwangsrekrutierung von Erwachsenen durch die Syrische Nationale Armee (SNA) oder andere oppositionelle militärische Gruppierungen in Dscharabulus; Personengruppen mit höherer Wahrscheinlichkeit von derartigen Rekrutierungen; Sanktionen gegen Personen, die eine Rekrutierung verweigern; Unterstellung oppositioneller Gesinnung im Falle einer Verweigerung; Zugriffsmöglichkeiten der syrischen Armee auf wehrdienstpflichtige Personen in Dscharabulus [a-12101] (ACCORD)

Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst

Letzte Änderung 2024-03-11 06:50

Rechtliche Bestimmungen

Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Die Dauer des Wehrdienstes beträgt 18 Monate bzw. 21 Monate für jene, die die fünfte Klasse der Grundschule nicht abgeschlossen haben (PAR 1.6.2011). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 2.2.2024). In der Vergangenheit wurde es auch akzeptiert, sich, statt den Militärdienst in der syrischen Armee zu leisten, einer der bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppierung anzuschließen. Diese werden inzwischen teilweise in die Armee eingegliedert, jedoch ohne weitere organisatorische Integrationsmaßnahmen zu setzen oder die Kämpfer auszubilden (ÖB Damaskus 12.2022). Wehrpflichtige und Reservisten können im Zuge ihres Wehrdienstes bei der Syrischen Arabischen Armee (SAA) auch den Spezialeinheiten (Special Forces), der Republikanischen Garde oder der Vierten Division zugeteilt werden, wobei die Rekruten den Dienst in diesen Einheiten bei Zuteilung nicht verweigern können (DIS 4.2023). Um dem verpflichtenden Wehrdienst zu entgehen, melden sich manche Wehrpflichtige allerdings aufgrund der höheren Bezahlung auch freiwillig zur Vierten Division, die durch die von ihr kontrollierten Checkpoints Einnahmen generiert (EB 17.1.2023). Die 25. (Special Tasks) Division (bis 2019: Tiger Forces) rekrutiert sich dagegen ausschließlich aus Freiwilligen (DIS 4.2023).

Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB Damaskus 12.2022). Einer vertraulichen Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge sollen Männer auch unabhängig ihres Gesundheitszustandes eingezogen und in der Verwaltung eingesetzt worden sein (NMFA 8.2023).

Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB Damaskus 12.2022).

Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 2.2.2024). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 2.2.2024; vgl. ICWA 24.5.2022).

Männliche Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien kamen und als solche bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert sind (NMFA 5.2022), bzw. palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht (AA 13.11.2018; vgl. Action PAL 3.1.2023, ACCORD 21.9.2022). Ihren Wehrdienst leisten sie für gewöhnlich in einer Unterabteilung der syrischen Armee, die den Namen Palästinensische Befreiungsarmee trägt: Palestinian Liberation Army (PLA) (BAMF 2.2023, (AA 13.11.2018; vgl. ACCORD 21.9.2022). Es konnten keine Quellen gefunden werden, die angeben, dass Palästinenser vom Reservedienst ausgeschlossen seien (ACCORD 21.9.2022; vgl. BAMF 2.2023).

Frauen können als Berufssoldatinnen dem syrischen Militär beitreten. Dies kommt in der Praxis tatsächlich vor, doch stoßen die Familien oft auf kulturelle Hindernisse, wenn sie ihren weiblichen Verwandten erlauben, in einem so männlichen Umfeld zu arbeiten. Dem Vernehmen nach ist es in der Praxis häufiger, dass Frauen in niedrigeren Büropositionen arbeiten als in bewaffneten oder leitenden Funktionen. Eine Quelle erklärt dies damit, dass Syrien eine männlich geprägte Gesellschaft ist, in der Männer nicht gerne Befehle von Frauen befolgen (NMFA 5.2022).

Mit Stand Mai 2023 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 9.5.2023). Frauen sind auch regierungsfreundlichen Milizen beigetreten. In den Reihen der National Defence Forces (NDF) dienen ca. 1.000 bis 1.500 Frauen, eine vergleichsweise geringe Anzahl. Die Frauen sind an bestimmten Kontrollpunkten der Regierung präsent, insbesondere in konservativen Gebieten, um Durchsuchungen von Frauen durchzuführen (FIS 14.12.2018).

Die Umsetzung

Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten (STDOK 8.2017; vgl. DIS 7.2023). Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).

Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen (NMFA 5.2022; vgl. AA 29.3.2022), wobei zuletzt von einer "Verkürzung" des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden (ÖB Damaskus 12.2022). Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wie z.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (NMFA 5.2022).

Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten (EUAA 9.2022). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA 2.2.2024).

Rekrutierungspraxis

Es gibt, dem Auswärtigen Amt zufolge, zahlreiche glaubhafte Berichte, laut denen wehrpflichtige Männer, die auf den Einberufungsbescheid nicht reagieren, von Mitarbeitern der Geheimdienste abgeholt und zwangsrekrutiert werden (AA 2.2.2024). Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert (AA 2.2.2024; vgl. NMFA 5.2022), wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt (NMFA 5.2022; vgl. NLM 29.11.2022). Im September 2022 wurde beispielsweise von der Errichtung eines mobilen Checkpoints im Gouvernement Dara'a berichtet, an dem mehrere Wehrpflichtige festgenommen wurden (SO 12.9.2022). In Homs führte die Militärpolizei gemäß einem Bericht aus dem Jahr 2020 stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 6.3.2020). Im Jänner 2023 wurde berichtet, dass Kontrollpunkte in Homs eine wichtige Einnahmequelle der Vierten Division seien (EB 17.1.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gibt es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 2.2.2024).

Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Lokale Medien berichteten, dass die Sicherheitskräfte der Regierung während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2022 mehrere Cafés, Restaurants und öffentliche Plätze in Damaskus stürmten, wo sich Menschen versammelt hatten, um die Spiele zu sehen, und Dutzende junger Männer zur Zwangsrekrutierung festnahmen (USDOS 20.3.2023).

Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z. B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. ICG 9.5.2022, EB 6.3.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Hausdurchsuchungen finden dabei v.a. eher in urbanen Gebieten statt, wo die SAA stärkere Kontrolle hat, als in ruralen Gebieten (DIS 1.2024). Mehrere Quellen berichteten im Jahr 2023 wieder vermehrt, dass Wehr- und Reservedienstpflichtige aus ehemaligen Oppositionsgebieten von der syrischen Regierung zur Wehrpflicht herangezogen wurden, um mehr Kontrolle über diese Gebiete zu erlangen bzw. um potenzielle Oppositionskämpfer aus diesen Gebieten abzuziehen (NMFA 8.2023; vgl. DIS 7.2023). Eine Quelle des Danish Immigration Service geht davon aus, dass Hausdurchsuchungen oft weniger die Rekrutierung als vielmehr eine Erpressung zum Ziel haben (DIS 1.2024).

Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht (STDOK 8.2017). Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017; vgl. FIS 14.12.2018). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).

Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Anfang April 2023 wurde beispielsweise von verstärkten Patrouillen der Regierungsstreitkräfte im Osten Dara'as berichtet, um Personen aufzugreifen, die zum Militär- und Reservedienst verpflichtet sind (ETANA 4.4.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020).

Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB Damaskus 12.2022; vgl. EASO 4.2021). Da die Zusammensetzung der syrisch-arabischen Armee ein Spiegelbild der syrischen Bevölkerung ist, sind ihre Wehrpflichtigen mehrheitlich sunnitische Araber, die vom Regime laut einer Quelle als "Kanonenfutter" im Krieg eingesetzt wurden. Die sunnitisch-arabischen Soldaten waren (ebenso wie die alawitischen Soldaten und andere) gezwungen, den größeren Teil der revoltierenden sunnitisch-arabischen Bevölkerung zu unterdrücken. Der Krieg forderte unter den alawitischen Soldaten bezüglich der Anzahl der Todesopfer einen hohen Tribut, wobei die Eliteeinheiten der SAA, die Nachrichtendienste und die Shabiha-Milizen stark alawitisch dominiert waren (Al-Majalla 15.3.2023).

Im Rahmen sog. lokaler "Versöhnungsabkommen" in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben (AA 2.2.2024).

Staatenlose Palästinenser werden meistens in die Palestinian Liberation Army (PLA) rekrutiert, seltener auch in die reguläre SAA. Sie sind ebenfalls reservepflichtig. Allerdings dauert ihre Pflicht zum Reservedienst weniger lange, nämlich nur viereinhalb Jahre. Den meisten Quellen des Danish Immigration Service waren keine Fälle bekannt, wonach staatenlose Palästinenser in Syrien zum Reservedienst in der PLA einberufen wurden. Die PLA wurde auch an die Front geschickt (DIS 1.2024).

Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle

Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die SAA eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der "Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria (AANES)] befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung "Sicherheitsquadrate" (al-Morabat al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. "Sicherheitsquadraten" auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im "Sicherheitsquadrat" im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Rechtsexperte 14.9.2022). Dies wird auch von SNHR bestätigt, die ebenfalls angeben, dass die Rekrutierung durch die syrischen Streitkräfte an deren Zugriffsmöglichkeiten gebunden ist (ACCORD 7.9.2023). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o. Ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).

Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.9.2022), mit Ausnahme einiger südwestlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen (ACLED 1.12.2022; vgl. Liveuamap 17.5.2023). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen, um sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der "Gesuchten" zu setzen. Das erleichtert ihre Verhaftung zur Rekrutierung, wenn sie das Gouvernement Idlib in Richtung der Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.9.2022).

Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich auf das Gouvernement Aleppo konzentriert. Sie wird von der Türkei unterstützt und besteht aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA). Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann keine Personen aus diesen Gebieten für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Auch mit Stand Februar 2023 hat die syrische Armee laut einem von ACCORD befragten Syrienexperten keine Zugriffsmöglichkeit auf wehrdienstpflichtige Personen in Jarabulus (ACCORD 20.3.2023).

Reservedienst

Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden. Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z. B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung) (STDOK 8.2017). Reservisten können laut Gesetz bis zum Alter von 42 Jahren mehrfach zum Militärdienst eingezogen werden. Die syrischen Behörden ziehen weiterhin Reservisten ein (NMFA 5.2022; vgl. NMFA 8.2023; vgl. DIS 1.2024). Die Behörden berufen vornehmlich Männer bis 27 ein, während ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise nach oben angehoben, sodass auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen wurden bzw. Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen können (ÖB Damaskus 12.2022). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen Über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020). V.a. weil die SAA derzeit nicht mehr so viele Männer braucht, werden über 42-Jährige derzeit eher selten einberufen. Das syrische Regime verlässt sich vor allem auf Milizen, in deren Dienste sich 42-Jährige einschreiben lassen können (DIS 1.2024).

Das niederländische Außenministerium berichtet unter Berufung auf vertrauliche Quellen, dass Männer über 42 Jahre, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, Gefahr laufen, verhaftet zu werden, um sie zum Reservedienst zu bewegen. Männer, auch solche über 42 Jahren, werden vor allem in Gebieten, die zuvor eine Zeit lang nicht unter der Kontrolle der Behörden standen, als Reservisten eingezogen. Dies soll eine Form der Vergeltung oder Bestrafung sein. Personen, die als Reservisten gesucht werden, versuchen, sich dem Militärdienst durch Bestechung zu entziehen oder falsche Bescheinigungen zu erhalten, gemäß derer sie bei inoffiziellen Streitkräften, wie etwa regierungsfreundlichen Milizen, dienen (NMFA 5.2022). Manchen Quellen des Danish Immigration Service zufolge werden Reservisten unabhängig ihrer Qualifikationen einberufen, andere Quellen wiederum geben an, dass das syrische Regime Reservisten je nach ihrer militärischen Spezialisierung einzieht. Eine Quelle glaubt, dass Reservisten oft qualifikationsunabhängig eingezogen werden, aber immer öfter auf die Spezialisierung geachtet wird. Eine besondere Stellung bei der Einberufung zum Reservedienst nehmen Angestellte des öffentlichen Sektors ein. Manche Quellen sprechen davon, dass diese seltener einberufen werden, andere Quellen geben an, dass diese eher entsprechend ihrer Tätigkeiten (z.B. im medizinischen Bereich) im Rahmen ihres Reservedienstes an Orte geschickt werden, wo ihre Funktion gerade dringender gebraucht wird (DIS 1.2024).

Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung

Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.1.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen. Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches "Hochfahren" dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.9.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).

Als die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020). Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Der syrische Präsident erließ einen ab Oktober 2022 geltenden Verwaltungserlass mit Blick auf die unteren Ebenen der Militärhierarchie, der die Beibehaltung und Einberufung von bestimmten Offizieren und Reserveoffiziersanwärtern, die für den obligatorischen Militärdienst gemeldet sind, beendete. Bestimmte Offiziere und Offiziersanwärter, die in der Wehrpflicht stehen, sind zu demobilisieren, und bestimmte Unteroffiziere und Reservisten dürfen nicht mehr weiterbeschäftigt oder erneut einberufen werden (TIMEP 17.10.2022; vgl. SANA 27.8.2022). Ziel dieser Beschlüsse ist es, Hochschulabsolventen wie Ärzte und Ingenieure dazu zu bewegen, im Land zu bleiben (TIMEP 17.10.2022). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vgl. NMFA 5.2022). Ein weiterer Beschluss wurde im Dezember 2023 erlassen, wonach Reserveoffiziere, die mit 31.01.2024 ein Jahr oder mehr aktiv ihren Wehrdienst abgeleistet haben, ab 1.2.2024 nicht mehr einberufen werden. Dieser Beschluss beendet ebenfalls die Einberufung von Unteroffizieren und Reservisten, die mit 31.1.2024 sechs Jahre oder mehr aktiven Wehrdienst geleistet haben (SANA 4.12.2023).

Die Rekruten werden während des Wehrdienstes im Allgemeinen nicht gut behandelt. Der Umgang mit ihnen ist harsch. Nur wer gute Verbindungen zu höheren Offizieren oder Militärbehörden hat oder wer seine Vorgesetzten besticht, kann mit einer besseren Behandlung rechnen. Außerdem ist die Bezahlung sehr niedrig und oft ist es den Rekruten während des Wehrdienstes nicht gestattet, ihre Familien zu sehen (DIS 1.2024).

Einsatz von Rekruten im Kampf

Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022), wie in der Badia-Wüste, wo es noch zu Konfrontationen mit dem IS kommt (DIS 7.2023). Alle Eingezogenen können laut EUAA (European Union Agency for Asylum) unter Berufung auf einen Herkunftsländerbericht vom April 2021 potenziell an die Front abkommandiert werden. (EUAA 2.2023; vgl. DIS 7.2023). Ihr Einsatz hängt laut EUAA vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab (EUAA 2.2023). Andere Quellen hingegen geben an, dass die militärische Qualifikation oder die Kampferfahrung keine Rolle spielt, beim Einsatz von Wehrpflichtigen an der Front (DIS 7.2023). Eingezogene Männer aus "versöhnten" Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 2.2023; vgl. NMFA 8.2023). [Anm.: In welcher Relation die Zahl der Reservisten zu den Wehrpflichtigen steht, geht aus den Berichten nicht hervor.]

Quellen:

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ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (20.3.2023): Anfragebeantwortung zu Syrien: Zwangsrekrutierung von Erwachsenen durch die Syrische Nationale Armee (SNA) oder andere oppositionelle militärische Gruppierungen in Dscharabulus; Personengruppen mit höherer Wahrscheinlichkeit von derartigen Rekrutierungen;. Sanktionen gegen Personen, die eine Rekrutierung verweigern; Unterstellung oppositioneller Gesinnung im Falle einer Verweigerung; Zugriffsmöglichkeiten der syrischen Armee auf wehrdienstpflichtige Personen in Dscharabulus [a-12101], https://www.ecoi.net/en/document/2091203.html, Zugriff 24.5.2023

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Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts

Letzte Änderung 2024-03-11 07:21

Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vgl. FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Auch für Wehrpflichtige, die ins Ausland reisen möchten, ist ein Aufschub von bis zu 6 Monaten möglich und wird von Oppositionsangehörigen genützt, nachdem sie im Rahmen von Versöhnungsabkommen ihren "Status geregelt" haben (DIS 1.2024). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vgl. DRC/DIS 8.2017).

Als einziger Sohn der Familie kann man sich vom Wehrdienst befreien lassen. Mehrere Quellen des Danish Immigration Service haben angegeben, dass es keine Fälle gibt, in denen die einzigen Söhne einer Familie trotzdem zur Wehrpflicht herangezogen worden sind (DIS 1.2024).

Einem von der European Union Asylum Agency (EUAA) befragten syrischen Akademiker zufolge werden Wehrpflichtbefreiungen erlassen für Personen mit Erkrankungen, die es ihnen verunmöglichen, militärische Pflichten zu erfüllen, wie beispielsweise Herzerkrankungen oder Sehschwächen. Teilweise werden aber anstatt einer Befreiung, diese Personen auf Positionen ohne Gefechtsbereitschaft bzw. auf denen sie keiner physischen Belastung ausgesetzt sind, wie in der Administration, verpflichtet (EUAA 10.2023; vgl. DIS 01.2024). Zur Entscheidung, ob und welcher Art eine Person wehrpflichtig ist, errechnen die Behörden einen Prozentgrad der Behinderung bzw. der gesundheitlichen Beeinträchtigung zum Zeitpunkt der medizinischen Untersuchung (DIS 1.2024). Wobei eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums angibt, dass sechs Monate Grundausbildung unabhängig des Gesundheitszustandes komplett zu durchlaufen sind (NMFA 8.2023). Welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen zur Untauglichkeit bzw. zum eingeschränkten Wehrdienst führen ist unklar, wobei es bestimmte, offensichtliche Behinderungen gibt, die eine Untauglichkeit bedingen, wie Blindheit oder Lähmungen. Oft werden auch Männer, die an Fettleibigkeit, Sehbehinderungen, Krebs, psychischen Krankheiten leiden oder denen eine Gliedmaße fehlt, vom Wehrdienst befreit. Gewisse gesundheitliche Beeinträchtigungen, wie Diabetes, Sehschwächen bis zu einem bestimmten Grad, Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Hörbeeinträchtigungen, Deformierungen an Händen oder Füßen, Asthma oder andere chronische Erkrankungen gelten meist als Gründe, um den Wehrdienst nicht im Feld ausüben zu müssen (DIS 1.2024). Einer vom niederländischen Außenministerium befragten Quelle zufolge werden medizinische Befreiungen häufig ignoriert und die Betroffenen müssen dennoch ihren Wehrdienst ableisten (NMFA 5.2022). Die tatsächliche Handhabung der Tauglichkeitskriterien ist schwer eruierbar, da sie von den Entscheidungen der medizinischen Ausschüsse abhängen (DIS 5.2020; vgl. DIS 1.2024). Der Prozess nimmt manchmal auch viel Zeit in Anspruch, sogar bei offensichtlichen Beeinträchtigungen, wie dem Downsyndrom (DIS 1.2024). Wer aus medizinischen Gründen befreit werden will oder in einer administrativen Position seinen Wehrdienst versehen möchte, hat mit Hürden zu rechnen und Erpressungen sowie das Bezahlen von Bestechungsgeldern ist weit verbreitet (EUAA 10.2023; vgl. NMFA 8.2023). So zahlen laut einem Experten, der vom Danish Immigration Service befragt wurde, manche Wehrpflichtige 3.000-4.000 USD, um ihren Wehrdienst in einem Büro statt am Gefechtsfeld zu leisten oder höhere Summen, um als gänzlich untauglich klassifiziert zu werden (DIS 7.2023). Manchmal müssen auch Personen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung Bestechungsgelder bezahlen, um als untauglich eingestuft zu werden (DIS 1.2024). Wer für den Gefechtsdienst untauglich erklärt wurde, kann sich durch eine Zahlung von 3.000 USD gänzlich von der Wehrpflicht befreien. Weswegen viele Männer Bestechungsgelder bezahlen, um sich für den Gefechtsdienst untauglich schreiben zu lassen, um anschließend Gebrauch von dieser Ausnahmeregelung machen zu können (DIS 1.2024). Wenn die Behörden erkennen, dass medizinische Ausnahmen ungerechtfertigt, beispielsweise durch Bestechung, gewährt wurden, müssen sich die betroffenen Wehrpflichtigen einer erneuten medizinischen Untersuchung unterziehen (EUAA 10.2023). Demgegenüber berichten mehrere Quellen des Danish Immigration Service, dass die Zahlung eines Betrags von 3.000 USD für die Befreiung vom Wehrdienst für den Gefechtsdienst untaugliche Personen, von der Syrischen Regierung meist akzeptiert wird. Allerdings können sich nur wenige Personen diese hohen Geldbeträge überhaupt leisten (DIS 1.2024).

Seit einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich und kann durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB Damaskus 12.2022).

Am 1.12.2023 trat das neue Gesetzesdekret Nr.37 in Kraft, wonach sich Rekruten, die das 40. Lebensjahr vollendet haben und noch nicht in den Reservedienst eingetreten sind, sich von ebendiesem freikaufen können durch eine Zahlung von 4.800 USD. Für jeden Monat, in dem derjenige den Reservedienst bereits geleistet hat, werden 200 USD abgezogen (SANA 1.12.2023).

Polizeidienst als Befreiung vom Wehrdienst

Gemäß Abschnitt 12 des Wehrpflichtgesetzes war eine Person vom Wehrdienst befreit, wenn sie mindestens zehn Jahre in den Diensten der inneren Sicherheit stand, einschließlich der Polizei. Diese Frist wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 1 von 2012 auf fünf Jahre verkürzt. Hat eine Person nicht die vollen fünf Jahre gedient, muss sie dennoch ihren Militärdienst ableisten. Wer bei der Polizei akzeptiert wird, unterschreibt jedoch einen Zehnjahresvertrag. Es ist auch möglich, dass ein Rekrut der Polizei beitritt und dort seinen Militärdienst ableistet, da die internen Sicherheitsdienste gemäß Artikel 10 des Wehrpflichtgesetzes zu den syrischen Streitkräften gezählt werden. Wenn eine Person der Polizei beitritt, wird das Rekrutierungsbüro, dem sie untersteht, angewiesen, sie nicht zum Militärdienst einzuberufen (NMFA 5.2022). Eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums gibt zudem an, dass Polizisten keinen Reservedienst leisten müssen, wenn sie ihre Wehrpflicht erfüllt haben, unabhängig davon, ob sie Polizeidienst geleistet haben oder nicht (NMFA 8.2023).

Rechtlich gesehen ist es möglich, aus dem Polizeidienst auszutreten. Die Kündigung muss samt einer Erklärung über die Gründe eingereicht werden. Alle Rücktrittsgesuche werden auf der Grundlage einer Sicherheitsanalyse geprüft. In der Praxis werden die meisten Anträge aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Polizeibeamte können während der ersten zehn Jahre ihres Vertrags de facto nicht kündigen. Eine Laufbahn innerhalb des erweiterten Sicherheitsapparats ist grundsätzlich auf Lebenszeit angelegt und es ist nicht üblich, eine solche Position vorzeitig zu verlassen. Bei einer Laufbahn in einer Sicherheitsbehörde ist es laut einer Quelle praktisch unmöglich, die Erlaubnis zur Kündigung zu erhalten. Das unerlaubte Verlassen eines Polizeidienstpostens wird als eine Form der Desertion angesehen, die mit Strafe bedroht werden kann. Es gibt unterschiedliche Angaben darüber, welches Gesetz in diesem Fall gilt (NMFA 5.2022). Zollbeamte gelten im Rahmen ihrer Zuständigkeit als allgemeine Sicherheitskräfte und Kriminalbeamte (ACCORD 17.1.2022).

Anm.: Zur Rolle des Sicherheitsapparats im Laufe des Kriegs und bei Menschenrechtsverletzungen siehe die Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage, Folter und unmenschliche Behandlung, Hinrichtungen und außergerichtliche Tötungen sowie das Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen.

Befreiungsgebühr für Syrer mit Wohnsitz im Ausland

Das syrische Militärdienstgesetz erlaubt es syrischen Männern und registrierten Palästinensern aus Syrien im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland, eine Gebühr ("badal an-naqdi") zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Bis 2020 konnten Männer, die sich mindestens vier aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, einen Betrag von 8.000 USD zahlen, um vom Militärdienst befreit zu werden (DIS 5.2020), wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen (EB 2.9.2019; vgl. SB Berlin o.D.). Im November 2020 wurde mit dem Gesetzesdekret Nr.31 (Rechtsexperte 14.09.2022) die Dauer des erforderlichen Auslandsaufenthalts auf ein Jahr reduziert und die Gebühr erhöht (NMFA 6.2021). Das Wehrersatzgeld ist nach der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre) ISPI 5.6.2023; vgl. AA 2.2.2024). Laut der Einschätzung verschiedener Organisationen dient die Möglichkeit der Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen (AA 2.2.2024; vgl. ISPI 5.6.2023). Die Zahlung des Wehrersatzgeldes ist an die Vorlage von Dokumenten geknüpft, die eine Vielzahl der ins Ausland Geflüchteten aufgrund der Umstände ihrer Flucht nicht beibringen können oder die nicht ohne ein Führungszeugnis der Sicherheitsdienste des syrischen Regimes nachträglich erworben werden können, wie etwa einen Nachweis über Aus- und Einreisen (Ausreisestempel) oder die Vorlage eines Personalausweises (AA 2.2.2024). Die Syrische Regierung respektiert die Zahlung dieser Befreiungsgebühr mehreren Experten, die vom Danish Immigration Service befragt wurden, zufolge und zieht Männer, die diese Gebühr bezahlt haben, im Allgemeinen nicht ein. Eine Quelle gibt auch an, dass Personen, die die Gebühr bezahlt haben problemlos ins Land einreisen können. Probleme bekommen vor allem jene Männer, die ihre Dokumente zum Beweis, dass sie befreit sind, nicht vorweisen können. Des Weiteren berichten Quellen des Danish Immigration Service von Fällen, bei denen Personen, die ihren Status mit der Regierung geklärt hatten, dennoch verhaftet worden sind, weil sie aus Gründen der Sicherheit von den Sicherheitskräften gesucht worden sind. Die Behörden geben normalerweise keine Auskunft darüber, ob man von den Sicherheitsbehörden gesucht wird. Mehrere Quellen gehen aber von Erpressungen gegenüber Wehrpflichtigen an Checkpoints durch Streit- und Sicherheitskräfte an Checkpoints aus, insbesondere gegenüber Personen aus Europa bzw. Geschäftsleuten. Eine Quelle sprach auch von Racheaktionen gegenüber Wehrpflichtigen, die aus ehemaligen Oppositionsgebieten kommen, bei denen die syrischen Behörden diese an Checkpoints festhalten und erpressen (DIS 1.2024). Auch das Auswärtige Amt schreibt, dass staatlich ausgestellte Nachweise über die Ableistung des Wehrdienstes bzw. Zahlung des Wehrersatzgeldes an Kontrollstellen der Sicherheitsdienste des Regimes durchgängig anerkannt werden (AA 2.2.2024).

Ein Freikauf vom Reservedienst ist gemäß Quellen des niederländischen Außenministeriums nicht möglich, wobei mit Stand August 2023 aufgrund der aktuellen geringen Intensität der Kampfhandlungen es nur selten zur Einberufung von Reservisten gekommen ist (NMFA 8.2023). Das Italian Institute for International Political Studies (ISPI) hingegen schreibt, dass seit der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 auch Reservisten sich durch eine Gebühr von 5.000 USD nach einem Auslandsaufenthalt von mindesten einem Jahr freikaufen können (ISPI 5.6.2023). Auch die staatliche Nachrichtenagentur SANA schrieb im Dezember 2023 vom Legislaturdekret Nr. 37, wonach Reservisten, die das 40. Lebensjahr erreicht haben und noch nicht im Dienst waren, sich durch eine Befreiungsgebühr von 4.800 USD vom Reservedienst freikaufen können (SANA 1.12.2023; vgl. EB 3.12.2023). Das Auswärtige Amt schreibt, dass es zahlreiche Berichte, darüber gäbe, dass auch Reservisten zum Militärdienst eingezogen werden (AA 2.2.2024).

Für außerhalb Syriens geborene Syrer im wehrpflichtigen Alter, welche bis zum Erreichen des wehrpflichtigen Alters dauerhaft und ununterbrochen im Ausland lebten, gilt eine Befreiungsgebühr von 3.000 USD. Wehrpflichtige, die im Ausland geboren wurden und dort mindestens zehn Jahre vor dem Einberufungsalter gelebt haben, müssen einen Betrag von 6.500 USD entrichten (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein Besuch von bis zu drei Monaten in Syrien wird dabei nicht als Unterbrechung des Aufenthalts einer Person in dem fremden Land gewertet. Für jedes Jahr, in welchem ein Wehrpflichtiger weder eine Befreiungsgebühr bezahlt, noch den Wehrdienst aufschiebt oder sich zu diesem meldet, fallen zusätzliche Gebühren an (DIS 5.2020; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022). Auch Männer, die Syrien illegal verlassen haben, können Quellen zufolge durch die Zahlung der Gebühr vom Militärdienst befreit werden (NMFA 5.2022; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022; NMFA 8.2023). Diese müssen ihren rechtlichen Status allerdings zuvor durch einen individuellen "Versöhnungsprozess" bereinigen (NMFA 5.2022).

Informationen über den Prozess der Kompensationszahlung können auf den Webseiten der syrischen Botschaften in Ländern wie Deutschland, Ägypten, Libanon und der Russischen Föderation aufgerufen werden. Bevor die Zahlung durchgeführt wird, kontaktiert die Botschaft das syrische Verteidigungsministerium, um eine Genehmigung zu erhalten. Dabei wird ermittelt, ob die antragstellende Person sich vom Wehrdienst freikaufen kann (NMFA 5.2020). Die syrische Botschaft in Berlin gibt beispielsweise an, dass u. a. ein Reisepass oder Personalausweis sowie eine Bestätigung der Ein- und Ausreise vorgelegt werden muss (SB Berlin o.D.), welche von der syrischen Einwanderungs- und Passbehörde ausgestellt wird ("bayan harakat"). So vorhanden, sollten die Antragsteller auch das Wehrbuch oder eine Kopie davon vorlegen (Rechtsexperte 14.9.2022).

Offiziell ist dieser Prozess relativ einfach, jedoch dauert er in Wirklichkeit sehr lange, und es müssen viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden, unter anderem Bestechungsgelder für die Bürokratie. Beispielsweise müssen junge Männer, die mit der Opposition in Verbindung standen, aber aus wohlhabenden Familien kommen, wahrscheinlich mehr bezahlen, um vorab ihre Akte zu bereinigen (Balanche 13.12.2021).

Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdienstes

Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in Syrischen Pfund leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2.000 USD oder das Äquivalent in Syrischen Pfund nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird wie ein ganzes Jahr gerechnet (SANA 8.11.2017; vgl. PAR 15.11.2017).

Diese mit dem Gesetz Nr. 35 vom 15.11.2017 beschlossene Änderung ermöglicht es der Direktion für militärische Rekrutierung, Vermögen wie Immobilien und bewegliche Güter von syrischen Männern zu beschlagnahmen, die ihren Verpflichtungen zur Ableistung des Militärdienstes nicht nachgekommen sind. Gesetz Nr. 39 vom 24.12.2019 zur Änderung von Artikel 97 des Wehrdienstgesetzes Nr. 30 aus dem Jahr 2007 veränderte die Art der vorgesehenen Beschlagnahmung. Es ermöglicht die Beschlagnahme von Eigentum von Männern, die das 42. Lebensjahr vollendet haben und weder den Militärdienst abgeleistet noch die Kompensationszahlung von 8.000 USD ordnungsgemäß beglichen haben, oder von deren Ehefrauen oder Kindern, ohne dass die betroffenen Personen davon in Kenntnis gesetzt werden. Derzeit kann das Vermögen dieser Person vorsorglich beschlagnahmt werden, was bedeutet, dass es weder verkauft noch an eine andere Partei übertragen werden kann. Das Vermögen kann ohne weitere Ankündigung vom Staat versteigert werden, anstatt es bis zu einer Lösung der Frage einzufrieren. Der Staat kann den geschuldeten Betrag aus der Versteigerung einbehalten und den Restbetrag (falls vorhanden) an die Person zurückzahlen, deren Eigentum versteigert wurde. Erreicht das Vermögen des Mannes nicht den Wert der Kompensationszahlung, kann das gleiche Versteigerungsverfahren auf das Vermögen seiner Frau oder seiner Kinder angewandt werden, bis der Wert der Gebühr erreicht ist (Rechtsexperte 14.9.2022; vgl. DIS 1.2024). Laut einer vertraulichen Quelle des niederländischen Außenministeriums kann auch die Erbschaft solange zurückgehalten werden, bis der erbberechtigte Sohn den Wehrdienst geleistet oder eine Wehrpflichtbefreiung erhalten hat (NMFA 8.2023). Mehrere von EUAA befragte Quellen geben an, dass ihnen bisher keine Fälle bekannt wären, in denen dieses Gesetz gegriffen hätte und tatsächlich Eigentum beschlagnahmt worden wäre, aber zumindest ein Experte geht davon aus, dass das Gesetz in Zukunft entsprechend in die Praxis umgesetzt werden wird (EUAA 10.2023).

Unter anderem wurde auch berichtet, dass Palästinensern, die keinen Wehrdienst abgeleistet haben, der Zugang zum Camp Yarmouk verweigert wurde, um sich dort ihren Besitz zurückzuholen (Action PAL 3.1.2023).

Geistliche und Angehörige von religiösen Minderheiten

Christliche und muslimische religiöse Führer sind weiterhin aus Gewissensgründen vom Militärdienst befreit, wobei muslimische Geistliche dafür eine Abgabe bezahlen müssen (USDOS 15.5.2023). Es gibt Berichte, dass in einigen ländlichen Gebieten Mitgliedern von religiösen Minderheiten die Möglichkeit geboten wurde, sich lokalen regierungsnahen Milizen anzuschließen, anstatt ihren Wehrdienst abzuleisten. In den Städten gab es diese Möglichkeit im Allgemeinen jedoch nicht, und Mitglieder von Minderheiten wurden unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund zum Militärdienst eingezogen (FIS 14.12.2018).

Anders als in vielen Gebieten unter Regierungskontrolle konnten sich Männer im Gouvernement Suweida der gesetzlich festgelegten allgemeinen Wehrpflicht in den syrischen nationalen Streitkräften weitgehend entziehen (Syria Untold 9.1.2020; vgl. COAR 30.9.2020), viele Gemeindevorsteher und hochrangige drusische Religionsführer haben sich geweigert, die Einberufung in die Armee zu genehmigen (AW 5.12.2022). Stattdessen hat die drusische Gemeinschaft gut organisierte Nachbarschaftsschutzgruppen und Einheiten der Nationalen Verteidigungskräfte (NDF) unterhalten. Die syrische Regierung hält jedoch offiziell weiterhin an der verfassungsmäßig verankerten "heiligen Pflicht" des allgemeinen Wehrdienstes - auch für die in Suweida heimische drusische Gemeinschaft - fest (COAR 30.9.2020). Das Regime behandelt diese Menschen als Wehrdienstverweigerer und zwingt sie von Zeit zu Zeit, an so genannten "Sicherheitsregelungen" teilzunehmen. Eine dieser Maßnahmen fand am 5.10.2022 statt. Sie beinhaltete einerseits einen administrativen Aufschub für einen Zeitraum von sechs Monaten vor dem Eintritt in die im Süden Syriens stationierten Armeeeinheiten und andererseits die Einstellung der Verfolgung von Personen, die von den Sicherheitsapparaten gesucht werden. Allerdings nehmen viele Drusen diese Sicherheitsregelungen nicht ernst, da sie sich nicht als Rechtsbrecher betrachten. Im Oktober 2022 nahmen nur 2.500 junge Männer von 30.000 Wehrdienstverweigerern und Überläufern in Suweida an der Sicherheitsregelung teil. Für diejenigen, die einen Vergleich abschließen, besteht das Hauptmotiv darin, eine "Schlichtungskarte" zu erwerben, die ihnen Freizügigkeit gewährt und es ihnen ermöglicht, Transaktionen bei staatlichen Einrichtungen, wie z. B. die Beantragung von Reisedokumenten, ohne Angst vor Verhaftung und Inhaftierung durchzuführen (MED Blog 12.12.2022). Die Grauzone bezüglich der Umsetzung der Wehrpflicht hat zur Folge, dass die derzeit rund 30.000 zum Wehrdienst gesuchten Personen Suweida nicht verlassen bzw. nicht in von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiete reisen können (Alaraby 11.2.2022).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 12.5.2023

ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (17.1.2022): Anfragebeantwortung zu Syrien: Zöllner als Teil des Sicherheitsapparats, Desertion, militärische und polizeiliche Aufgaben von Zöllnern im Krieg [a-11786], https://www.ecoi.net/de/dokument/2067698.html, Zugriff 19.5.2023

Action PAL - Action Group for Palestinians of Syria (3.1.2023): Syrian Regime Deprives Military Service Evaders of Their Property in Yarmouk Camp, https://www.actionpal.org.uk/en/post/13782/news-and-reports/syrian-regime-deprives-military-service-evaders-of-their-property-in-yarmouk-camp, Zugriff 12.5.2023

Alaraby - New Arab, the (11.2.2022): Why protests in Suweida are deeply troubling for the Syrian regime, https://www.newarab.com/analysis/why-protests-suweida-are-troubling-syrian-regime, Zugriff 19.5.2023

AW - Arab Weekly, the (5.12.2022): Syrian regime cracks down on protests in Druze-majority Sweida, https://thearabweekly.com/syrian-regime-cracks-down-protests-druze-majority-sweida, Zugriff 19.5.2023

Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

COAR - Center for Operational Analysis and Research (30.9.2020): The Syrian Economy at War, https://coar-global.org/2020/09/30/the-economy-of-war-in-syria-armed-group-mobilization-as-livelihood-and-protection-strategy/, Zugriff 19.5.2023

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NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069799/EN-AAB-Syrie-juni-2021.pdf, Zugriff 19.5.2023

NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2020): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038451/2020_05_MinBZ_NLMFA_COI_Report_Syria_Algemeen_ambtsbericht_Syrie.pdf, Zugriff 19.5.2022

MED Blog - Middle East Directions Blog (12.12.2022): What’s New About the Sweida Protests in Southern Syria?, https://blogs.eui.eu/medirections/whats-new-about-the-sweida-protests-in-southern-syria/, Zugriff 19.5.2023

ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2022, Antwortschreiben per E-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

PAR – Website of the Parliament [Syria] (15.11.2017): القانون رقم /35/ لعام 2017 القاضي بتعديل قانون خدمة العلم الصادر بالمرسوم التشريعي رقم /30/ لعام /2007/ [Gesetz Nr. 35 von 2017 zur Änderung des Militärdienstgesetzes, das durch das Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 verkündet wurde], http://parliament.gov.sy/arabic/index.php?node=201 nid=18681 RID=-1 Last=10262 First=0 CurrentPage=0 Vld=-1 Mode= Service=-1 Loc1= Key1= SDate= EDate= Year= Country= Num= Dep=-1 , Zugriff 19.5.2023

Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

SANA - Syrian Arab News Agency (1.12.2023): الرئيس الأسد يصدر مرسوماً تشريعياً بتعديل المادة 26 من قانون خدمة العلم [Präsident al-Assad erlässt ein Gesetzesdekret zur Änderung des Artikel 26 des Wehrdienstgesetzes], https://www.sana.sy/?p=2009474, Zugriff 11.1.2024

SANA – Syrian Arab News Agency (8.11.2017): مجلس الشعب يقر مشروع قانون يتعلق بمن تجاوز سن التكليف للخدمة ربط الإلزامية وآخر حول السجل العام للعاملين في الدولة بوزارة التنمية الإدارية [Die Volksversammlung verabschiedet einen Gesetzesentwurf zu Personen, die das Mindestalter für den Pflichtdienst überschritten haben, und einen weiteren Gesetzentwurf zum allgemeinen Register der Arbeitnehmer im Staat beim Ministerium für Verwaltungsentwicklung], http://www.sana.sy/?p=656572, Zugriff 19.5.2023

SB Berlin - Botschaft der Syrischen Arabischen Republik Berlin [Syrien] (o.D.): شؤون التجنيد [Rekrutierungsangelegenheiten], http://mofaex.gov.sy/berlin-embassy/ar/pages738/%D8%B4%D8%A4%D9%88%D9%86-%D8%A7%D9%84%D8%AA%D8%AC%D9%86%D9%8A%D8%AF, Zugriff 19.5.2023

STDOK – Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien – mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 19.5.2023

Syria Untold (9.1.2020): Men evading military service in southern Syria’s Suwayda feel ‘trapped’, https://syriauntold.com/2020/01/09/men-evading-military-service-in-southern-syrias-suwayda-feel-trapped/, Zugriff 19.5.2023

USDOS - United States Department of State [USA] (15.5.2023): 2022 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2091896.html, Zugriff 19.5.2023

Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst

Letzte Änderung 2024-03-11 07:55

Rechtssicherheit

In Syrien vorherrschend und von langer Tradition ist eine Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Implementierung der Gesetze in der Praxis. Die in den letzten Jahren noch zugenommene und weit verbreitete Korruption hat diese Diskrepanz noch zusätzlich verstärkt. Rechtsstaatlichkeit ist schwach ausgeprägt, wenn nicht mittlerweile gänzlich durch eine Situation der Straffreiheit untergraben, in der Angehörige von Sicherheitsdiensten ohne strafrechtliche Konsequenzen und ohne jegliche zivile Kontrolle operieren können (ÖB Damaskus 12.2022).

Regelmäßig vom Regime verkündete Amnestien verringern ausgesprochene Todesurteile zum Teil auf lebenslange harte Strafarbeit oder stellen eine Freilassung in Aussicht. In der Rechtspraxis kommen die Amnestien aufgrund großzügig ausgelegter Ausnahmetatbestände und prozeduralen Hindernissen jedoch nur in Einzelfällen zur Anwendung (AA 2.2.2024), dabei oftmals infolge der Zahlung hoher Bestechungsgelder an Amtsträger im Justiz- und Sicherheitswesen (AA 2.2.2024; vgl. EB 9.6.2022).

Amnestien allgemein

Seit März 2011 [Anm.: bis Oktober 2022] hat der syrische Präsident 21 Amnestiedekrete erlassen [Ende Dezember 2022 und im November 2023 folgten weitere Amnestiedekrete, s. weiter unten], wobei in den meisten dieser Dekrete die Strafen der Begnadigten für die verschiedenen Verbrechen und Vergehen ganz oder teilweise aufgehoben wurden (SNHR 16.11.2022, vgl. SNHR 12.9.2023). Der syrische Präsident hat dabei für Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen, Wehrdienstverweigerer und Deserteure eine Reihe von Amnestien erlassen, die Straffreiheit vorsahen, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Militärdienst melden (STDOK 8.2017; vgl. SNHR 16.11.2022, MED 10.2021). Über die Umsetzung und den Umfang der Amnestien für Wehrdienstverweigerer und Deserteure ist nur sehr wenig bekannt (DIS 5.2020; vgl. SNHR 16.11.2022; vgl. DIS 7.2023). Aber zumindest im Zusammenhang mit der Amnestie des Legislativdekrets 24/2022 wurde von der Menschenrechtsorganisation Syrian Network for Human Rights (SNHR) die Freilassung von 14 Personen aus Haftanstalten der Regierung dokumentiert, die anschließend zum Wehrdienst verpflichtet wurden, sowie 24 Personen, die sich beim Rekrutierungsbüro meldeten und ebenfalls zum Pflichtwehrdienst eingeschrieben wurden, registriert (EUAA 10.2023). Menschenrechtsorganisationen und Beobachter haben die Amnestien wiederholt als intransparent sowie unzureichend kritisiert (STDOK 8.2017; vgl. EB 3.4.2020, MED 10.2021) und als ein Propagandainstrument der Regierung bezeichnet (DIS 5.2020; vgl. MED 10.2021). Das Auswärtige Amt schreibt, dass die vergangenen Dekrete in der Umsetzung nahezu wirkungslos waren (AA 2.2.2024). Eine Quelle von EUAA gab an, dass die Amnestien nicht für Personen, die den Reservedienst verweigert haben, gelten (EUAA 10.2023). Zwei Quellen des Danish Immigration Service wiederum berichten, dass die Amnestien auch Männer umfassen, die aus dem Reservedienst desertierten (DIS 1.2024).

Die Amnestiedekrete resultierten im Allgemeinen nur in der Entlassung einer begrenzten Anzahl von gewöhnlichen Kriminellen, und nicht von jenen, deren Verhaftung politisch motiviert ist (USDOS 20.3.2023). Der Ausschluss von politischen Gefangenen von den Amnestien ist der Haft- und Gerichtspraxis in Syrien teilweise inhärent. Willkürlich Verhaftete werden in der Regel ohne Anklage für längere Zeit festgehalten, und die Inhaftierten werden oft nicht über die gegen sie erhobenen Vorwürfe informiert (MED 10.2021; vgl. USDOS 20.3.2023). Die Amnestien schlossen Gefangene aus, die nicht eines Verbrechens angeklagt wurden (USDOS 20.3.2023).

Erhebungen von SNHR ergaben, dass im Zeitraum März 2011 bis Oktober 2022 rund 7.350 Personen im Rahmen von 21 Amnestiedekreten aus diversen Zivil- und Militärgefängnissen der syrischen Regierung sowie aus Haftanstalten unterschiedlicher Zweigstellen des Sicherheitsapparats entlassen wurden. Darunter befanden sich rund 6.100 Zivilisten und 1.250 Militärangehörige. Dem stellt SNHR eine Anzahl von rund 123.300 Personen gegenüber, die in zeitlicher Nähe zu den Amnestien verhaftet wurden oder gewaltsam verschwanden (SNHR 16.11.2022).

Eine begrenzte Anzahl von Gefangenen kam im Zuge lokaler Beilegungsabkommen mit dem Regime frei. Während des Jahres 2022 verstießen Regimekräfte gegen frühere Amnestieabkommen, indem sie Razzien und Verhaftungskampagnen gegen Zivilisten und frühere Mitglieder der bewaffneten Oppositionsgruppen in Gebieten durchführten, in denen zuvor Beilegungsabkommen mit dem Regime unterzeichnet worden waren (USDOS 20.3.2023).

Einer Quelle zufolge respektiert die syrische Regierung Amnestien und belangt durch Amnestien begnadigte Wehrdienstverweigerer und Deserteure nicht, es sei denn, sie waren in Kampfhandlungen gegen die Regierung involviert (DIS 1.2024). Durch verschiedene Amnestien für Deserteure und Wehrdienstverweigerer werden Strafen zwar zumindest stellenweise erlassen, der zwangsweise Einzug in den Militärdienst wurde durch die Amnestien jedoch nicht beendet und wird unverändert fortgesetzt (AA 2.2.2024; vgl. USDOS 20.3.2023, NMFA 5.2022, MED 10.2021, EUAA 10.2023, DIS 1.2024) bzw. wird als Strafe der Wehrdienst einer Quelle zufolge um sechs Monate verlängert (DIS 1.2024). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen (AA 2.2.2024). Das Narrativ der Amnestie oder der milden Behandlung ist höchst zweifelhaft: Es spielt nicht nur eine Rolle, ob zum Beispiel Familienmitglieder für die FSA (Freie Syrische Armee) oder unter den Rebellen gekämpft haben, sondern das Regime hegt auch ein tiefes Misstrauen bezüglich des Herkunftsgebiets. Es spielt eine große Rolle, woher man kommt, ob man aus Gebieten mit vielen Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten geflohen ist, zum Beispiel Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs (Üngör 15.12.2021). Unklar ist auch, wie mit Personen verfahren wird, die sich politisch gegen die Syrische Regierung betätigt haben (DIS 1.2024). Ein Syrien-Experte merkte in diesem Zusammenhang auch an, dass die Durchsetzungsfähigkeit des Präsidenten bei den Amnestiedekreten vor Ort angezweifelt werden kann, und Vergeltung ein weitverbreitetes Phänomen ist (Balanche 13.12.2021). Omran Center for Strategic Studies wiederum berichtet von Fällen, in denen Deserteure sich auf die Amenstien verlassen hatten und dennoch inhaftiert wurden, einige sollen in staatlichen Haftanstalten nach ihrer auf den Amnestien basierenden Rückkehr ums Leben gekommen sein (DIS 1.2024).

Kürzlich erlassene Amnestien

Am 16.11.2023 wurde ein Amnestiedekret für Verbrechen, die vor dem 16.11.2023 begangen wurden, erlassen. Betroffen sind vor allem Inhaftierte im Alter von über 70 Jahren oder unheilbar Kranke. Lebenslange Haftstrafen wurden in 20 Jahre Haft umgewandelt. Ausgenommen von der Amnestie sind Verbrechen, die zum Tode führten und in Zusammenhang mit Waffenschmuggel (AP 16.11.2023; vgl. Reuters 16.11.2023). Anfang September 2023 verfügte Präsident Assad mittels Dekret (32/2023) die Auflösung von ad hoc Gefechtsfeldtribunalen, die laut Menschenrechtsorganisationen mit hunderten Todesurteilen gegen vermeintliche Deserteure und andere Personen in Verbindung gebracht werden. Dieses stellt allerdings keine wesentliche Verbesserung der Rechtslage dar. Die Beschuldigten müssen weiterhin die Verfolgung vor ordentlichen Militärgerichtshöfen fürchten, in denen grundsätzliche Prinzipien des Rechtsstaats systematisch missachtet werden. Ferner enthält das Dekret keine Durchführungsbestimmungen, um den Zugang zu Dokumentation der vor Feldtribunalen gesprochenen Urteile und dem Schicksal der Verurteilten verbessern würden (AA 2.2.2024).

Präsident Assad erließ am 21.12.2022 mit dem Legislativdekret Nr. 24 eine Generalamnestie, die unter anderem für die Tatbestände "interne und externe Desertion" gilt, so diese vor dem Inkrafttreten des Erlasses begangen wurden (SANA 21.12.2022). Die Amnestie ist an die Bedingung geknüpft, dass sich Deserteure, die in Syriens leben, innerhalb von drei Monaten, und Deserteure, die außerhalb Syriens leben, innerhalb von vier Monaten den Behörden stellen (MEMO 22.12.2022).

Im Mai 2022 hat Präsident Assad mit dem Gesetzesdekret Nr. 7/2022 eine Generalamnestie für "terroristische Verbrechen" erlassen, welche von Syrern vor dem 30.4.2022 begangen wurden, mit Ausnahme derjenigen Straftaten, die zum Tod eines Menschen geführt haben und die im Antiterrorismusgesetz Nr. 19 von 2012 und im Strafgesetzbuch, das durch das Gesetzesdekret Nr. 148 von 1949 und dessen Änderungen erlassen wurde, festgelegt sind (SO 3.5.2022). "Terrorismus" ist ein Begriff, mit dem die Regierung die Aktivitäten von Rebellen und oppositionellen Aktivisten beschreibt (MEE 2.5.2021). Nach dem Militärstrafgesetzbuch geahndete Vergehen fallen nicht unter diese Amnestie. Laut SNHR wurden mindestens 586 Personen im Zusammenhang mit dem Amnestiedekret aus der Haft entlassen (SNHR 16.11.2022). Das Amnestiedekret wurde laut Human Rights Watch (HRW) allerdings willkürlich und ohne Transparenz umgesetzt und führte nur zur dokumentierten Freilassung einer kleinen Zahl von Inhaftierten, gemessen an den Tausenden von Personen, die nach wie vor verschwunden sind, viele davon seit 2011, ohne dass es Informationen über ihren Verbleib gibt (HRW 12.1.2023). Laut Auswärtigem Amt bietet diese Amnestie Spielraum, die Freilassung unliebsamer Personen effektiv zu verhindern. So wurden Inhaftierte etwa nachträglich für den Tod von Personen verantwortlich gemacht. Als Nachweis reicht bereits die behauptete örtliche Nähe zu einem Ereignis mit Todesfolge, etwa über Mobilfunkortung, aus (AA 2.2.2024).

Am 25.1.2022 erließ Präsident Assad mit Gesetzesdekret Nr. 3/2022 eine Generalamnestie für "interne" und "externe Desertion", die vor diesem Datum begangen wurde (SANA 25.1.2022). Die Amnestie umfasst Straftaten nach Artikel 100 ("interne Desertion") und 101 ("externe Desertion") des Militärstrafgesetzbuchs (Gesetzesdekret Nr. 61 von 1950) (SO 27.1.2022; vgl. SNHR 16.11.2022), schließt jedoch die Artikel 102 ("Flucht zum Feind, Flucht vor dem Feind") und 103 ("Flucht durch Verschwörung und Flucht in Kriegszeiten") aus (SO 27.1.2022). Die Amnestie ist an die Bedingung geknüpft, dass sich Deserteure, die in Syrien leben, innerhalb von drei Monaten, und Deserteure, die außerhalb Syriens leben, innerhalb von vier Monaten den Behörden stellen (SNHR 16.11.2022).

Es ist nicht bekannt, inwieweit sich die syrischen Behörden an die jüngste Amnestieregelung gehalten haben. Eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es bei früheren Amnestien Fälle gegeben habe, in denen sich die syrischen Behörden nicht an die Bedingungen der Amnestien gehalten hätten. Männer, die sich gemeldet hatten, waren dennoch im Gefängnis gelandet, weil auch das Gesetz sehr weit ausgelegt werden könnte (NMFA 8.2023).

Amnestien in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung

Am 10.10.2020 erließ die sog. "Selbstverwaltung" in Nordost-Syrien eine "Generalamnestie" für Strafgefangene (AA 4.12.2020; vgl. NPA 10.10.2020). Bereits am 15.10.2020 sollen 631 Häftlinge auf Grundlage des Dekrets entlassen worden sein, darunter auch mutmaßliche IS-Sympathisanten. Strafen für bestimmte Vergehen sollen zudem halbiert werden (AA 4.12.2020). Das Amnestiedekret Nr. 7 des syrischen Präsidenten vom 30.4.2022 fand beispielsweise keine Anwendung in Raqqa, das unter der Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) steht (EB 9.6.2022).

Am 2.4.2022 erließ die Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) nahestehende "Syrische Heilsregierung" im Gouvernement Idlib ein Dekret, mit dem sie Berichten zufolge eine "Amnestie" für Urteile gewährte, die sie aus Gründen des öffentlichen Rechts verhängt hatte, und die Hälfte der Strafe von Gefangenen "umwandelte", die ein Urteil oder eine ähnliche Strafe erhalten hatten. Nach Angaben von SNHR bezog sich die Amnestie nicht auf Gefangene, die wegen Kritik an der HTS inhaftiert worden waren (USDOS 20.3.2023).

Die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) erließen Anfang September 2023 eine Amnestie für arabische Stammeskämpfer in Deir ez-Zour, die sich gewaltvoll gegen die SDF erhoben hatten. Mehrere Stammeskämpfer wurden freigelassen (Reuters 7.9.2023; vgl. MEE 7.9.2023). Kämpfern in den von den SDF kontrollierten Gebieten wurde eine Frist von 15 Tagen eingeräumt, ihre Waffen abzugeben und einen Versöhnungsprozess zu beginnen, um aus den von der Regierung kontrollierten Gebieten zurück in die von den SDF kontrollierten Gebiete kommen zu können (K24 28.9.2023).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024

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AP - Associated Press (16.11.2023): Syria’s president grants amnesty, reduced sentences on anniversary of coup that put father in power, https://apnews.com/article/assad-amnety-syria-pardon-b4a0c2b992abe1bbecb488a50bf61f8b, Zugriff 14.12.2023

Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

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DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (7.2023): Syria - Military service: recruitment procedure, conscripts’ duties and military service for naturalised Ajanibs, https://www.ecoi.net/en/file/local/2094617/coi-brief-report-on-syria-military-service-2023.pdf, Zugriff 13.12.2023

DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2020): Syria - Military Service, Report based on a fact-finding mission to Istanbul and Beirut (17-25 February 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2031493/Report_Syria_Military_Service_may_2020.pdf, Zugriff 22.5.2023

EB - Enab Baladi (9.6.2022): Raqqa: Detainees’ families endure blackmail since the amnesty issued, https://english.enabbaladi.net/archives/2022/06/raqqa-detainees-families-endure-blackmail-since-the-amnesty-issued/, Zugriff 22.5.2023

EB - Enab Baladi (3.4.2020): Decrees for detainees .. without including them Syrian detainees off legislators’ table, https://english.enabbaladi.net/archives/2020/04/decrees-for-detainees-without-including-them-syrian-detainees-off-legislators-table/, Zugriff 22.5.2023

EUAA - European Union Agency for Asylum (10.2023): Syria Country Focus, https://www.ecoi.net/en/file/local/2098437/2023_10_EUAA_COI_Report_Syria_Country_focus.pdf, Zugriff 13.12.2023

HRW – Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085501.html, Zugriff 22.5.2023

K24 - Kurdistan24 (28.9.2023): SDF offers amnesty to Deir ez-Zor gunmen, https://www.kurdistan24.net/en/story/32704-SDF-offers-amnesty-to-Deir-ez-Zor-gunmen, Zugriff 18.12.2023

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NPA - North Press Agency (10.10.2020): General Amnesty issued by Syria’s Autonomous Administration, https://npasyria.com/en/47977/, Zugriff 22.5.2023

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STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 22.5.2023

Üngör, Uğur Ümit - Geschichtsprofessor, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2089061.html, Zugriff 17.5.2023

Wehrdienstverweigerung / Desertion

Letzte Änderung 2024-03-12 13:44

Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten Zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und vergleichsweise wenige wurden nach diesem Zeitpunkt deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).

In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 2.2.2024).

Der verpflichtende Militärdienst führt weiterhin zu einer Abwanderung junger syrischer Männer, die vielleicht nie mehr in ihr Land zurückkehren werden (ICWA 24.5.2022).

Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern

In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Rechtsexperten der Free Syrian Lawyers Association (FSLA) mit Sitz in der Türkei beurteilen, dass das syrische Regime die Verweigerung des Militärdienstes als schweres Verbrechen betrachtet und die Verweigerer als Gegner des Staates und der Nation behandelt. Dies spiegelt die Sichtweise des Regimes auf die Opposition wie auch jede Person wider, die versucht, sich seiner Politik zu widersetzen oder ihr zu entkommen (STDOK 25.10.2023). Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt "ihr Land zu verteidigen". Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit "gerettet" haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021). Ein für eine internationale Forschungsorganisation mit Schwerpunkt auf den Nahen Osten tätiger Syrienexperte, der allerdings angibt, dazu nicht eigens Forschungen durchgeführt zu haben, geht davon aus, dass das syrische Regime möglicherweise am Anfang des Konflikts, zwischen 2012 und 2014, Wehrdienstverweigerer durchwegs als oppositionell einstufte, inzwischen allerdings nicht mehr jeden Wehrdienstverweigerer als oppositionell ansieht (STDOK 25.10.2023). Gemäß Auswärtigem Amt legen einige Berichte nahe, dass Familienangehörige von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern ebenfalls Verhören und Repressionen der Geheimdienste ausgesetzt sein könnten (AA 2.2.2024).

Gesetzliche Lage

Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Art. 98-99 ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 2.2.2024; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022).

Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen "interner Desertion" (farar dakhelee) und "externer Desertion" (farar kharejee). Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1) (Rechtsexperte 14.9.2022). Externe Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2) (Rechtsexperte 14.9.2022; vgl. AA 2.2.2024). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z. B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Art. 102 bei Überlaufen zum Feind und gemäß Art. 105 bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 2.2.2024).

Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vgl. DIS 5.2020).

Freikauf vom Wehrdienst

Nach dem Wehrpflichtgesetz ist es syrischen Männern im wehrpflichtigen Alter möglich, sich durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freizukaufen, sofern sie mindestens ein Jahr ohne Wiedereinreise nach Syrien ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hatten (AA 2.2.2024). Drei vertrauliche Quellen, die vom niederländischen Außenministerium im März 2023 und November 2022 befragt wurden, gehen davon aus, dass jemand, der sich vom Militärdienst freigekauft hat, auch nicht mehr zum Militärdienst einberufen wird. Der zu zahlende Betrag hängt dabei davon ab, wie lange die Männer im Ausland waren und variiert zwischen 7.000 und 10.000 Dollar. Auch Wehrdienstpflichtige, die das Land illegal verlassen haben, können sich durch eine solche Zahlung von der Wehrpflicht freikaufen. Möglich ist dies in einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat unter Vorlage eines Nachweises, dass man im Ausland lebt. Es besteht die Möglichkeit, dass die Botschaft die Namen derer veröffentlicht, die sich auf diese Art von der Wehrpflicht befreit haben. Andererseits kann die Person sich auch durch einen Verwandten in Syrien an ein lokales Rekrutierungsbüro wenden, um sich von der Liste der Wehrdienstverweigerer streichen zu lassen (NMFA 8.2023). Die Zahlung des Wehrersatzgeldes ist an die Vorlage von Dokumenten geknüpft, die eine Vielzahl der ins Ausland Geflüchteten aufgrund der Umstände ihrer Flucht nicht beibringen können oder die nicht ohne ein Führungszeugnis der Sicherheitsdienste des syrischen Regimes nachträglich erworben werden können, wie etwa einen Nachweis über Aus- und Einreisen (Ausreisestempel) oder die Vorlage eines Personalausweises (AA 2.2.2024). Die Person bekommt einen Beleg für den Freikauf, den sie bei der Einreise am Flughafen vorweisen kann. Um auch möglichst problemlos Checkpoints passieren zu können, muss die Person zusätzlich zum Beleg einen Eintrag in sein Militärbuch machen lassen (DIS 7.2023). Die syrische Regierung respektiert die Zahlung dieser Befreiungsgebühr mehreren Experten, die vom Danish Immigration Service befragt wurden, zufolge und zieht Männer, die diese Gebühr bezahlt haben, im Allgemeinen nicht ein. Eine Quelle gibt auch an, dass Personen, die die Gebühr bezahlt haben problemlos ins Land einreisen können. Probleme bekommen vor allem jene Männer, die ihre Dokumente zum Beweis, dass sie befreit sind, nicht vorweisen können. Des Weiteren berichten Quellen des Danish Immigration Service von Fällen, bei denen Personen, die ihren Status mit der Regierung geklärt hatten, dennoch verhaftet worden sind, weil sie aus Gründen der Sicherheit von den Sicherheitskräften gesucht worden sind. Eine Quelle sprach auch von Racheaktionen gegenüber Wehrpflichtigen, die aus ehemaligen Oppositionsgebieten kommen, bei denen die syrischen Behörden diese an Checkpoints festhalten und erpressen (DIS 1.2024). Auch das Auswärtige Amt schreibt, dass staatlich ausgestellte Nachweise über die Ableistung des Wehrdienstes bzw. Zahlung des Wehrersatzgeldes an Kontrollstellen der Sicherheitsdienste des Regimes durchgängig anerkannt werden (AA 2.2.2024).

Das syrische Wehrpflichtgesetz (Art. 97) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 2.2.2024 vgl. Rechtsexperte 14.9.2022; vgl. NMFA 8.2023).

Ein Freikauf vom Reservedienst ist gemäß Quellen des niederländischen Außenministeriums nicht möglich, wobei mit Stand August 2023 aufgrund der aktuellen geringen Intensität der Kampfhandlungen es nur selten zur Einberufung von Reservisten gekommen ist (NMFA 8.2023). Das Italian Institute for International Political Studies (ISPI) hingegen schreibt, dass seit der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 auch Reservisten sich durch eine Gebühr von 5.000 USD nach einem Auslandsaufenthalt von mindesten einem Jahr freikaufen können (ISPI 5.6.2023). Auch die staatliche Nachrichtenagentur SANA schrieb im Dezember 2023 vom Legislaturdekret Nr. 37, wonach Reservisten, die das 40. Lebensjahr erreicht haben und noch nicht im Dienst waren, sich durch eine Befreiungsgebühr von 4.800 USD vom Reservedienst freikaufen können (SANA 1.12.2023; vgl. EB 3.12.2023). Das Auswärtige Amt schreibt, dass es zahlreiche Berichte darüber gäbe, dass auch Reservisten zum Militärdienst eingezogen werden (AA 2.2.2024).

Männern, die sich in Syrien aufhalten, ist ein Freikauf von der Wehrpflicht grundsätzlich nicht möglich. Eine Ausnahme hierfür ist nur durch die Möglichkeit, sich vom Reservedienst freizukaufen, für Männer im Alter von mindestens 40 Jahren geboten (DIS 1.2024).

Für nähere Informationen siehe auch das Unterkapitel "Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts".

Bzgl. Konfiszierungsmöglichkeiten im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes siehe Kapitel "Grundversorgung und Wirtschaft".

Handhabung

Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt (Landinfo 3.1.2018), und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen (Rechtsexperte 14.9.2022). Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vgl. Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder "verschwindengelassen" werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).

Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für Wehrdienstentzug ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter) (Üngör 15.12.2021). Dem hingegegn gibt ein von EUAA interviewter Experte an, dass Wehrdienstverweigerer, die von der syrischen Regierung gefasst werden, der Militärpolizei übergeben werden und schließlich in Trainingslager zur Ausbildung und Stationierung gesendet werden (EUAA 10.2023). Bis zum Beginn einer Wehrdienstausbildung, die normalerweise im April und September geplant sind, bleibt der Wehrdienstverweigerer bei der Militärpolizei (NMFA 8.2023). Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021). Auch einige Quellen des Danish Immigration Service geben an, dass Wehrdienstverweigerer mit einer Haftstrafe von bis zu neun Monaten rechnen müssen. Andere Quellen des Danish Immigration Service wiederum berichteten, dass Wehrdienstverweigerer direkt zum Wehrdienst eingezogen, ohne vorher inhaftiert zu werden. Wer an einem Checkpoint als Wehrdienstverweigerer erwischt wird, wird dem Geheimdienst übergeben. Ein Wehrdienstverweigerer, der nicht aus anderen Gründen gesucht wird, wird dem Militär zur Ableistung des Wehrdienstes übergeben. Wehrdienstverweigerer werden meist direkt an die Front geschickt (DIS 1.2024). Wehrdienstverweigerer aus den Gebieten, die von der Opposition kontrolliert wurden, werden dabei mit größerem Misstrauen betrachtet und mit größerer Wahrscheinlichkeit inhaftiert oder verhaftet (NMFA 8.2023).

Bei militärischer Desertion gibt es Fälle, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Mehrere Quellen berichten, dass Deserteure verfolgt und mit einer Haftstrafe bestraft werden und dann ihren Wehrdienst ableisten müssen (DIS 1.2024). Eine Quelle berichtet im Jahr 2020, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Dem gegenüber berichtet ein vom Danish Immigraton Service 2023 interviewter Experte, dass Deserteure aus ehemaligen Oppositionsgebieten, sowie Überläufer, die sich an Handlungen gegen das Regime beteiligt haben, zum Tode verurteilt werden könnten. SNHR berichtet, dass Deserteure ein bestimmtes Zeitlimit, wie beispielsweise ein Jahr haben, um sich freiwillig den Behörden stellen und straffrei davonkommen zu können. Wer sich innerhalb der Frist nicht meldet, wird in Abwesenheit verurteilt (DIS 1.2024). Überläufer, die sich freiwillig stellen, würden vor ein Militärgericht gestellt und müssen entweder nach Ableistung einer Haftstrafe oder, wenn eine Amnestie erlassen wurde, sofort den verbleibenden Wehrdienst in der Einheit, aus der sie desertierten, absolvieren (EUAA 10.2023). Das Omran Center for Strategic Studies wiederum gibt an, dass kein Unterschied zwischen Deserteuren und Überläufern gemacht wird. Die Haftstrafe für Wehrpflichtige und Reservisten, die desertiert sind, beträgt bis zu neun Monate. Wer ein zweites Mal desertiert wird bis zu zwei Jahre inhaftiert, wer ein drittes Mal desertiert für fünf Jahre (DIS 1.2024). Ein Syrienexperte, der von EUAA interviewt wurde, gibt an, dass die Behandlung von Deserteuren und Überläufern abhängig ist von einerseits der Art ihrer Flucht und andererseits den Strafen, die vorgesehen sind in den Artikeln 100 und 104 im Strafgesetzbuch (EUAA 10.2023). Anfang September verfügte Präsident Assad mittels Dekret (32/2023) die Auflösung von ad hoc Gefechtsfeldtribunalen, die laut Menschenrechtsorganisationen mit hunderten Todesurteilen gegen vermeintliche Deserteure und andere Personen in Verbindung gebracht werden (AA 2.2.2024).

Manche Quellen berichten, dass Wehrdienstverweigerung und Desertion für sich genommen momentan nicht zu Repressalien für die Familienmitglieder der Betroffenen führen. Hingegen berichten mehrere andere Quellen von Repressalien gegenüber Familienmitgliedern von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern, wie Belästigung, Erpressung, Drohungen, Einvernahmen und Haft. Eine Quelle berichtete sogar von Folter. Betroffen sind vor allem Angehörige ersten Grades (DIS 1.2024). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von "high profile"-Deserteuren der Fall sein, also z. B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018; vgl. DIS 1.2024). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020; vgl. DIS 1.2024). Insbesondere die politische oder militärische Haltung gegenüber der Syrischen Regierung wirkt sich auf die Art der Behandlung der Familie des Deserteurs bzw. Wehrdienstverweigerer aus. Familien von Deserteuren sind dabei einem höheren Risiko ausgesetzt als jene von Wehrdienstverweigerern (DIS 1.2024).

Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung "ausgesöhnt" hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der "internen und externen Desertion vom Militärdienst" aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (UNHRC 7.2.2023).

"Versöhnungsabkommen" und Rückkehr von Wehrpflichtigen

Versöhnungsabkommen dienen der Regierung auch zur Rekrutierung von Wehrpflichtigen, die entweder direkt in die SAA integriert werden oder in eine der mit der Regierung zusammenarbeitenden Milizen (EUAA 10.2023). Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert (AA 2.2.2024). Deserteure bekommen eine einmonatige Frist, um zu ihrer Einheit zurückzukehren (SD 9.6.2023). Zumindest Erstere wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten (AA 2.2.2024). Als Anreiz können Wehrpflichtige im Rahmen dieser Abkommen in Dara‘a eine Reiseerlaubnis sowie einen Reisepass bekommen, um außer Landes zu reisen (SD 9.6.2023; vgl. EB 14.6.2023). Einer Quelle von EUAA zufolge ist ein "Versöhnungsprozess" auch die Voraussetzung, um sich für die immer wieder ausgesprochenen Amnestien zu qualifizieren (EUAA 10.2023). Dem Bericht der Commission of Inquiry (CoI), der Vereinten Nationen vom Augsut 2023 zufolge, waren Personen im Gouvernement Dara'a von Repressionen betroffen, obwohl sie den offiziellen "Versöhnungsprozess" durchlaufen hatten (AA 2.2.2024).

Ein Monitoring durch die Vereinten Nationen oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 2.2.2024). Einzelne Personen in Aleppo berichteten, dass sie durch die Teilnahme am "Versöhnungsprozess" einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden. Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine große Abschreckung, um zurückzukehren (ICG 9.5.2022). Auch SNHR berichtet von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren, die den Versöhnungsprozess durchlaufen haben und im Zuge dessen von den syrischen Behörden aufgrund anderer Sicherheitsbedenken einvernommen und sogar zum Tode gefoltert wurden, weil sie Verbindungen zur Opposition hatten (DIS 1.2024). Zudem sind in den "versöhnten Gebieten" Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert (FIS 14.12.2018).

In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten viele Deserteure und Überläufer, denen durch die "Versöhnungsabkommen" Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020).

Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet staatliche Übergriffe auf Rückkehrer sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt dazu bei, dass es hierbei kein klares Muster gibt (DIS 5.2022). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Glaubwürdige Berichte über Einzelschicksale legen nahe, dass auch eine zuvor ausgesprochene Garantie des Regimes, auf Vollzug der Wehrpflicht bzw. Strafverfolgung aufgrund von Wehrentzug, etwa im Rahmen sogenannter "Versöhnungsabkommen" zu verzichten, keinen effektiven Schutz vor Zwangsrekrutierung bietet (AA 2.2.2024).

Einem Experten sind hingegen keine Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut dem Experten wäre es aber "wahnsinnig", als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine "Befreiungsgebühr" bezahlt wurde, müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht eingezogen (Balanche 13.12.2021).

Zu den "Versöhnungsabkommen" siehe auch Abschnitt "Versöhnungsabkommen" im Kapitel "Sicherheitslage", zu Rückkehrern s. auch Kapitel "Rückkehr".

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2042795.html, Zugriff 19.5.2023

Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2024): Syria - Military service, https://us.dk/media/10661/coi-report_syria_military-service_jan-2024.pdf, Zugriff 30.1.2024

DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (7.2023): Syria - Military service: recruitment procedure, conscripts’ duties and military service for naturalised Ajanibs, https://www.ecoi.net/en/file/local/2094617/coi-brief-report-on-syria-military-service-2023.pdf, Zugriff 12.12.2023

DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2022): Syria - Treatment Upon Return, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072754/notat-syria-treatment-upon-return-may-2022.pdf, Zugriff 23.5.2023

DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2020): Syria – Military Service, Report based on a fact-finding mission to Istanbul and Beirut (17-25 February 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2031493/Report_Syria_Military_Service_may_2020.pdf, Zugriff 23.5.2023

EB - Enab Baladi (3.12.2023): Assad issues decree allowing exemption fees for reserve service, https://english.enabbaladi.net/archives/2023/12/assad-issues-decree-allowing-exemption-fees-for-reserve-service/, Zugriff 25.1.2024

EB - Enab Baladi (14.6.2023): New Security settlement to enhance regime grip on Daraa: acitivists, displaced, https://english.enabbaladi.net/archives/2023/06/new-security-settlement-to-enhance-regime-grip-on-daraa-activists-displaced/, Zugriff 11.12.2023

EUAA – European Union Agency for Asylum (10.2023): Syria Country Focus,

https://www.ecoi.net/en/file/local/2098437/2023_10_EUAA_COI_Report_Syria_Country_focus.pdf, Zugriff 7.12.2023

FIS – Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf, Zugriff 23.5.2023

ICG - International Crisis Group (9.5.2022): Syria: Ruling over Aleppo’s Ruins, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072598/234-syria-aleppos-ruins_0.pdf, Zugriff 23.5.2023

ICWA - Institute of Current World Affairs (24.5.2022): Syria’s young draft-dodgers migrate to Iraq, https://www.icwa.org/syria-draft-dodgers-migrate/, Zugriff 23.5.2023

Khaddour, Kheder - Gast-Wissenschaftler am Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center (24.12.2021): Interview, per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

ISPI - Italian Institute for International Political Studies (5.6.2023): Fight or Flight: The Syrian Conscription Nightmare, https://www.ispionline.it/en/publication/fight-or-flight-the-syrian-conscription-nightmare-130593, Zugriff 11.01.2024

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NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs (8.2023): Algemeen ambtsbericht Syrië,

https://open.overheid.nl/documenten/ronl-e07a04cd19e3da2dac1adebf7a36701e6aee7e7d/pdf, Zugriff 7.12.2023

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SANA - Syrian Arab News Agency (1.12.2023): الرئيس الاسد يصدر مرسوما تشريعيا بتعديل المادة 26 من قانون خدمة العلم, [Präsident al-Assad erlässt ein Gesetzesdekret zur Änderung von Artikel 26 des Wehrpflichtgesetzes], https://www.sana.sy/?p=2009474, Zugriff 25.1.2024

SD - Syria Direct (9.6.2023): Wave of new settlements amid Arab normalization efforts, https://syriadirect.org/wave-of-new-daraa-settlements-amid-arab-normalization-efforts/, Zugriff 11.12.2023

STDOK - BFA Staatendokumentation (25.10.2023): Themenbericht der Staatendokumentation; Syrien - Grenzübergänge, https://www.ecoi.net/en/file/local/2100231/2023-10-25_COI_CMS_Themenberichte_Syrien_-_Grenz%C3%BCberg%C3%A4nge%2C_Version_1-00c9.pdf, Zugriff 5.3.2024

Üngör, Uğur Ümit - Professor für Geschichte, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview, per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

UNHRC - United Nations Human Rights Council (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic*, **, https://www.ecoi.net/en/file/local/2088857/G2301021.pdf, Zugriff 23.5.2023

Nicht-staatliche bewaffnete Gruppierungen (regierungsfreundlich und regierungsfeindlich)

Letzte Änderung 2024-03-13 15:02

Manche Quellen berichten, dass die Rekrutierung durch regierungsfreundliche Milizen im Allgemeinen auf freiwilliger Basis geschieht. Personen schließen sich häufig auch aus finanziellen Gründen den National Defense Forces (NDF) oder anderen regierungstreuen Gruppierungen an (FIS 14.12.2018). Andere Quellen berichten von der Zwangsrekrutierung von Kindern im Alter von sechs Jahren durch Milizen, die für die Regierung kämpfen, wie die Hizbollah und die NDF (auch als "shabiha" bekannt) (USDOS 29.7.2022). In vielen Fällen sind bewaffnete regierungstreue Gruppen lokal organisiert, wobei Werte der Gemeinschaft wie Ehre und Verteidigung der Gemeinschaft eine zentrale Bedeutung haben. Dieser soziale Druck basiert häufig auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft (FIS 14.12.2018). Oft werden die Kämpfer mit dem Versprechen, dass sie in der Nähe ihrer lokalen Gemeinde ihren Einsatz verrichten können und nicht in Gebieten mit direkten Kampfhandlungen und damit die Wehrpflicht umgehen könnten, angeworben. In der Realität werden diese Milizen aber trotzdem an die Front geschickt, wenn die SAA Verstärkung braucht bzw. müssen die Männer oft nach erfolgtem Einsatz in einer Miliz trotzdem noch ihrer offiziellen Wehrpflicht nachkommen (EUAA 10.2023). In manchen Fällen aber führte der Einsatz bei einer Miliz tatsächlich dazu, der offiziellen Wehrpflicht zu entgehen, bzw. profitierten einige Kämpfer in regierungsnahen Milizen von den letzten Amnestien, sodass sie nach ihrem Einsatz in der Miliz nur mehr die sechsmonatige Grundausbildung absolvieren mussten um ihrer offiziellen Wehrpflicht nachzugehen, berichtet eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums (NMFA 8.2023).

Anders als die Regierung und die Syrian Democratic Forces (SDF), erlegen bewaffnete oppositionelle Gruppen wie die SNA (Syrian National Army) und HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) Zivilisten in von ihnen kontrollierten Gebieten keine Wehrdienstpflicht auf (NMFA 5.2022; vgl. DIS 12.2022). Quellen des niederländischen Außenministeriums berichten, dass es keine Zwangsrekrutierungen durch die SNA und die HTS gibt (NMFA 8.2023). In den von den beiden Gruppierungen kontrollierten Gebieten in Nordsyrien herrscht kein Mangel an Männern, die bereit sind, sich ihnen anzuschließen. Wirtschaftliche Anreize sind der Hauptgrund, den Einheiten der SNA oder HTS beizutreten. Die islamische Ideologie der HTS ist ein weiterer Anreiz für junge Männer, sich dieser Gruppe anzuschließen. Im Jahr 2022 erwähnt der Danish Immigration Service (DIS) Berichte über Zwangsrekrutierungen der beiden Gruppierungen unter bestimmten Umständen im Verlauf des Konfliktes. Während weder die SNA noch HTS institutionalisierte Rekrutierungsverfahren anwenden, weist die Rekrutierungspraxis der HTS einen höheren Organisationsgrad auf als die SNA (DIS 12.2022). Im Mai 2021 kündigte HTS an, künftig in ldlib Freiwilligenmeldungen anzuerkennen, um scheinbar Vorarbeit für den Aufbau einer "regulären Armee" zu leisten. Der Grund dieses Schrittes dürfte aber eher darin gelegen sein, dass man in weiterer Zukunft mit einer regelrechten "HTS-Wehrpflicht" in ldlib liebäugelte, damit dem "Staatsvolk" von ldlib eine "staatliche" Legitimation der Gruppierung präsentiert werden könnte (BMLV 12.10.2022). Die HTS rekrutiert auch gezielt Kinder, bildet sie religiös und militärisch aus und sendet sie an die Front (SNHR 20.11.2023).

Quellen:

BMLV – Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (12.10.2022): Antwortschreiben Version 2 (Stand 16.9.2022) [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

DIS - Danish Immigration Service (12.2022): Syria Recruitment to Opposition Groups, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084806/syria_-recruitment-to-opposition-groups_tilgaengelig.pdf, Zugriff 24.5.2023

EUAA - European Union Agency for Asylum (10.2023): Syria Country Focus,

https://www.ecoi.net/en/file/local/2098437/2023_10_EUAA_COI_Report_Syria_Country_focus.pdf, Zugriff 12.1.2024

FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf, Zugriff 23.5.2023

MEI - Middle East Institute (18.7.2019): The Lion and The Eagle: The Syrian Arab Army’s Destruction and Rebirth, https://www.mei.edu/publications/lion-and-eagle-syrian-arab-armys-destruction-and-rebirth#pt5, Zugriff 23.5.2023

NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (8.2023): General Country of Origin Information Report on Syria, https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/07/general-country-of-origin-information-report-syria-august-2023/General+Country+of+Origin+Information+Report+Syria+August+2023.pdf, Zugriff 12.1.2024

NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, Mai 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 12.5.2023

SNHR - Syrian Network for Human Rights (20.11.2023): On World Children’s Day: SNHR’s 12th Annual Report on Violations Against Children in Syria, 20. November 2023, https://reliefweb.int/attachments/16cf6f44-b40c-43b8-b4b0-03bcbe06274c/R231012E.pdf, Zugriff 17.1.2024

STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 23.5.2023

USDOS - United States Department of State [USA] (29.7.2022): 2022 Trafficking in Persons Report: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2077593.html, Zugriff 23.5.2023

Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien

Letzte Änderung 2024-03-27 11:04

Anm.: Rekrutierungspraktiken durch die PKK oder die Revolutionäre Jugend, einem mutmaßlichen Teil der PKK, die nicht unter die "Selbstverteidigungspflicht" fallen, werden hier nicht thematisiert. Informationen zu diesem Thema können u. a. dem Bericht "Syria - Military recruitment in Hasakah Governorate" des Danish Immigration Service (DIS) vom Juni 2022 entnommen werden.

Wehrpflichtgesetz der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien"

Auch aus den nicht vom Regime kontrollierten Gebieten Syriens gibt es Berichte über Zwangsrekrutierungen. Im Nordosten des Landes hat die von der kurdischen Partei PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat, Partei der Demokratischen Union] dominierte "Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria, AANES] 2014 ein Wehrpflichtgesetz verabschiedet, welches vorsah, dass jede Familie einen "Freiwilligen" im Alter zwischen 18 und 40 Jahren stellen muss, der für den Zeitraum von sechs Monaten bis zu einem Jahr in den YPG [Yekîneyên Parastina Gel, Volksverteidigungseinheiten] dient (AA 2.2.2024). Im Juni 2019 ratifizierte die AANES ein Gesetz zur "Selbstverteidigungspflicht", das den verpflichtenden Militärdienst regelt, den Männer über 18 Jahren im Gebiet der AANES ableisten müssen (EB 15.8.2022; vgl. DIS 6.2022). Am 4.9.2021 wurde das Dekret Nr. 3 erlassen, welches die Selbstverteidigungspflicht auf Männer beschränkt, die 1998 oder später geboren wurden und ihr 18. Lebensjahr erreicht haben. Gleichzeitig wurden die Jahrgänge 1990 bis 1997 von der Selbstverteidigungspflicht befreit (ANHA, 4.9.2021). Der Altersrahmen für den Einzug zum Wehrdienst ist nun in allen betreffenden Gebieten derselbe, während er zuvor je nach Gebiet variierte. So kam es in der Vergangenheit zu Verwirrung, wer wehrpflichtig war (DIS 6.2022). Mit Stand September 2023 war das Dekret noch immer in Kraft (ACCORD 7.9.2023).

Die Wehrpflicht gilt in allen Gebieten unter der Kontrolle der AANES, auch wenn es Gebiete gibt, in denen die Wehrpflicht nach Protesten zeitweise ausgesetzt wurde [Anm.: Siehe weiter unten]. Es ist unklar, ob die Wehrpflicht auch für Personen aus Afrin gilt, das sich nicht mehr unter der Kontrolle der "Selbstverwaltung" befindet. Vom Danish Immigration Service (DIS) befragte Quellen machten hierzu unterschiedliche Angaben. Die Wehrpflicht gilt nicht für Personen, die in anderen Gebieten als den AANES wohnen oder aus diesen stammen. Sollten diese Personen jedoch seit mehr als fünf Jahren in den AANES wohnen, würde das Gesetz auch für sie gelten. Wenn jemand in seinem Ausweis als aus Hasakah stammend eingetragen ist, aber sein ganzes Leben lang z.B. in Damaskus gelebt hat, würde er von der "Selbsverwaltung" als aus den AANES stammend betrachtet werden und er müsste die "Selbstverteidigungspflicht" erfüllen. Alle ethnischen Gruppen und auch staatenlose Kurden (Ajanib und Maktoumin) sind zum Wehrdienst verpflichtet. Araber wurden ursprünglich nicht zur "Selbstverteidigungspflicht" eingezogen, dies hat sich allerdings seit 2020 nach und nach geändert (DIS 6.2022; vgl. NMFA 8.2023).

Ursprünglich betrug die Länge des Wehrdiensts sechs Monate, sie wurde aber im Jänner 2016 auf neun Monate verlängert (DIS 6.2022). Artikel zwei des Gesetzes über die "Selbstverteidigungspflicht" vom Juni 2019 sieht eine Dauer von zwölf Monaten vor (RIC 10.6.2020). Aktuell beträgt die Dauer ein Jahr und im Allgemeinen werden die Männer nach einem Jahr aus dem Dienst entlassen. In Situationen höherer Gewalt kann die Dauer des Wehrdiensts verlängert werden, was je nach Gebiet entschieden wird. Beispielsweise wurde der Wehrdienst 2018 aufgrund der Lage in Baghouz um einen Monat verlängert. In Afrin wurde der Wehrdienst zu drei Gelegenheiten in den Jahren 2016 und 2017 um je zwei Monate ausgeweitet. Die Vertretung der "Selbstverwaltung" gab ebenfalls an, dass der Wehrdienst in manchen Fällen um einige Monate verlängert wurde. Wehrdienstverweigerer können zudem mit der Ableistung eines zusätzlichen Wehrdienstmonats bestraft werden (DIS 6.2022).

Nach dem abgeleisteten Wehrdienst gehören die Absolventen zur Reserve und können im Fall "höherer Gewalt" einberufen werden. Diese Entscheidung trifft der Militärrat des jeweiligen Gebiets. Derartige Einberufungen waren den vom DIS befragten Quellen nicht bekannt (DIS 6.2022).

Einsatzgebiet von Wehrpflichtigen

Die Selbstverteidigungseinheiten [Hêzên Xweparastinê, HXP] sind eine von den SDF separate Streitkraft, die vom Demokratischen Rat Syriens (Syrian Democratic Council, SDC) verwaltet wird und über eigene Militärkommandanten verfügt. Die SDF weisen den HXP allerdings Aufgaben zu und bestimmen, wo diese eingesetzt werden sollen. Die HXP gelten als Hilfseinheit der SDF. In den HXP dienen Wehrpflichtige wie auch Freiwillige, wobei die Wehrpflichtigen ein symbolisches Gehalt erhalten. Die Rekrutierung von Männern und Frauen in die SDF erfolgt dagegen freiwillig (DIS 6.2022).

Die Einsätze der Rekruten im Rahmen der "Selbsverteidigungspflicht" erfolgen normalerweise in Bereichen wie Nachschub oder Objektschutz (z.B. Bewachung von Gefängnissen wie auch jenes in al-Hasakah, wo es im Jänner 2022 zu dem Befreiungsversuch des sogenannten Islamischen Staats (IS) mit Kampfhandlungen kam). Eine Versetzung an die Front erfolgt fallweise auf eigenen Wunsch, ansonsten werden die Rekruten bei Konfliktbedarf an die Front verlegt, wie z. B. bei den Kämpfen gegen den IS 2016 und 2017 in Raqqa (DIS 6.2022).

Rekrutierungspraxis

Die Aufrufe für die "Selbstverteidigungspflicht" erfolgen jährlich durch die Medien, wo verkündet wird, welche Altersgruppe von Männern eingezogen wird. Es gibt keine individuellen Verständigungen an die Wehrpflichtigen an ihrem Wohnsitz. Die Wehrpflichtigen erhalten dann beim "Büro für Selbstverteidigungspflicht" ein Buch, in welchem ihr Status bezüglich Ableistung des Wehrdiensts dokumentiert wird - z. B. die erfolgte Ableistung oder Ausnahme von der Ableistung. Es ist das einzige Dokument, das im Zusammenhang mit der Selbstverteidigungspflicht ausgestellt wird (DIS 6.2022). Das Wehrpflichtgesetz von 2014 wird laut verschiedenen Menschenrechtsorganisationen mit Gewalt durchgesetzt. Berichten zufolge kommt es auch zu Zwangsrekrutierungen von Jungen und Mädchen (AA 2.2.2024).

Wehrdienstverweigerung und Desertion

Es kommt zu Überprüfungen von möglichen Wehrpflichtigen an Checkpoints und auch zu Ausforschungen (ÖB Damaskus 12.2022). Die Selbstverwaltung informiert einen sich dem Wehrdienst Entziehenden zweimal bezüglich der Einberufungspflicht durch ein Schreiben an seinen Wohnsitz, und wenn er sich nicht zur Ableistung einfindet, sucht ihn die "Militärpolizei" unter seiner Adresse. Die meisten sich der "Wehrpflicht" entziehenden Männer werden jedoch an Checkpoints ausfindig gemacht (DIS 6.2022).

Die Sanktionen für die Wehrdienstverweigerung ähneln denen im von der Regierung kontrollierten Teil (ÖB Damaskus 12.2022). Laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen wird das "Selbstverteidigungspflichtgesetz" auch mit Gewalt durchgesetzt (AA 2.2.2024), während der DIS nur davon berichtet, dass Wehrpflichtige, welche versuchen, dem Militärdienst zu entgehen, laut Gesetz durch die Verlängerung der "Wehrpflicht" um einen Monat bestraft würden - zwei Quellen zufolge auch in Verbindung mit vorhergehender Haft "für eine Zeitspanne". Dabei soll es sich oft um ein bis zwei Wochen handeln, um einen Einsatzort für die Betreffenden zu finden (DIS 6.2022). Ähnliches berichteten ein von ACCORD befragter Experte, demzufolge alle Wehrdienstverweigerer nach dem Gesetz der Selbstverteidigungspflicht gleich behandelt würden. Die kurdischen Sicherheitsbehörden namens Assayish würden den Wohnort der für die Wehrpflicht gesuchten Personen durchsuchen, an Checkpoints Rekrutierungslisten überprüfen und die Gesuchten verhaften. Nach dem Gesetz werde jede Person, die dem Dienst fernbleibe, verhaftet und mit einer Verlängerung des Dienstes um einen Monat bestraft (ACCORD 6.9.2023). Die ÖB Damaskus erwähnt auch Haftstrafen zusätzlich zur [Anm.: nicht näher spezifizierten] Verlängerung des Wehrdiensts. Hingegen dürften die Autonomiebehörden eine Verweigerung nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen (ÖB Damaskus 12.2022). Einem von ACCORD befragten Syrienexperten zufolge hängen die Konsequenzen für die Wehrdienstverweigerung vom Profil des Wehrpflichtigen ab sowie von der Region, aus der er stammt. In al-Hasakah beispielsweise könnten Personen im wehrpflichtigen Alter zwangsrekrutiert und zum Dienst gezwungen werden. Insbesondere bei der Handhabung des Gesetzes zur Selbstverteidigungspflicht gegenüber Arabern in der AANES gehen die Meinungen der Experten auseinander. Grundsätzlich gilt die Pflicht für Araber gleichermaßen, aber einem Experten zufolge könne die Behandlung je nach Region und Zugriffsmöglichkeit der SDF variieren und wäre aufgrund der starken Stammespositionen oft weniger harsch als gegenüber Kurden. Ein anderer Experte wiederum berichtet von Beleidigungen und Gewalt gegenüber arabischen Wehrdienstverweigerern (ACCORD 6.9.2023).

Bei Deserteuren hängen die Konsequenzen abseits von einer Zurücksendung zur Einheit und einer eventuellen Haft von ein bis zwei Monaten von den näheren Umständen und eventuellem Schaden ab. Dann könnte es zu einem Prozess vor einem Kriegsgericht kommen (DIS 6.2022).

Eine Möglichkeit zur Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen besteht nicht (DIS 6.2022; vgl. EB 12.7.2019).

Aufschub des Wehrdienstes

Das Gesetz enthält Bestimmungen, die es Personen, die zur Ableistung der "Selbstverteidigungspflicht" verpflichtet sind, ermöglichen, ihren Dienst aufzuschieben oder von der Pflicht zu befreien, je nach den individuellen Umständen. Manche Ausnahmen vom "Wehrdienst" sind temporär und kostenpflichtig. Frühere Befreiungen für Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs und von NGOs sowie von Lehrern gelten nicht mehr (DIS 6.2022). Es wurden auch mehrere Fälle von willkürlichen Verhaftungen zum Zwecke der Rekrutierung dokumentiert, obwohl die Wehrpflicht aufgrund der Ausbildung aufgeschoben wurde oder einige Jugendliche aus medizinischen oder anderen Gründen vom Wehrdienst befreit wurden (EB 12.7.2019). Im Ausland (Ausnahme: Türkei und Irak) lebende, unter die "Selbstverteidigungspflicht" fallende Männer können gegen eine Befreiungsgebühr für kurzfristige Besuche zurückkehren, ohne den "Wehrdienst" antreten zu müssen, wobei zusätzliche Bedingungen eine Rolle spielen, ob dies möglich ist (DIS 6.2022).

Proteste gegen die "Selbstverteidigungspflicht"

Im Jahr 2021 hat die Wehrpflicht besonders in den östlichen ländlichen Gouvernements Deir ez-Zour und Raqqa Proteste ausgelöst. Lehrer haben sich besonders gegen die Einberufungskampagnen der SDF gewehrt. Proteste im Mai 2021 richteten sich außerdem gegen die unzureichende Bereitstellung von Dienstleistungen und die Korruption oder Unfähigkeit der autonomen Verwaltungseinheiten. Sechs bis acht Menschen wurden am 1.6.2021 in Manbij (Menbij) bei einem Protest getötet, dessen Auslöser eine Reihe von Razzien der SDF auf der Suche nach wehrpflichtigen Männern war. Am 2.6.2021 einigten sich die SDF, der Militärrat von Manbij und der Zivilrat von Manbij mit Stammesvertretern und lokalen Persönlichkeiten auf eine deeskalierende Vereinbarung, die vorsieht, die Rekrutierungskampagne einzustellen, während der Proteste festgenommene Personen freizulassen und eine Untersuchungskommission zu bilden, um diejenigen, die auf Demonstranten geschossen hatten, zur Rechenschaft zu ziehen (COAR 7.6.2021). Diese Einigung resultierte nach einer Rekrutierungspause in der Herabsetzung des Alterskriteriums auf 18 bis 24 Jahre, was später auf die anderen Gebiete ausgeweitet wurde (DIS 6.2022). Im Sommer 2023 kam es in Manbij zu Protesten gegen die SDF insbesondere aufgrund von Kampagnen zur Zwangsrekrutierung junger Männer in der Stadt und Umgebung (SO 20.7.2023).

Militärdienst von Frauen

Frauen können freiwilligen Militärdienst in den kurdischen Einheiten [YPJ - Frauenverteidigungseinheiten] (AA 2.2.2024; vgl. DIS 6.2022) oder in den Selbstverteidigungseinheiten (HXP) leisten (DIS 6.2022). Es gibt Berichte von Zwangsrekrutierungen von Frauen (AA 2.2.2024; vgl. SNHR 26.1.2021) und minderjährigen Mädchen (Savelsberg 3.11.2017; vgl. HRW 11.10.2019; vgl. SNHR, 25.11.2023).

Anm.: Siehe Kapitel "Rekrutierung von Minderjährigen durch verschiedene Organisationen" für Informationen zur Rekrutierung von Minderjährigen durch Einheiten im Gebiet der AANES.

Rekrutierung für den nationalen syrischen Wehrdienst

Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der Selbstverwaltung befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien (DIS 6.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z. B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o.ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).

Laut mehreren von ACCORD für eine Anfragebeantwortung interviewten Experten gibt es de facto keine Möglichkeit des syrischen Regimes, in den von den SDF kontrollierten Gebieten zu rekrutieren, obwohl es teilweise Patrouillen des syrischen Regimes in der AANES gibt. Lediglich in jenen Gebieten, die von den Regierungstruppen kontrolliert werden, können die Personen auch rekrutiert werden (ACCORD 24.8.2023). Ebenso gibt der Syrienexperte van Wilgenburg an, dass die Kontrollpunkte der syrischen Armee nicht die Befugnis haben, Menschen in den Städten zu kontrollieren, sondern der Abschreckung der Türkei dienen (van Wilgenburg 2.9.2023). Dem widerspricht SNHR, das ebenfalls von ACCORD befragt wurde mit der Angabe, dass das syrische Regime an Checkpoints und Kontrollpunkten sehr wohl auf vom Regime gesuchte Wehrpflichtige zugreifen könnte und würde und diese in die von der Regierung kontrollierten Gebiete eskortieren würde (ACCORD 24.8.2023).

Anm.: Siehe Abschnitt "Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle" im Kapitel "Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst" für Informationen zur Rekrutierungspraxis der Syrian Arab Army (SAA) in Nordostsyrien.

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024

ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (7.9.2023): Anfragebeantwortung zu Syrien: Aktualität von Dekret Nr. 3 vom 4. September 2021 bezüglich Selbstverteidigungsdienst in der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES); Anwendung des Dekrets in der Stadt Manbidsch; Einberufung älterer Männer zum Selbstverteidigungsdienst; Höchstalter, bis zu dem Wehrdienstverweigerer eingezogen werden können [a-12201-2], https://www.ecoi.net/de/dokument/2097228.html, Zugriff 17.1.2024

ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (6.9.2023): Anfragebeantwortung zu Syrien: Konsequenzen bei Verweigerung des Dienstes in den Selbstverteidigungskräften; Konsequenzen für Angehörige; Wahrnehmung von Personen, die den Dienst in den Selbstverteidigungskräften verweigern; Situation von Arabern; Einsatz von Rekruten im Rahmen der Selbstverteidigungspflicht an der Front [a-12188-v2], https://www.ecoi.net/de/dokument/2096372.html, Zugriff 17.1.2024

ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (24.8.2023): Anfragebeantwortung zu Syrien: Möglichkeit der syrischen Behörden, in den kurdisch kontrollierten Gebieten, in denen die Regierung Präsenz hat (Manbij, Ain Al-Arab, Tal Rifaat, Landstreifen entlang der türkischen Grenze) Personen für den Reservedienst einzuziehen; Personenkontrollen in diesen Gebieten, die einen Aufgriff von Regierungskritiker·innen ermöglichen [a-12197], https://www.ecoi.net/de/dokument/2096377.html, Zugriff 17.1.2023

ANHA - Hawar News Agency (4.9.2021): مكتب الدفاع يصدر قرارًا بشأن المواليد المطلوبة لواجب الدفاع الذاتي, [Verteidigungsamt erlässt Bescheid über Geburtsjahrgänge, die zur Selbstverteidung verpflichtet sind], https://hawarnews.com/ar/163074990055125, Zugriff 27.3.2024

COAR - Center for Operational Analysis and Research (7.6.2021): Deadly SDF Crackdown as Conscription Sparks Menbij Unrest, https://coar-global.org/2021/06/07/deadly-sdf-crackdown-as-conscription-sparks-menbij-unrest/, Zugriff 24.5.2023

DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (6.2022): Syria: Military recruitment in Hasakah Governorate, https://www.ecoi.net/en/file/local/2075255/syria_fmm_rappport_military_recruitment_hasakah_governorate_june2022.pdf, Zugriff 24.5.2023

EB - Enab Baladi (15.8.2022): Northeastern Syria students are target of double recruitment campaigns, https://english.enabbaladi.net/archives/2022/08/northeastern-syria-students-are-target-of-double-recruitment-campaigns/, Zugriff 24.5.2023

EB - Enab Baladi (12.7.2019): Compulsory military recruitment in Jazira Region: SDF imposing their authority, https://english.enabbaladi.net/archives/2019/07/compulsory-military-recruitment-in-jazira-region-sdf-imposing-their-authority/#, Zugriff 24.5.2023

HRW - Human Rights Watch (11.10.2019): Turkey/Syria: Civilians at Risk in Syria Operation, https://www.hrw.org/news/2019/10/11/turkey/syria-civilians-risk-syria-operation, Zugriff 24.5.2023

NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (8.2023): Country of Origin Information Report on Syria, https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/07/general-country-of-origin-information-report-syria-august-2023/General+Country+of+Origin+Information+Report+Syria+August+2023.pdf, Zugriff 19.1.2024

ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2022, Antwortschreiben per E-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

RIC - Rojava Information Center (10.6.2020): Translation: Law concerning military service in North and East Syria, https://rojavainformationcenter.com/2020/06/translation-law-concerning-military-service-in-north-and-east-syria/, Zugriff 24.5.2023

Savelsberg, Eva [Vorsitzende des Europäischen Zentrum für Kurdische Studien] (3.11.2017): Informationen per E-Mail

SNHR - Syrian Network for Human Rights (25.11.2023): On the International Day for the Elimination of Violence against Women: SNHR’s 12th Annual Report on Violations against Females in Syria, https://reliefweb.int/attachments/5b0bcdd0-a5b2-4177-a713-ecdc97ec53cd/R231106E.pdf, Zugriff 22.1.2024

SNHR - Syrian Network for Human Rights (26.1.2021): The Bleeding Decade - Tenth Annual Report: The Most Notable Human Rights Violations in Syria in 2020, https://sn4hr.org/wp-content/pdf/english/Tenth_Annual_Report_The_Most_Notable_Human_Rights_Violations_in_Syria_in_2020_en.pdf, Zugriff 24.5.2023

SO - The Syrian Observer (20.7.2023): General Strike in Manbij Against Forced Conscription and SDF Violations, https://syrianobserver.com/news/84080/general-strike-in-manbij-against-forced-conscription-and-sdf-violations.html, Zugriff 19.1.2024

van Wilgenburg - van Wilgenburg, Wladimir (2.9.2023): Antwortschreiben per E-Mail

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung 2024-03-12 16:09

Neben der Gefährdung durch militärische Entwicklungen, Landminen und explosive Munitionsreste, welche immer wieder zivile Opfer fordern, bleibt auch die allgemeine Menschenrechtslage in Syrien äußerst besorgniserregend (AA 2.2.2024).Von allen Akteuren agiert das Regime am meisten mit gewaltsamer Repression und die PYD am wenigsten - autoritär sind alle Machthaber nach Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung (BS 23.2.2022). Die im August 2011 vom UN-Menschenrechtsrat eingerichtete internationale unabhängige Untersuchungskommission zur Menschenrechtslage in Syrien (Commission of Inquiry, CoI) benennt in ihrem am 13.9.2023 veröffentlichten Bericht (Berichtszeitraum Januar bis Juni 2023) zum wiederholten Male teils schwerste Menschenrechtsverletzungen, identifiziert Trends und belegt diese durch die Dokumentation von Einzelfällen. Nach Einschätzung der CoI dürfte es im Berichtszeitraum in Syrien weiterhin zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekommen sein. Dazu gehörten u. a. gezielte und wahllose Angriffe auf Zivilisten und zivile Ziele (z. B. durch Artilleriebeschuss und Luftschläge) sowie Folter. Darüber hinaus seien willkürliche und ungesetzliche Inhaftierungen, „Verschwindenlassen“, sexualisierte Gewalt sowie willkürliche Eingriffe in die Eigentumsrechte, unter anderem von Geflüchteten, dokumentiert. Obwohl die UN-Kommission die Verantwortung in absoluten Zahlen betrachtet für die große Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen bei Kräften der syrischen Regierung und ihrer Verbündeten sieht, wurden erneut für alle Konfliktparteien und alle Regionen des Landes Menschenrechtsverstöße dokumentiert (AA 2.2.2024).

Regierungsgebiete

Die CoI geht davon, dass die syrische Regierung weiterhin Morde, Folter und Misshandlungen begeht, die sich gegen Personen in Haft richten, darunter auch Praktiken, welche zum Tod in der Haft führen. Hinzukommen willkürliche Haft und Verschwindenlassen. Die UN-Kommission sieht hierin ein Muster von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Im Berichtszeitraum wurden auch Fälle umfassender Verletzungen von Prozessrechten und des Rechts auf ein faires Verfahren im syrischen Justizstrafsystem dokumentiert (UNCOI 7.2.2023). Nach Einschätzung der UN-Kommission liegt die Verantwortung für die - in absoluten Zahlen betrachtet - große Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen bei Kräften des syrischen Regimes und seinen Verbündeten. Darüber hinaus verweist die CoI auf massive Behinderungen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben, sowohl durch die Verweigerung des Zugangs nach Syrien als auch durch erhebliche Sicherheitsbedenken für die zu Befragenden. In ihrem Bericht von September 2022 vermerkte die CoI eine Verschärfung des staatlichen Vorgehens gegen die Zivilgesellschaft. Herauszuheben sind ein im April 2022 verabschiedetes Gesetz gegen Cyberkriminalität, welches für regierungs- und verfassungskritische Äußerungen im Internet Haftstrafen von sieben bis 15 Jahren vorsieht und welches laut dem jüngsten Bericht der CoI vom August 2023 weiter zur Anwendung kommt (AA 2.2.2024). Mit dem Regime verbündete paramilitärische Gruppen begehen Berichten zufolge häufig Menschenrechtsverletzungen, darunter Massaker, willkürliches Töten, Entführungen von Zivilisten, sexuelle Gewalt und ungesetzliche Haft. Alliierte Milizen des Regimes, darunter die Hizbollah, führen etwa zahlreiche Angriffe aus, die Zivilisten töten (USDOS 20.3.2023).

Personen, welche glaubwürdig in Gewaltverbrechen involviert sind, Organisationen innerhalb oder verbunden mit der syrischen Regierung sowie auch der sogenannte Islamische Staat unterliegen weiterhin Sanktionen durch die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und Großbritannien (HRW 11.1.2024). Die syrische Regierung nutzt die Erdbebenkatastrophe unterdessen, um für ein Ende westlicher Sanktionen zu werben (BAMF 13.2.2023). Die umfassenden Sanktionen gegen Syriens Machthaber, Unternehmer und Institutionen haben bislang nicht dazu geführt, dass Verhaltensänderungen eingetreten, politische Zugeständnisse erfolgt oder Menschenrechtsverletzungen abgestellt worden wären (SWP 4.2020). [Zu den Aus- und Nebenwirkungen der breiter gefassten Sanktionen auf die syrische Wirtschaft siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft].

Die Verfassung bestimmt die Ba'ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden wie den Arbeiter- und Frauenorganisationen hat. Die Ba'ath-Partei und neun kleinere Parteien in ihrem Gefolge bilden die Koalition der Nationalprogressiven Front, welche den Volksrat (das Parlament) dominiert. Die Wahlen 2020 wurden international nicht anerkannt und inmitten einer repressiven Ausgangslage und von Anschuldigungen von Wahlbetrug weder als fair noch frei eingestuft. Das Gesetz erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien - auch jenen, die mit der Ba'ath-Partei in der Nationalprogressiven Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Die Polizei verhaftete Mitglieder der verbotenen islamistischen Parteien einschließlich der Hizb ut-Tahrir und der syrischen Muslimbruderschaft (USDOS 20.3.2023). - Siehe auch Kapitel Politische Lage und zur Muslimbruderschaft siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen).

Die systematische Verfolgung von Oppositionsgruppen und anderen regimekritischen/-feindlichen Akteuren dauert unverändert an. Der Einsatz für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes und die Neuordnung Syriens nach demokratischen, pluralistischen und rechtsstaatlichen Prinzipien werden vom Regime regelmäßig als „terroristische Aktivitäten“, „Verschwörung gegen den Staat“, „Hochverrat“ oder ähnlich gravierende Verbrechen behandelt und entsprechend geahndet. In der Anwendungspraxis der regimekontrollierten syrischen Justiz reicht der Verdacht hierauf aus, um willkürlich vor Militärgerichtshöfen oder gesonderten Gerichtshöfen der Anti-Terror-Gesetzgebung von 2012 verfolgt zu werden, in denen im Grunde keinerlei Rahmenbedingungen eines fairen Rechtsverfahrens bestehen. Die Anti-Terror-Gesetze werden unverändert auch dazu missbraucht, gegen in Syrien und im Ausland lebende Regimegegner und -gegnerinnen ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und auch in Abwesenheit höchste Strafen zu verhängen (AA 2.2.2024). Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet, um Personen mit Verbindungen zu lokalen Menschenrechtsorganisationen, pro-demokratischen Studentenvereinigungen und anderer Organisationen zu verhaften, welche als Unterstützer der Opposition wahrgenommen werden - einschließlich humanitärer Organisationen (USDOS 20.3.2023). Gemäß dem Bericht der CoI von September 2022 sollen Mitarbeitende von zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen (NRO) verhaftet, die NROs selbst streng reguliert oder ohne ordentliches Verfahren aufgelöst und ihre Ressourcen eingefroren worden sein. Es bleibt dabei, dass sich die Risiken politischer Oppositionstätigkeit nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung beschränken. Die seit Beginn des Konflikts dokumentierten zahllosen Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, sexualisierter Gewalt, Folter und Tötung im Gewahrsam der Sicherheitskräfte sowie Mordanschlägen, stehen immer wieder in offensichtlichen Zusammenhängen zu regimekritischen Tätigkeiten der Betroffenen. Gewaltsame Unterdrückung jeglichen Widerspruchs bleibt das Mittel der Wahl für den Machterhalt des Regimes (AA 2.2.2024).

Weiterhin besteht laut deutschem Auswärtigem Amt in keinem Teil des Landes ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert (AA 2.2.2024). Im Rahmen der systematischen Gewalt, die von allen bewaffneten Akteuren gegenüber der Zivilbevölkerung angewandt wurde, wurden insbesondere Frauen Opfer sexueller Gewalt. Regierungstruppen und der Regierung zurechenbare Milizkräfte übten bei Hausdurchsuchungen, im Rahmen von Internierungen sowie im Rahmen von Kontrollen an Checkpoints Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt an Frauen und teilweise auch Männern aus (ÖB Damaskus 1.10.2021).

Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren, oder als regimekritisch wahrgenommen werden, unterliegen einem besonders hohen Folterrisiko. Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 2.2.2024). Außerdem sind Fälle von verhafteten Personen wegen ihres Kontakts zu Verwandten oder Freunden in von der Opposition kontrollierten Gebieten bekannt, bzw. wegen des Reisens zwischen den Gebieten der Regierung und anderer Organisationen. Es gibt auch Beispiele für Verhaftungen zwecks Rekrutierung (SNHR 17.1.2023).

Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konflikts, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 1.2019). Ungeachtet des in der syrischen Verfassung verankerten Verbots von Folter wenden Polizei, Justizvollzugsorgane und vor allem Sicherheits- und Geheimdienste systematisch Folterpraktiken an. Der bei Weitem größte Teil dokumentierter Anwendung von Folter wurde in Einrichtungen des Regimes begangen. Besonders hoch ist dabei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung, inklusive sexualisierter Gewalt, in den Verhöreinrichtungen der Sicherheitsdienste. Die CoI und das SNHR dokumentierten indes Fälle von Folter für den gesamten Konfliktzeitraum einschließlich des Berichtszeitraums auch durch oppositionelle bewaffnete Gruppierungen und terroristische Organisationen. Laut dem jüngsten Bericht von SNHR zu Folter von Juni 2022 und daran anschließenden Erhebungen sind seit Beginn des Konflikts mindestens 15.301 Menschen unter Folter zu Tode gekommen (AA 2.2.2024).

Syrische Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen nehmen weiterhin willkürlich Menschen im ganzen Land fest, lassen sie verschwinden und misshandeln sie (HRW 11.1.2024). Willkürliche Verhaftungen mit häufig daran anschließender Isolationshaft und sogenanntes „Verschwindenlassen“ von Personen bleiben im Syrienkonflikt ein allgegenwärtiges Phänomen. Ungefähr 87 Prozent dieser Fälle werden dem syrischen Regime zugeschrieben. Bei den Fällen von „Verschwindenlassen“, deren Zahl seit Beginn des Konflikts auf über 110.000 geschätzt wird, handelt es sich um Personen, deren Spuren sich bereits vor einer - nie erfolgten - offiziellen Bestätigung der Inhaftierung verliert. In aller Regel erhalten Angehörige jedoch nur in Ausnahmefällen Gewissheit, häufig erst nach Entlassung aus der Haft oder durch plötzlich erteilte Todesmeldungen, die jedoch nicht in jedem Fall belastbar sind. Wiederholt kam es nach Angaben verschiedener Menschenrechtsorganisationen zu Fällen, in denen für tot erklärte Personen aus der Haft entlassen wurden (AA 2.2.2024). Willkürliche Verhaftungen blieben eine gezielte Vergeltungsmaßnahme u. a. für Kritik am Regime. Dieses macht in diesen Fällen wie auch bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig Gebrauch von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) (AA 29.11.2021). Die Anti-Terror-Gesetze werden unverändert auch dazu verwendet, gegen in Syrien und im Ausland lebende Regimegegner und -gegnerinnen ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und auch in Abwesenheit höchste Strafen zu verhängen (AA 2.2.2024). Auch die genannten Amnestiedekrete führten nicht zu einem Rückgang willkürlicher Verhaftungen. Für die erste Jahreshälfte 2023 dokumentierte das SNHR bereits 1.047 solche Fälle. Einige dieser Verhaftungen seien durch Regimekräfte an der syrisch-libanesischen Grenze erfolgt, nachdem die Betroffenen durch libanesische Sicherheitskräfte dorthin verbracht worden waren. Willkürliche Verhaftungen gehen dabei von einer Vielzahl von Akteuren aus, insbesondere der Polizei, einer Vielzahl von konkurrierenden Geheimdiensten sowie von staatlich organisierten Milizen. Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt auch, dass es auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung zu Verhaftungen kommen kann. Häufiger werden die Festgenommenen in Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, oft in den Raum Damaskus, zu denen Familienangehörige und Anwälte in der Regel keinen oder nur eingeschränkten Zugang haben. In vielen Fällen bleiben die Personen auch nach Ablauf der verhängten Strafmaße verschwunden. Unterrichtungen über den Tod in Haft erfolgen häufig nicht oder nur gegen Zahlung von Bestechungsgeldern, eine Untersuchung der tatsächlichen Todesumstände erfolgt in aller Regel nicht. Die VN und das Rote Kreuz haben unverändert keinen Zugang zu Gefangenen in Haftanstalten des Militärs und der Sicherheitsdienste und erhalten keine Informationen zum Verbleib von Verschwundenen (AA 2.2.2024).

Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind unter anderem willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Tötungen von Zivilisten und sexuelle Gewalt; Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, einschließlich Zensur (USDOS 20.3.2023). Es kommt auch weiterhin zu Beschlagnahmungen von Eigentum und Einschränkungen des Zugangs für Rückkehrende in ihre Herkunftsgebiete (HRW 11.1.2024).

Für das Jahr 2021 (USDOS 12.4.2022) und 2022 lagen keine bestätigten Berichte über den Einsatz von verbotenen Chemiewaffen vor, wobei Syrien weiterhin über reichlich Chemiewaffen sowie über das Knowhow zu deren Produktion und Einsatz verfügt (USDOS 20.3.2023). Die Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) kam zum Schluss, dass stichhaltige Gründe vorliegen, dass das Regime z. B. im Jahr 2018 in Saraqib einen Angriff mit chemischen Waffen durchführte und ebenso in drei Fällen in Ltamenah im Jahr 2017, kurz vor dem tödlicheren Einsatz von Sarin in Khan Shaykhun (USDOS 12.4.2022).

Das Regime übt weiterhin strikte Kontrolle über die Verbreitung von Informationen, auch über die Entwicklung der Kämpfe zwischen dem Regime und der bewaffneten Opposition und die Verbreitung des COVID-19-Virus und der Cholera sowie über Menschenrechtsverletzungen seitens des Regimes aus. Es verbietet die Kritik am Regime und die Diskussion über konfessionelle Spannungen und Probleme, mit denen religiöse und ethnische Minderheiten konfrontiert sind. Kritik wird auch durch den breiten Einsatz von Gesetzen gegen Konfessionalismus erstickt (USDOS 20.3.2023).

Im April 2022 aktualisierte das syrische Regime sein Cyberkriminalität-Gesetz, Gesetz Nr. 20 (2022), welches nun alle online getätigten Äußerungen unter schwere Strafen stellt, die verschiedene vage Strafbestände wie z. B. die Untergrabung 'des Ansehens des Staates' oder 'der nationalen Einheit' betreffen (FH 9.3.2023). Es bleibt zwar vage, welche Tatbestände genau unter das Gesetz fallen, doch die möglichen Strafen wurden drastisch erhöht: Nach Angaben der staatlich-syrischen Nachrichtenagentur Sana können Gefängnisstrafen von bis zu 15 Jahren oder Geldstrafen von bis zu 15 Millionen syrischen Pfund verhängt werden. Menschenrechtsgruppen vermuten, dass der einzige Zweck dieses Gesetzes darin besteht, abweichende Meinungen zu verbieten (Qantara 28.6.2022). Die syrischen Behörden überwachen Online-Aussagen z. B. in Blogs und sozialen Medien sowohl von SyrerInnen im Land als auch außerhalb Syriens. Das Ausmaß der Überwachung der 'normalen BürgerInnen' soll im Jahr 2021 im Vergleich zu Beginn der Krise abgenommen haben, weil die Behörden sich aufgrund ihres (wiedererlangten) Einflusses weniger vor deren Aussagen fürchten. Kritik im Internet über die Wirtschaftskrise verbreitete sich so (NMFA 5.2022) - besonders auch in eigentlich loyalen Kreisen (FH 9.3.2023). Aber dies kann später trotzdem für die Betreffenden zum Problem werden. Gefangene werden teilweise nach ihren Konten in den Sozialen Medien befragt oder sogar zur Erlangung der Zugangsdaten gefoltert (NMFA 5.2022). Die Bestrafung abweichender Aussagen ist auch bei variierendem Einsatz des Überwachungsinstrumentariums hart (FH 9.3.2023).

Die Regierung weitete im Jahr 2022 die Manipulation von Internet-Diensten und -Inhalten wie auch Textnachrichten aus, einschließlich Falschnachrichten zur Unterminierung der Glaubwürdigkeit von Menschenrechtsgruppen und anderen humanitären Organisationen. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke z. B. von E-Mails und Sozialen Medien von Gefangenen, AktivistInnen und anderen ein. Die Syrian Electronic Army (SEA) ist eine regimetreue Hackergruppe, die regelmäßig Cyberattacken auf Websites, Hackangriffe und Überwachungen ausführt. Sie, weitere Gruppen und das Regime schleusen auch Software zum Ausspionieren und andere Schadsoftware auf Geräte von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionsmitgliedern und Journalisten ein. Verhaftungen schüren die Sorge, dass die Behörden InternetbenutzerInnen jederzeit für Online-Aktivitäten, die als Bedrohung der Regimekontrolle wahrgenommen werden, verhaften könnten (USDOS 20.3.2023). Meta, der Firma zu der Facebook und WhatsApp gehören, z. B. entdeckte und entfernte im Oktober 2021 drei Hackergruppen der Syrian Electronic Army. Diese hatten Zugangsdaten zu Facebook-Konten und weitere sensible Informationen (z. B. Fotos, Kontaktlisten, Informationen über die verwendeten Geräte) gesucht (NMFA 5.2022)

Am 28.3.2022 erließ die syrische Regierung das Gesetz Nr. 15, welches Teile des Strafgesetzbuches novelliert und unter anderem den Artikel 287 erweitert, der einen Zusatz bezüglich der Schädigung des Ansehens Syriens im Ausland beinhaltet. SNHR erklärt in einer Analyse zum Gesetz Nr. 15, dass das Gesetz früher diejenigen bestraft hatte, die angebliche falsche oder übertriebene Nachrichten im Ausland verbreitet hätten, die das Ansehen des Staates oder seine finanzielle Position untergraben würden. Gemäß der Änderung ist nun jede Person strafbar, die jegliches Ansehen des Staates untergräbt, sei es finanziell, sozial, kulturell, historisch oder anderweitig. Vorgesehen ist eine Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und drei Jahren. Darüber hinaus ist Artikel 287 um ein neues Verbrechen erweitert worden, das die Verbreitung von Nachrichten bestraft, die als Imageverbesserung eines feindlichen Staates angesehen werden könnten, um den Status des syrischen Staates zu kompromittieren (SNHR 28.4.2022). Das Gesetz verbietet überdies die Publikation jeglicher Informationen über die Streitkräfte (USDOS 20.3.2023).

Die syrische Regierung hat auch die Artikel 285 bis 287 des Strafgesetzbuches verwendet, um Journalisten, Medienschaffende und Blogger anzuklagen und zu inhaftieren (NMFA 15.5.2020).

Die Verfassung garantiert nominell die Pressefreiheit, aber in der Praxis werden die Medien stark eingeschränkt, und JournalistInnen, die kritisch über den Staat berichten, sind Ziele der Zensur sowie von Verhaftungen, Folter und Tod in Gefangenschaft. Alle Medien benötigen eine Erlaubnis des Innenministeriums. Private Medien im Regierungsgebiet gehören generell Personen mit Verbindungen zum Regime (FH 9.3.2023).

Schwerste Repressionen gegen Medienschaffende blieben in Syrien alltäglich. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen (RSF) steht Syrien 2022 auf Rang 171 von 180. JournalistInnen sind in Syrien allgemein gefährdet, besonders durch Regimekräfte und extremistische Gruppen (AA 2.2.2024). Laut dem Committee to Protect Journalists (CPJ) wurden zwischen 2011 und 2022 142 MedienmitarbeiterInnen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet. Weitere fünf wurden verhaftet und acht Personen gelten mit Stand Dezember 2022 als vermisst (FH 9.3.2023).

Die akademische Freiheit ist stark eingeschränkt. UniversitätsprofessorInnen im Regierungsgebiet werden wegen abweichender Meinungen entlassen oder inhaftiert und einige wurden aufgrund ihrer Unterstützung von Oppositionellen getötet (FH 9.3.2023).

Staatliche und nicht-staatliche Akteure begehen Akte sexueller Gewalt gegen Männer, Buben, Transgender-Frauen und non-binäre Menschen. Gemäß Artikel 520 des syrischen Strafrechts ist 'unnatürlicher Geschlechtsverkehr' mit bis zu drei Jahren Gefängnis strafbar (HRW 11.1.2024; vgl. FH 9.3.2023).

Nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen

Die Zahl der Übergriffe und Repressionen durch nichtstaatliche Akteure einschließlich der de-facto-Autoritäten im Nordwesten und Nordosten Syriens bleibt unverändert hoch. Bei Übergriffen regimetreuer Milizen ist der Übergang zwischen politischem Auftrag, militärischen bzw. polizeilichen Aufgaben und mafiösem Geschäftsgebaren fließend. In den Gebieten, die durch regimefeindliche bewaffnete Gruppen kontrolliert werden, kommt es auch durch einige dieser Gruppierungen regelmäßig zu Übergriffen und Repressionen (AA 2.2.2024). In ihrem Bericht von März 2021 betont der Bericht der UNCOI, dass das in absoluten Zahlen größere Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch das Regime und seine Verbündeten andere Konfliktparteien ausdrücklich nicht entlastet. Vielmehr ließen sich auch für bewaffnete Gruppierungen (u. a. Free Syrian Army, Syrian National Army [SNA], Syrian Democratic Forces [SDF]) und terroristische Organisationen (u.a. HTS - Hay'at Tahrir ash-Sham, bzw. Jabhat an-Nusra, IS - Islamischer Staat) über den Konfliktzeitraum hinweg zahlreiche Menschenrechtsverstöße unterschiedlicher Schwere und Ausprägung dokumentieren. Hierzu zählen für alle Akteure willkürliche Verhaftungen, Praktiken wie Folter, grausames und herabwürdigendes Verhalten und sexualisierte Gewalt sowie Verschwindenlassen Verhafteter. Im Fall von Free Syrian Army, HTS, bzw. Jabhat an-Nusra, sowie besonders vom IS werden auch Hinrichtungen berichtet (UNCOI 11.3.2021)

Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie z. B. HTS, sind verantwortlich für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, darunter rechtswidrige Tötungen und Entführungen, rechtswidrige Inhaftierungen, körperliche Misshandlungen und Tötungen von Zivilisten und Rekrutierungen von Kindersoldaten (USDOS 20.3.2023). Personen, welche in Verdacht geraten, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu haben, sind in Gebieten extremistischer Gruppen der Gefahr von Exekutionen ausgesetzt (FH 9.3.2023).

HTS ging teils brutal gegen politische Gegner vor, denen z. B. Verbindungen zum Regime, Terrorismus oder die „Gefährdung der syrischen Revolution“ vorgeworfen würden. Weiterhin legen die Berichte nahe, dass Inhaftierten Kontaktmöglichkeiten zu Angehörigen und Rechtsbeiständen vorenthalten werden. Auch sei HTS, laut Berichten des SNHR, für weitere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, vor allem in den Gefängnissen unter seiner Kontrolle (AA 2.2.2024).

In der Region Idlib war 2019 ein massiver Anstieg an willkürlichen Verhaftungen und Fällen von Verschwindenlassen zu verzeichnen, nachdem HTS dort die Kontrolle im Jänner 2019 übernommen hatte. Frauen wurden bzw. sind in den von IS und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt. Angehörige sexueller Minderheiten werden exekutiert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Berichtet wurden zudem Verhaftungen von Minderjährigen, insbesondere Mädchen. Als Gründe werden vermeintliches unmoralisches Verhalten, wie beispielsweise das Reisen ohne männliche Begleitung oder unangemessene Kleidung angeführt. Mädchen soll zudem in vielen Fällen der Schulbesuch untersagt worden sein. HTS zielt darüber hinaus auch auf religiöse Minderheiten ab. So hat sich HTS laut der CoI im März 2018 zu zwei Bombenanschlägen auf den schiitischen Friedhof in Bab as-Saghir bekannt, bei dem 44 Menschen getötet, und 120 verletzt wurden. Versuche der Zivilgesellschaft, sich gegen das Vorgehen der HTS zu wehren, werden zum Teil brutal niedergeschlagen. Mitglieder der HTS lösten 2020 mehrfach Proteste gewaltsam auf, indem sie auf die Demonstrierenden schossen oder sie gewaltsam festnahmen. Laut der UNCOI gibt es weiterhin Grund zur Annahme, dass es in Idlib unverändert zu Verhaftungen und Entführungen durch HTS-Mitglieder (AA 29.11.2021), auch unter Anwendung von Folter, kommt (AA 29.11.2021; vgl. AA 2.2.2024). Zusätzlich verhaftete HTS eine Anzahl von IDPs unter dem Vorwand, dass diese sich weigerten, in Lager für IDPs zu ziehen, und HTS verhaftete auch BürgerInnen für die Kontaktierung von Familienangehörigen, die im Regierungsgebiet lebten (SNHR 3.1.2023).

Auch in den von der Türkei bzw. von Türkei-nahen SNA kontrollierten Gebieten im Norden Syriens kam es laut CoI vielfach zu Übergriffen und Verhaftungen sowie Folter, die insbesondere die kurdische Zivilbevölkerung beträfen. Auch sei es zu sexuellen Übergriffen durch Angehörige der SNA gekommen (AA 2.2.2024). Die Festnahme syrischer Staatsangehöriger in Afrin und Ra's al 'Ayn sowie deren Verbringung in die Türkei durch die SNA könnte laut CoI das Kriegsverbrechen einer unrechtmäßigen Deportation darstellen (AA 29.11.2021). In vielen Fällen befänden sich Kurdinnen und Kurden laut der UN-Kommission in einer doppelten Opferrolle: Nach einer früheren Zwangsrekrutierung durch die kurdischen SDF in vorherigen Phasen des Konflikts mit der Türkei würden sie nun für eben diesen unfreiwilligen Einsatz von der SNA verfolgt und inhaftiert. Auch darüber hinaus sind in SNA-Gebieten Fälle von willkürlichen Verhaftungen, Isolationshaft ohne Kontakt zur Außenwelt sowie Fälle von Folter in Haft von der UN-Kommission verzeichnet. Der grundsätzlich bestehende Rechtsweg, um sich gegen ungerechtfertigte Inhaftierungen rechtlich zur Wehr zu setzen, ist laut UN-Einschätzung aufgrund langer Verfahrensdauern nicht effektiv (AA 29.3.2023).

Teile der SDF, einer Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen ebenfalls für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sein, darunter Angriffe auf Wohngebiete, willkürliche Inhaftierungen, Misshandlungen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Versammlungs- und Redefreiheit wie auch die willkürliche Zerstörung von Häusern. Die SDF untersuchen die meisten gegen sie vorgebrachten Klagen, und einige SDF-Mitglieder werden wegen Misshandlungen angeklagt, wozu aber keine Statistiken vorliegen (USDOS 20.3.2023). Die SDF führten im Jahr 2023 willkürliche Verhaftungen von Zivilisten, darunter Journalisten durch (HRW 11.1.2024). Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt jedoch laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und dschihadistischer Gruppen befinden (AA 29.3.2023). Im Nordosten Syriens dokumentierte die CoI im Berichtszeitraum mehrere Todesfälle in den Zentralgefängnissen von Hasakeh und Raqqa und stellt fest, dass diese möglicherweise auf schlechte Behandlung oder Folter zurückzuführen sein könnten. Laut SNHR seien im Gewahrsam der SDF / Partei der Demokratischen Union (PYD) seit März 2011 insgesamt 96 Menschen durch Folter zu Tode gekommen. Kontakte der Botschaft berichteten zudem von Repressionen durch die kurdische sogenannte „Selbstverwaltung“ (AANES) gegen politische Gegner, wie z.B. Angehörige von Oppositionsparteien. Daneben kritisiert die CoI in ihrem jüngsten Bericht auch die, ihrer Einschätzung nach, menschenrechtswidrige Inhaftierung und Behandlung zehntausender IS-Affiliierter in nordostsyrischen Haftanstalten und lagerähnlichen Camps (AA 2.2.2024). Obwohl der Spielraum der Redefreiheit etwas größer ist, als in Gebieten unter Kontrolle der Regierung oder extremistischer Gruppierungen, schränkt die PYD und einige andere Oppositionsfraktionen Berichten zufolge auch die Redefreiheit ein. So suspendierte die PYD-geführte Verwaltung im Februar 2022 die Lizenz der im Nordirak ansässigen Rudaw-Mediengruppe unter dem Vorwurf der Falschinformation und Aufhetzung. Mitte März 2022 verlangte dieselbe Verwaltung von JournalistInnen den Beitritt zur Union of Free Media, welche sich unter ihrem Einfluss befindet (FH 9.3.2023).

Quellen:

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AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023

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SNHR – Syrian Network for Human Rights (28.4.2022): Laws 15 and 16 of 2022 Issued by the Syrian Regime: Textually Flawed and Impossible to Implement, https://snhr.org/wp-content/uploads/2022/04/R220417E.pdf, Zugriff 25.4.2023

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2020): Wiederaufbau in Syrien. Herausforderungen und Handlungsoptionen für die EU und ihre Mitgliedstaaten, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2020S07_Syrien.pdf, Zugriff 18.3.2023

UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://undocs.org/en/A/HRC/52/69, https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/iici-syria/report-coi-syria-march2023, Zugriff 18.3.2023

UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (11.3.2021): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://daccess-ods.un.org/access.nsf/Get?OpenAgent DS=A/HRC/46/55 Lang=E, Zugriff 7.7.2023

USDOS - USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023

USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html, Zugriff 25.4.202

Ethnische und religiöse Minderheiten

Letzte Änderung 2023-07-17 13:20

Anm.: Einige der angeführten Minderheiten sind ethno-religiöse Minderheiten (z. B. armenische Christen, kurdische Jesiden) oder sie verfügen über kulturell bedingte eigene Interpretationen des Islams im Alltag (z. B. viele sunnitische Kurden). Dazu kommen winzige weitere Minderheiten, welche in den üblichen Überblickaufzählungen gar keine Erwähnung finden. Nähere Informationen zu einzelnen Minderheiten können nach Bedarf im Rahmen von Anfragebeantwortungen geboten werden.

Die anhaltende Vertreibung der syrischen Bevölkerung führt zu einem gewissen Grad an Unsicherheit in den demografischen Daten. Schätzungen der US-Regierung zufolge dürften die Sunniten 74 % der Bevölkerung stellen, wobei diese sich aus AraberInnen, KurdInnen, TscherkessInnen, TschetschenInnen und einigen TurkmenInnen zusammensetzen. Andere muslimische Gruppen, einschließlich AlawitInnen, IsmailitInnen und (Zwölfer) SchiitInnen machen zusammen 13 % aus, die DrusInnen 3 %. Verschiedene christliche Gruppen bilden die verbleibenden 10 %, wobei laut Berichten davon auszugehen ist, dass ihre Zahl mit geschätzten 2,5 % nun bedeutend geringer ist. Vor dem Bürgerkrieg gab es in Syrien ungefähr 80.000 JesidInnen (USDOS 2.6.2022).

Die alawitische Gemeinschaft [Anm.: zu der Bashar al-Assad gehört] genießt in Relation zu ihrem Bevölkerungsanteil weiterhin einen privilegierten politischen Status, auch durch die Dominanz in den Führungspositionen im Militär sowie den Sicherheits- und Geheimdiensten, wobei auch bei Alawiten gilt, dass, so wie bei Angehörigen den anderen Religionsgemeinschaften, nur diejenigen, welche zum inneren Machtzirkel um Bashar al-Assad gehören, politischen Einfluss besitzen. Auch einige Sunniten gehören zur politischen Elite (USDOS 2.6.2022). Familien und Netzwerke mit Verbindungen zur herrschenden Elite werden in Rechtsangelegenheiten bevorzugt behandelt und sind disproportional oft AlawitInnen, während AlawitInnen ohne solche Verbindungen weniger wahrscheinlich von solchen Vorteilen profitieren. Die bewaffnete Opposition ist hingegen in der überwältigenden Mehrheit arabisch-sunnitisch, und Mitglieder dieser Bevölkerungsgruppe sind wahrscheinlich Diskriminierung durch den Staat ausgesetzt, wenn sie nicht enge Verbindungen zum Regime genießen (FH 9.3.2023).

Daher lässt sich die konfessionalistische Dimension des Regimes besser als ein alawitisch-dominiertes säkulares Regime beschreiben, das auf Loyalitäten basierend auf regionale, tribale und familiäre Verbindungen sowie auf gesellschaftliche Kohäsion ('asabiya) aufbaut. Diese Kohäsion bezieht sich auf ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit einer beschränkten Zahl an AlawitInnen aus der alawitischen Gemeinschaft, aber nicht auf die Religionsgemeinschaft als Ganzes. Als Folge der konfessionellen Polarisierung, die durch das Regime selbst gefördert wurde, wie auch durch seine islamistischen und jihadistischen Feinde, waren viele AlawitInnen gezwungen, sich aus Angst vor sunnitisch-arabischen Vergeltungsschlägen auf die Seite des Regimes zu stellen (Al-Majalla 15.3.2023).

In einer Diktatur wie in Syrien kommt die Repression überall in den Gebieten unter der Kontrolle des Regimes zur Anwendung - auch in den ländlichen Gebieten mit alawitischer Bevölkerungsmehrheit. AlawitInnen unter Oppositionsverdacht werden im Allgemeinen inhaftiert, schwer unter Druck gesetzt oder getötet. Alawitische OpponentInnen der Assad-Herrschaft [Anm.: seit 1970] waren gelegentlich in einer schlimmeren Lage als sunnitische Oppositionelle, weil sie potenziell eine größere Bedrohung durch ihre Zugehörigkeit zur alawitischen Gemeinschaft darstellen (Al-Majalla 15.3.2023). So werden Berichten zufolge auch weiterhin alawitische oppositionelle AktivistInnen Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Folter und Mord durch die Regierung. AlawitInnen werden zudem aufgrund ihrer wahrgenommenen Unterstützung des Regimes zu Opfern von Angriffen durch aufständische extremistische Gruppen (USDOS 30.3.2023).

Im Zuge des Bürgerkriegs kam es zu verschiedenen konfessionalistischen Exzessen, welche die Möglichkeiten für eine Versöhnung zwischen den Kriegsparteien untergraben. Es gab Berichte über Massaker, konfessionalistische Säuberungsaktionen wie auch Entführungen und sexuelle Gewalt gegen AlawitInnen und ChristInnen und umgekehrt von Angehörigen der alawitischen Glaubensgemeinschaft gegen Mitglieder der sunnitschen Bevölkerungsgruppe (Al-Majalla 15.3.2023).

Religiöse bzw. interkonfessionelle Faktoren spielen auf allen Seiten des Konfliktes eine Rolle, doch fließen auch andere Faktoren im Kampf um die politische Vormachtstellung mit ein. Die Gewalt seitens des Regimes gegen Oppositionsgruppen aber auch Zivilisten weist sowohl konfessionelle Elemente als auch Elemente ohne konfessionellen Bezug auf. Beobachtern zufolge ist die Vorgehensweise der Regierung gegen Oppositionsgruppen, welche die Vormachtstellung der Regimes bedrohen, nicht in erster Linie konfessionell motiviert, doch zeigt sie konfessionelle Auswirkungen (USDOS 10.6.2020). So versucht die syrische Regierung, konfessionell motivierte Unterstützung zu gewinnen, indem sie sich als Beschützerin der religiösen Minderheiten vor Angriffen von gewalttätigen sunnitisch-extremistischen Gruppen darstellt. Manche Rebellengruppen bezeichnen sich in Statements und Veröffentlichungen explizit als sunnitische Araber oder sunnitische Muslime und haben Beobachtern zufolge eine fast ausschließlich sunnitische Unterstützerbasis (USDOS 2.6.2022). Der Einsatz von schiitischen Kämpfern durch den Iran, z. B. aus Afghanistan, um gegen die mehrheitlich sunnitische Opposition vorzugehen, verstärkt zusätzlich die konfessionellen Spannungen. Laut Experten stellen die Regierung und ihre Verbündeten Russland und Iran die bewaffnete Opposition und oppositionelle Protestierende sowie humanitäre Hilfsorganisationen auch als konfessionalistisch motiviert dar, indem sie diese mit extremistischen islamistischen Gruppen und Terroristen in Zusammenhang bringen, welche die religiösen Minderheiten sowie die säkulare Regierung eliminieren wollen (USDOS 10.6.2020).

Im Allgemeinen bestehen in Gebieten, die unter Regierungskontrolle stehen, keine Hindernisse für religiöse Minderheiten, insbesondere nicht für Christen. Schätzungen zufolge leben nur mehr 3 % (vor dem Konflikt über 10 %) Christen im Land; viele sind seit Ausbruch des Konflikts geflohen – ihre Rückkehr scheint unwahrscheinlich. In Rebellengebieten, die von sunnitischen Fraktionen kontrolliert werden, ist die Religionsausübung zwar möglich, aber nur sehr eingeschränkt. Zusätzlich erschwert wird die Situation der Christen dadurch, dass sie als regierungsnahe wahrgenommen werden. Sowohl aufseiten der regierungstreuen als auch aufseiten der Opposition sind alle religiösen Gruppen vertreten. Aufgrund ihrer starken Dominanz in der Regierung und im Sicherheitsapparat werden Alawiten aber grundsätzlich als regierungstreu wahrgenommen, während sich viele Sunniten (sie bilden die Mehrheit der Bevölkerung, vor Beginn des Konflikts waren es 72 %) in der (auch bewaffneten) Opposition finden. Aufgrund dieser Zugehörigkeit zur Opposition ist die Mehrheit der politischen Gefangenen und Verschwundenen sunnitisch. Bei der militärischen Rückeroberung der syrischen Armee von Gebieten wie Homs oder Ost-Ghouta wurden sunnitisch dominierte Viertel stark in Mitleidenschaft gezogen. Dadurch wurden viele Sunniten aus diesen Gebieten vertrieben und faktisch ein demografischer Wandel dieser Gebiete herbeigeführt. Die wirtschaftliche Implosion und die damit verbundene Verarmung weiter Teile der Bevölkerung unterminieren auch die Loyalitäten von als regimenah geltenden Bevölkerungsgruppen, inklusive der Alawiten (ÖB Damaskus 1.10.2021).

Die Situation von Angehörigen religiöser und ethnischer Minderheiten ist von Gebiet zu Gebiet unterschiedlich und hängt insbesondere von den Akteuren ab, die das Gebiet kontrollieren, von den Ansichten und Wahrnehmungen dieser Akteure gegenüber Angehörigen anderer religiöser und ethnischer Minderheitengruppen sowie von den spezifischen Konfliktentwicklungen in diesen Gebieten (UNHCR 3.2021). Im Zuge des Konflikts wurden Mitglieder religiöser Minderheiten wie auch SunnitInnen Ziel von verschiedenen Gruppen, welche von der UNO, den USA und anderen als Terrorgruppen eingestuft worden waren - darunter auch HTS, in Form von Morden, Entführungen, physischen Misshandlungen und Haft. Tausende tote und verschwundene ZivilistInnen waren die Folge (USDOS 2.6.2022).

Die syrische Regierung, kurdische Truppen, von der Türkei unterstützte oppositionelle Milizen und islamistisch-extremistische Gruppen haben alle versucht, die ethnische Zusammensetzung ihrer Gebiete zu verändern. Sie haben ZivilistInnen gezwungen, bei ihrer jeweiligen religiösen oder ethnischen Gemeinschaft Zuflucht zu suchen, was zu demografischen Änderungen durch den Bürgerkrieg beiträgt (FH 9.3.2023).

Die sunnitisch-arabische Zivilbevölkerung traf die Hauptlast der Angriffe der alawitisch-geführten Regierung und ihrer Milizen. Von 2018 bis 2019 vertrieb das Regime 900.000 ZivilistInnen - meist sunnitische AraberInnen - aus den zurückeroberten Oppositionsgebieten durch Bombardierungen und Belagerungen in die Provinz Idlib (FH 9.3.2023).

Ende 2019 führte das türkische Militär eine Offensive in Nordost-Syrien durch, um eine Pufferzone zur Zurückdrängung seiner kurdischen Gegner aus dem Gebiet zu schaffen [siehe auch die jeweiligen relevanten Unterkapitel im Kapitel Sicherheitslage] (FH 9.3.2023). Mitglieder religiöser und ethnischer Minderheiten, besonders vertriebene KurdInnen, JesidInnen und ChristInnen, z. B. in der Stadt Afrin, berichteten von Menschenrechtsverletzungen und Marginalisierung (USDOS 2.6.2023). Von der Türkei unterstützte Milizen wurden in Folge beschuldigt, Grundstücke und Häuser zu enteignen (FH 9.3.2023). Sie begingen u. a. auch Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Vergewaltigung und Plünderungen von Privatbesitz - besonders in kurdischen Gebieten - wie auch Vandalenakte gegen jesidische religiöse Stätten. Bezüglich in und um Afrin werden zusätzlich besonders auch Tötungen und willkürliche Verhaftungen von ZivilistInnen genannt. Besonders oft waren JesidInnen Ziel der Taten. Weiterhin werden von pro-türkischen Milizen verschleppte jesidische Frauen vermisst. Berichten zufolge leben in Afrin nur mehr 5.000 JesidInnen, während vor der türkischen Invasion von 2018 25.000 JesidInnen in 22 Dörfern ansässig waren (USDOS 2.6.2022).

Sunnitisch-islamistische und jihadistische Gruppen verfolgen oft religiöse Minderheiten und Muslime, welche sie der Pietätlosigkeit oder der Apostasie beschuldigen (FH 9.3.2023). Verschiedene islamistische Gruppen in Idlib legen Medienberichten zufolge ChristInnen die Anwendung der Scharia auf wie auch die Jizya, eine Steuer für Nicht-Muslime, um sie dazu zu zwingen, ihre Häuser zu verlassen. Die HTS verstärkte demnach den Druck auf ChristInnen in Idlib durch solche Restriktionen wie auch durch eine Erhöhung von Mieten von Häusern und Geschäften, weil die HTS den Immobilienbesitz von ChristInnen als Kriegsbeute ansieht. Die HTS beging zudem weitere Arten von Misshandlungen/Machtmissbrauch ('abuses') auf Basis der konfessionellen Identität der Betroffenen (USDOS 12.5.2021). Für das Jahr 2021 werden weiterhin solche Restriktionen der HTS gegen ChristInnen in Idlib Stadt berichtet. Es wurde bekannt, dass HTS im Zeitraum Ende 2018 bis Ende 2019 Hunderte Immobilien, darunter mindestens 550 Häuser und Geschäfte in der Provinz Idlib, die vertriebenen ChristInnen gehörten, beschlagnahmt hatte (USDOS 2.6.2022).

Das Schicksal von 8,648 Personen, die vom IS seit 2014 verschleppt wurden, bleibt unbekannt (USDOS 2.6.2022). Nach Schätzung der Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic der Vereinten Nationen tötete oder entführte der sogenannte Islamische Staat (IS) allein mehr als 9.000 JesidInnen. Die UNO bewertete dies als "Kampagne des Genozids" (USDOS 10.6.2020), wobei der IS ab 2014 ungefähr 6.000 großteils jesidische, aber auch christliche und turkmenische Frauen und Mädchen im Irak verschleppte (USDOS 10.6.2020). Diese wurden nach Syrien gebracht und als Sexsklavinnen verkauft, in nominelle Heiraten mit IS-Kämpfern gezwungen oder dienten als 'Geschenke' für IS-Kommandanten. Von diesen Frauen und Kindern ist weiterhin der Verbleib von 2.763 Menschen unbekannt (USDOS 2.6.2022).

Trotz der territorialen Niederlage des IS berichteten Medien und NGOs, dass seine extremistische Ideologie weiterhin stark im Land präsent ist (USDOS 12.5.2021). Im Jahr 2022 nahmen gewalttätige Übergriffe durch IS-Überreste zu. Menschenrechtsorganisation berichten, dass diese häufig Zivilisten, Personen, welche der Zusammenarbeit mit Sicherheitskräften verdächtig sind, und Gruppen, die vom IS als Apostaten gesehen werden, ins Visier nehmen (USDOS 2.6.2022). Siehe dazu auch das Kapitel Sicherheitslage.

Kurdische Milizen werden beschuldigt, arabische und turkmenische Gemeinschaften vertrieben zu haben (FH 9.3.2023). Im Jahr 2021 vertrieben christlichen Anführern zufolge türkische Bombardierungen in Nordost-Syrien ChristInnen und andere Minderheiten aus Tel Tamer und umgebenden Dörfern südöstlich des Gebiets der türkischen Militäroperation 'Friedensquelle' (siehe auch Kapitel Sicherheitslage) (USDOS 2.6.2022).

Für weitere Informationen siehe auch Unterkapitel Kurden sowie die jeweiligen Unterkapitel im Kapitel Sicherheitslage.

Quellen:

Al-Majalla (van Dam, Nikolaos) (15.3.2023): Was the Syrian Revolution sectarian?, https://en.majalla.com/node/287796/politics/was-syrian-revolution-sectarian, Zugriff 26.4.2023

FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2023 - Syria, https://freedomhouse.org/country/syria/freedom-world/2023, Zugriff 10.3.2023

ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 26.4.2023

UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (3.2021): International Protection Considerations with regard to people fleeing the Syrian Arab Republic - Update VI, https://www.ecoi.net/en/file/local/2049565/606427d97.pdf, Zugriff 26.4.2023

USDOS - United States Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2073954.html, Zugriff 25.4.2023

USDOS - United States Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom – Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2051586.html, Zugriff 27.4.2023

USDOS - United States Department of State [USA] (10.6.2020): 2019 Report on International Religious Freedom – Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2031230.html, Zugriff 27.4.2023

Bewegungsfreiheit

Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens

Letzte Änderung 2024-03-13 16:23

Die Verfassung sieht Bewegungsfreiheit vor, 'außer eine gerichtliche Entscheidung oder die Umsetzung von Gesetzen' schränken diese ein. Das Regime, HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) und andere bewaffnete Gruppen sehen Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit in ihren jeweiligen Gebieten vor und setzen dazu zur Überwachung Checkpoints ein (USDOS 20.3.2023).

Regierungsangriffe auf die Provinz Idlib und Teile Südsyriens schränkten die Bewegungsfreiheit ein und führten zu Todesfällen, Hunger und schwerer Mangelernährung, während die Angst vor der Vergeltung der Regierung zur Massenflucht von ZivilistInnen und dem Zusammenbruch u. a. der humanitären Hilfe führte. Im Februar 2022 ergab eine UN-Umfrage, dass 51 Prozent der geprüften Gemeinschaften von Bewegungseinschränkungen betroffen waren (USDOS 20.3.2023).

Checkpoints werden sowohl von Regimesicherheitskräften sowie lokalen und ausländischen Milizen unterhalten (USDOS 20.3.2023). In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt (AA 8.12.2023). Auch können Passierende gewaltsam für den Militärdienst eingezogen werden (NFMA 5.2022).

Überlandstraßen und Autobahnen sind zeitweise gesperrt. Reisen im Land ist durch Kampfhandlungen vielerorts weiterhin sehr gefährlich. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land. Für solche Bezirke gilt ein absolutes Verbot, sie zu betreten. Der Begriff der militärischen Einrichtung wird von den syrischen Sicherheitsdiensten umfassend ausgelegt und kann neben klar erkennbaren Kasernen, Polizeistationen und Militärcheckpoints auch schwerer zu identifizierende Infrastruktur wie z. B. Wohnhäuser hochrangiger Personen, Brücken, Rundfunkeinrichtungen oder andere staatliche Gebäude umfassen (AA 8.12.2023). Zudem wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern. Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist (AA 2.2.2024). Die Regimesicherheitskräfte erpressen Leute an den Checkpoints (USDOS 20.3.2023) für eine sichere Passage durch ihre Kontrollpunkte. So werden z. B. an den Checkpoints an der Straße von der jordanisch-syrischen Grenze nach Dara'a üblicherweise Bestechungsgelder eingehoben (HRW 20.10.2021).

Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile voneinander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara'a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf (HRW 20.10.2021). Die Vierte Division, angeführt von Maher al-Assad, dem Bruder von Bashar al-Assad, übernahm die Kontrolle über alle Transportrouten Richtung Libanon und Jordanien sowie alle Hauptverkehrswege in West- und Süd-Syrien. Eine große Rekrutierungskampagne für die Besatzungen der Kontrollpunkte ist im Gang. Die Checkpoints sichern die Drogentransitrouten [Anm.: Siehe Informationen zu Ceptagon in den jeweiligen Kapiteln] und sind dabei ein Monopol auf Bestechungsgelder für Reisen durch das Land zu schaffen (FP 1.2.2023).

Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte 'Versöhnungskarte' vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Suchlisten. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet (HRW 20.10.2021). Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, u. a. wenn sie z. B. aus früher oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder auch wenn sie Verbindungen zu Personen in Oppositionsgebieten wie Nordsyrien oder zu bekannten oppositionellen Familien haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Kontrollpunkten führen (DIS/DRC 2.2019). Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem, wer ihn kontrolliert. Auch die Laune und die Präferenzen des Kommandanten können eine Rolle spielen (DIS 9.2019).

Die Regimesicherheitskräfte halten in einigen Fällen ZivilistenInnen von der Flucht aus belagerten Städten ab (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Dara’a al-Balad im Jahr 2021 verletzte laut UN Commission of Inquiry for Syria die Belagerungstaktik der Pro-Regimekräfte die Bewegungsfreiheit und könnte auf eine Kollektivbestrafung hinauslaufen (USDOS 20.3.2023).

Ausländischen DiplomatInnen - einschließlich von der UNO und dem OPCW Investigation and Identification Team (IIT) (OPCW - Organization for the Prohibition of Chemical Weapons) - wurde von der syrischen Regierung der Besuch vieler Landesteile untersagt, und sie erhielten selten die Erlaubnis, außerhalb von Damaskus zu reisen (USDOS 20.3.2023).

Anm.: Zum dahinschwindenden öffentlichen Verkehrssystem und seinen gestiegenen Fahrpreisen siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.

Betreten und Verlassen des Regimegebiets

Zum Betreten und Verlassen des Regimegebiets ist eine Sicherheitsfreigabe durch das Regime nötig, was ein Hindernis für Flüchtlinge und Binnenvertriebene darstellt, welche in ihre Heimatorte zurückkehren möchten. Personen, die vom Regime als kritisch wahrgenommen werden, erhalten diese Genehmigung oft nicht - ebenso ihre Verwandten, frühere Oppositionelle sowie ehemalige BewohnerInnen von als Hochburgen der Opposition wahrgenommen Gebieten (USDOS 20.3.2023).

Laut niederländischem Außenministerium ist es unmöglich, einen Überblick zu vermitteln, welche Übergänge zwischen den Oppositionsgebieten und dem Regimegebiet im Berichtszeitraum offen waren - und zu welchem Zeitpunkt und für welche Personen und Reisezwecke. Es wird aber auf die potenzielle Gefahr von Reisen für ZivilistInnen innerhalb Syriens allgemein und besonders bei Einreisen aus den Oppositionsgebieten in das Regimegebiet wegen der Notwendigkeit des Passierens von Checkpoints der syrischen Geheimdienste, des Militärs und anderer Pro-Regime-Milizen hingewiesen (NMFA 6.2021).

Es ist laut niederländischem Außenministerium nicht möglich, frei vom Regimegebiet in die Gebiete der sog. Errettungsregierung (Anm.: mit HTS als dominante Kraft) oder in das Gebiet der Syrischen Interimsregierung (Anm.: mit den pro-türkischen Einheiten der Syrian National Army) zu reisen und in umgekehrter Richtung. Das gilt für alle BürgerInnen ungeachtet ihres Geschlechts, Alters, ethnischer Zugehörigkeit und Religion, und hat nichts mit der Corona-Pandemie zu tun. Es ist auch nicht möglich, vom kurdischen Selbstverwaltungsgebiet ins Gebiet der Syrischen Interimsregierung zu gelangen. Reisen zwischen dem Gebiet der sog. Errettungsregierung und der Syrischen Interimsregierung sind möglich. Manche Reisen zwischen dem Regimegebiet und dem Selbstverwaltungsgebiet (der SDF) sind möglich, aber die genauen Konditionen sind unbekannt. BewohnerInnen von al-Hassakah und Qamishli sowie Personen, die dort geboren sind, gehören zu den Personengruppen, welche vom Regimegebiet aus in diese beiden Städte reisen können, weil die Behörden dort eine gewisse Präsenz haben. Auch Leute, die im Regimegebiet wohnen, aber aus Teilen von Raqqa und Deir az-Zour stammen, die nun unter Kontrolle der Selbstverwaltung stehen, können Berichten zufolge hin und her reisen, um ihre Besitztümer zu überprüfen oder Land zu kultivieren (NMFA 5.2022).

Die Situation bezüglich des Warenverkehrs stellt sich anders dar als bei Personen - landwirtschaftliche Produkte können vom Regimegebiet aus in andere Landesteile gebracht werden (NMFA 5.2022).

Anm.: Bezüglich der Frage, welche Personen unter welchen Bedingungen dauerhaft in ihre Heimatorte im Selbstverwaltungsgebiet zurückkehren können, wird auf die folgende AFB verwiesen: ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (6.5.2022): Anfragebeantwortung zu Syrien: Voraussetzungen für Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordostsyrien; Legale Einreise aus dem Irak bzw. der Türkei; Informationen zum Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur; Kontrolle der Grenzübergänge zwischen Nordostsyrien und der Türkei/dem Irak [a-11859-1], https://www.ecoi.net/de/dokument/2073007.html, Zugriff 15.5.2023

Die Bewegungsfreiheit von Frauen sowie ihre Einschätzung von Gefahren im öffentlichen Raum

Die vorherrschende Gewalt und starke kulturelle Zwänge schränken die Bewegungsfreiheit von Frauen in vielen Gebieten stark ein. In Gebieten, die von bewaffneten Oppositionsgruppen und terroristischen Gruppen wie der islamistischen Miliz Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrolliert werden, schränken diese ebenfalls die Bewegungsfreiheit ein. HTS schreibt Frauen unter anderem vor, dass sie nicht alleine leben dürfen, und dass sie sich nur in Begleitung eines männlichen Familienmitglieds (mahram) in die Öffentlichkeit begeben dürfen (USDOS 20.3.2023). In der Umfrage von UNFPA (UN Population Fund) veröffentlichten Umfrage sehen 55 Prozent der befragten Haushalte demnach Kontrollpunkte in ihrer Umgebung als Orte, an denen sich Frauen und Mädchen Gefahren ausgesetzt fühlen. 59 Prozent schätzt öffentliche Verkehrsmittel als für Frauen und Mädchen unsicher ein sowie 56 Prozent in Bezug auf Märkte (UNFPA 28.3.2023):

Diese Grafik zeigt den prozentuellen Anteil an Haushalten, laut welchem sich Frauen und Mädchen in bestimmten Bereichen der Gemeinschaft/Nachbarschaft unsicher fühlen UNFPA 28.3.2023

Anm.: Informationen zu Zugangsbeschränkungen zu Herkunftsgebieten siehe Kapitel "Rückkehr".

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff: 15.2.2024

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.12.2023): Syrien: Reisewarnung: Reisewarnung Stand - 5.3.2024 (Unverändert gültig seit: 8.12.2023), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/syrien-node/syriensicherheit/204278, Zugriff 5.3.2024

DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (9.2019): Syria - Access to Damascus Province for Individuals from Former Rebel-held Areas, https://www.ecoi.net/en/file/local/2017468/COI_report_Syria_Access+to+Damascus+Province_sept_2019.pdf, Zugriff 15.5.2023

DIS/DRC - Danish Immigration Service [Dänemark] / Danish Refugee Council (2.2019): Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, https://nyidanmark.dk/-/media/Files/US/Landerapporter/Syrien_FFM_rapport_2019_Final_31012019.pdf?la=da hash=A4D0089B4FB64FC6E812AF6240757FC0097849AC, Zugriff 15.5.2023

FP - Foreign Policy (Lister, Charles) (1.2.2023): Something Has to Give in Postwar Syria, https://foreignpolicy.com/2023/02/01/something-has-to-give-in-postwar-syria/, Zugriff 15.5.2023

HRW - HRW – Human Rights Watch (20.10.2021): 'Our Lives Are Like Death'; Syrian Refugee Returns from Lebanon and Jordan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2062564/syria1021_web.pdf, Zugriff 15.5.2023

NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria May 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 29.4.2023

NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria June 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069799/EN-AAB-Syrie-juni-2021.pdf, Zugriff 29.4.2023

UNFPA – United Nations Population Fund, GPC – Global Protection Cluster (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (28.3.2023): Whole of Syria; Gender-Based Violence Area of Responsibility; Voices from Syria 2023; Assessment Findings of the Humanitarian Needs Overview, https://reliefweb.int/attachments/338b5a3e-2c43-405b-8298-86612ec88e09/Voices%20from%20Syria%202023_FINAL_online%20version_En.pdf, Zugriff 29.4.2023

USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023

Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen

Letzte Änderung 2024-03-13 16:24

Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet verweigern (USDOS 20.3.2023). Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition oder Personen, die als solche wahrgenommen werden oder mit diesen oder mit Oppositionsgebieten in Verbindung stehen. Deshalb zögern diese sowie ihre Familien, eine Ausreise zu versuchen, aus Angst vor Angriffen/Übergriffen und Festnahmen an den Flughäfen und Grenzübergängen. Auch JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich in der Zivilgesellschaft engagieren, sowie deren Familien und Personen mit Verbindungen zu ihnen werden oft mit einem Ausreiseverbot belegt. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer. Erhalten AktivistInnen oder JournalistInnen eine Ausreiseerlaubnis, so werden sie bei ihrer Rückkehr verhört (USDOS 20.3.2023). Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten, und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 2.2.2024).

In Syrien betragen die Kosten für einen Reisepass aktuell 7 USD im regulären Verfahren und 56 USD im sogenannten „Expressverfahren“, welches dennoch mehrere Wochen dauern kann. Im Ausland liegen die Kosten bei 300 USD für das Regel- und 800 USD für das Expressverfahren. Die Gültigkeit beträgt in der Regel nur zwei Jahre. Damit ist der syrische Pass einer der teuersten der Welt. Seit Ende 2022 lässt sich beobachten, dass Ämter in Aleppo und Hama wieder Reisepässe für vertriebene syrische Staatsangehörige aus Oppositionsgebieten ausstellen, bei denen als Ausstellungsort „Idlib Center“ angegeben wird. Eine (nicht-repräsentative) Preisermittlung durch Forschungspartner des Auswärtigen Amts hat ergeben, dass etwa die Gebühren für Reisepässe für syrische Staatsangehörige in den Oppositionsgebieten nahe an den im Ausland erhobenen Preisen liegen (Idlib: 700 USD, Azaz 600 USD) und selbst einfache Auszüge um ein Vielfaches teurer sind als in den Regimegebieten (Idlib 60 USD, Azaz 50 USD). Eine Ausnahme bildet al-Qamishli im Nordosten, wo das Regime in Abstimmung mit den sogenannten Selbstverwaltungsbehörden ein Sicherheits- und Verwaltungszentrum unterhält, in dem entsprechende Dienstleistungen günstiger ausfallen (Reisepass: 300 USD, Registerauszug 6 USD). Die Selbstbeschaffung durch Passieren informeller Checkpoints an der Front ist sowohl lebensgefährlich als auch teuer (1.000 USD/Strecke) (AA 2.2.2024).

Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden, und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 16.5.2023). Das Regime schließt regelmäßig den Flughafen von Damaskus sowie Grenzübergänge und begründet dies mit Gewalt, bzw. drohender Gewalt (USDOS 20.3.2023) (Anm.: Bzgl. der Schließung von zivilen Flughäfen wegen israelischer Luftangriffe siehe auch Kapitel Sicherheitslage). Im Anschluss an israelische Luftschläge auf die Flughäfen Aleppo und Damaskus musste der Flugverkehr teilweise eingestellt werden (AA 2.2.2024).

Die auf Grund von COVID-19 verhängten Sperren der Grenzübergänge vom regierungskontrollierten Teil in den Libanon, nach Jordanien (Nasib) und in den Irak (Al-Boukamal) für den Personenverkehr wurden zwischenzeitig aufgehoben. Neue Einschränkungen seitens des Libanon sind mehr der Vermeidung illegaler Migration aus Syrien in den Libanon als COVID-Maßnahmen geschuldet. Der libanesische Druck zur freiwilligen Rückkehr einer wachsenden Zahl syrischer Flüchtlinge steigt. Die Grenzen zwischen der Türkei und den syrischen kurdisch besetzten Gebieten sind geschlossen; zum Irak hin sind diese durchlässiger (ÖB Damaskus 12.2022) (Anm.: bzgl. Personenverkehr zwischen Türkei und Syrien seit 6.2.2023 siehe auch Kapitel Rückkehr).

Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden (STDOK 8.2017). Außerdem gibt es ein Gesetz, das Ehemännern erlaubt, ihren Ehefrauen per Antrag an das Innenministerium die Ausreise aus Syrien zu verbieten, auch wenn Frauen, die älter als 18 Jahre sind, eigentlich das Recht haben, ohne die Zustimmung männlicher Angehöriger zu verreisen (USDOS 20.3.2023).

Einige in Syrien aufhältige PalästinenserInnen brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen. Dies hängt jedoch von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab (STDOK 8.2017).

Anm.: Für weitere Informationen zu Einreisemöglichkeiten in Nachbarländer siehe Abschnitt „Bewegungsfreiheit“ und die jeweiligen Länderinformationsblätter zum Libanon und Jordanien, den einzigen Nachstaaten, welche ebenfalls Mandatsgebiet von UNRWA sind. Dort finden sich auch Informationen, aus denen hervorgeht, dass eine legale Umsiedlung von staatenlosen palästinensischen Flüchtlingen aus Syrien nicht vorgesehen ist, und auch eine etwaige UNRWA-Registrierung nicht zu einer Legalisierung des Aufenthalts oder etwa zu einem gesicherten, dauerhaften Aufenthaltsrecht führt, wie das seit Oktober 2012 geltende Einreiseverbot Jordaniens für Palästinenser illustriert.

Rückkehr

Die Regierung erlaubt SyrerInnen, die im Ausland leben, ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten zu erneuern. Viele SyrerInnen, die aus Syrien geflohen sind, zögern jedoch, die Konsulate zu betreten, aus Angst, dass dies zu Repressalien gegen Familienangehörige in Syrien führen könnte (USDOS 20.3.2023).

Anm.: Zur Sammlung nachrichtendienstlicher Informationen im Zuge von Dokumentenanträgen an syrischen Botschaften inklusive Bedingung der Offenlegung des Aufenthaltstitels siehe AFBs zu den jeweiligen Dokumenten. Für grundsätzliche Informationen siehe: BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Syrien: SYRI_SM_Sammlung von Personendaten für nachrichtendienstliche Zwecke 2019_11_04_KE

Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen 'black lists' betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen. Seit 1.8.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt. Damit einher geht ein Kursverlust gegenüber Umtausch zum Marktkurs von mittlerweile bereits mehr als 50 Prozent (ÖB Damaskus 12.2022).

Auch länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z. B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Z.B. müssen deutsche männliche Staatsangehörige, die nach syrischer Rechtsauffassung auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar. Auch aus Landesteilen, die aktuell nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen, sind Fälle zwangsweiser Rekrutierung bekannt (AA 16.5.2023). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung kommen kann. Häufiger werden die Festgenommenen an Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, oft in den Raum Damaskus (AA 2.2.2024).

Es ist nicht Standard, dass SyrerInnen bei der legalen Ein- und Ausreise nach ihren Login-Daten für ihre Konten für soziale Medien gefragt werden, aber für Einzelfälle kann das nicht ausgeschlossen werden, z. B. wenn jemand - aus welchem Grund auch immer - auf dem Flughafen das Interesse der Behörden bei der Ausreise - erweckt (NMFA 5.2022) (Anm.: bzgl. Abfrage derartiger Daten bei Verhören siehe Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage).

Durch das Fehlen klarer Informationen über das Prozedere für eine Rückkehr, durch das Zurückhalten der Gründe für die Ablehnung einer Rückkehr, bzw. durch das Fehlen einer Einspruchsmöglichkeit enthält die syrische Regierung ihren BürgerInnen im Ausland das Recht auf Einreise in ihr eigenes Land vor (UNCOI 7.2.2023).

Anm.: für weitere Informationen siehe Kapitel "Rückkehr".

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.5.2023): Syrien: Reisewarnung: Reisewarnung Stand - 15.5.2023 (Unverändert gültig seit: 31.03.2022), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/syrien-node/syriensicherheit/204278, Zugriff 16.5.2023

NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 11.3.2023

ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand Ende Dezember 2022) [Der Bericht ist in der Staatendokumentation archiviert.]

STDOK – Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 16.5.2023

UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://undocs.org/en/A/HRC/52/69, Zugriff 18.3.2023

USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023

Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung 2023-07-12 12:15

Erdbeben vom 6. Februar 2023

Am 6.2.2023 ereignete sich ein Erdbeben in der Türkei der Stärke 7,8, gefolgt von einem starken Nachbeben der Stärke 7,5 auf der Richter-Skala. Das erste Beben betraf, zumindest moderat, auch fast ganz Syrien. Am schwersten betroffenen waren die Gebiete im Nordwesten des Landes bzw. entlang der türkisch-syrischen Grenze. Das Nachbeben beschränkte sich auf die nördliche Landeshälfte, wieder mit besonders schwer betroffenen Gebieten entlang der Grenze (TNYT 6.2.2023):

https://stp-intern-p.justiz.cal.local/at.gv.bfa.coicms-p/services/file/505e4be3b39bdb13c60f0ade31502e3d058810e1

Quelle: TNYT 6.2.2023

Mehr als 7.000 SyrerInnen wurden getötet und geschätzte 5,3 Millionen wurden obdachlos (USIP 14.3.2023). 350.000 Menschen in dem Land wurden durch die Katastrophe vertrieben (Zeit 15.2.2023). So waren laut UN-Koordinator für Syrien 10,9 Millionen Menschen in Syrien von den Erdbebenfolgen in den Gouvernements Hama, Lattakia, Idlib, Aleppo und Tartus betroffen (UN News 8.2.2023). Nachbeben führten dazu, dass Menschen immer wieder ins Freie flüchteten (UN News 12.2.2023). Die Erdbeben verstärkten die humanitäre Krise, und der Cholera-Ausbruch [seit August 2022 - Anm.: siehe auch Kapitel Medizinische Versorgung] unterstreicht die Fragilität des Gesundheitssystems sowie der Wasser- und Abwassersysteme (USIP 14.3.2023).

Die Weltbank beurteilte die Lage in den Gouvernements Aleppo, Hama, Idlib, Lattakia, Raqqah und Tartus mit einer tiefer gehenden Prüfung der Städte Aleppo, Harem, Jableh, Afrin, Ad-Dana, Jandairis, Azaz, Sarmada und Lattakia. Demnach trat der größte Schaden bei Unterkünften auf - 24 %, gefolgt vom Transportbereich, der Umwelt (Kosten für die Räumung des Schutts) und der Landwirtschaft, welche gemessen am Ausfall der Lebensmittel den größten Schaden aufweist. Die meisten Schäden werden im Gouvernement Aleppo mit 44 % aller Schäden verzeichnet - besonders in den Bereichen Obdach und Landwirtschaft, gefolgt von Idlib mit 21 %. Die Stadt Aleppo steht mit 60 % der Gesamtschäden an der Spitze der am meisten betroffenen Städte, gefolgt von Lattakia mit 12 % und Azaz mit 10 % (Weltbank 17.3.2023).

Insgesamt kritisierten z. B. die USAID-Chefin Samantha Power die Langsamkeit der Hilfe in Syrien. Zu den am schwersten betroffenen Gebieten in Syrien zählt die Provinz Lattakia, die vom Assad-Regime kontrolliert wird. Dort kommt vor allem humanitäre Hilfe der UN-Organisationen und des Welternährungsprogramms an (Zeit 15.2.2023). UNHCR konzentrierte sich z. B. auf Hilfe für Obdach und Hilfsgüter in den Sammelzentren für die Vertriebenen in Form von Zelten, Plastikplanen, Thermodecken etc. vor dem Hintergrund einer 'Krise in der Krise', in welcher noch Schneestürme in manchen Gegenden und durch die Erdbeben beschädigte Straßen hinzukamen. Bereits vor dem Erdbeben gab es laut UNHCR 6,8 Millionen Binnenvertriebene in Syrien (UNHCR 10.2.2023). Die Weltgesundheitsorganisation arbeitete in allen Teilen des Erdbebengebiets und verstärkte ihren Einsatz einschließlich im besonders betroffenen Nordwesten des Landes. Bereits vor dem Erdbeben waren nur gerade die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen in Betrieb. Nationale und internationale Organisationen, ebenso wie Nachbarn, Moscheen, Kirchen und Gruppen beeilten sich, mit Lebensmitteln, sauberem Wasser, medizinischer Versorgung und sicheren Schlafplätzen zu helfen (UN News 12.2.2023). Nach dem Erdbeben lockerte die EU vorübergehend ihre Sanktionen gegenüber dem Regime. Hilfsflüge aus Deutschland, Dänemark und Norwegen landeten direkt in Damaskus (Qantara 28.2.2023). Als Folge der Erdbeben eröffnen sich für den Iran in vielen Sektoren neue Einflussmöglichkeiten in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Unterkünfte und Transport in Gebieten, wo die syrische Regierung nicht ausreichend den Erdbebenopfern humanitäre Hilfe leisten kann. In der Küstenregion Baniyas, Jableh and Lattakia setzt Iran bereits humanitäre Hilfe als 'soft power' ein, denn neben dem militärischen Einfluss sucht Iran auch wirtschaftlichen Einfluss in Syrien (L'Orient 16.2.2023). Gleichzeitig gibt es Berichte, dass unter der Deckung humanitärer Hilfe Waffen ins Land gebracht wurden (L'Orient 12.4.2023) und UN-Hilfsgüter von Regierungsangestellten abgezweigt oder sonst in einer Form Einfluss genommen wurde (FDD 15.3.2023). Berichten zufolge fließt die aktuelle Nothilfe zu 90 % an das Regime(gebiet), obwohl 88 % der syrischen Erdbebenopfer in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben (Qantara 28.2.2023).

In einer Geberkonferenz wurden mittlerweile 911 Millionen Euro für Erdbebenhilfe für Syrien zugesagt, welche von den UN-Organisationen und international anerkannten NGOs verwaltet werden. Faktoren bei der Vergabe der Verwaltung an die UNO (und nicht an die syrische Regierung) sowie Herausforderungen für die Umsetzung sind: das Ausmaß der Zerstörung, viele politische Einschränkungen, das als 'bankrott und korrupt' bezeichnete Regime sowie die Anzahl an politischen Akteuren in Nordsyrien. Dazukommt die Notwendigkeit von Wachsamkeit, dass es nicht zu demographischen Manipulationen entlang der türkischen Grenze kommt (CMEC 3.4.2023).

In das Oppositionsgebiet gelangten zuerst 80 LKW-Ladungen der International Organization for Migration (IOM) über die beiden neu für humanitäre Hilfe geöffneten Grenzübergänge Bab al-Salam und Al Ra'ee (IOM 21.2.2023). Hintergrund ist, dass die syrische Regierung weiterhin Hilfslieferungen in Gebieten außerhalb ihrer Kontrolle einschränkt oder verhindert. Allein im Nordwesten leben in solchen Gebieten mindestens vier Millionen Menschen in schlechten Bedingungen, die völlig auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Auch bewaffnete Oppositionsgruppen verhinderten Hilfslieferungen aus dem Regimegebiet. Darüber hinaus verhinderte die syrische Regierung Hilfslieferungen an die hauptsächlich kurdischen Stadtteile in Aleppo Stadt, die vom 'kurdischen Zivilrat' kontrolliert werden, und welche stark vom Erdbeben betroffen waren. Die kurdische Selbstverwaltung wurde von der Regierung bei Hilfslieferungen in Regierungsgebieten und den Nordwesten eingeschränkt, bzw. die Lieferungen verzögert. Im nördlichen Teil des Gouvernements schränkten pro-türkische Oppositionsgruppen die Lieferung von Hilfe an KurdInnen ein und behinderten Rettungsbemühungen (AI 2.2023).

Aufgrund der Erdbeben vom 6.2.2023 und (dem besonders starken Nachbeben) vom 20.2.2023 wird von der Weltbank ein Schrumpfen der Wirtschaft um 5,5 % prognostiziert. Wenn der Wiederaufbau vor dem Hintergrund beschränkter öffentlicher Ressourcen, schwacher privater Investitionen und beschränkt einlangender Hilfe langsamer als erwartet stattfinden sollte, könnte die Schrumpfung größer ausfallen (Weltbank 17.3.2023). Laut Einschätzung von Ärzte ohne Grenzen werden die Folgen des Erdbebens noch monate- und jahrelang in Nordsyrien spürbar sein. Menschen, deren Häuser nicht wiederaufgebaut werden können, werden in Lagern verbleiben (Standard 3.3.2023).

Die allgemeine sozioökonomische Lage

Die wirtschaftliche und die humanitäre Lage in Syrien bleibt laut deutschem Auswärtigem Amt desolat und hat sich durch das Erdbeben am 6.2.2023 noch einmal deutlich verschärft (AA 29.3.2023). Die UN Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic kam bereits in ihrem Bericht von September 2022 zu dem Schluss, dass sich Syrien in der schwersten wirtschaftlichen und humanitären Krise seit Ausbruch des Konflikts befindet (UNCOI 17.8.2022). Mehr als 90 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Aktuell sind mit steigender Tendenz 15,3 Mio. Menschen von humanitärer Hilfe abhängig (5 % bzw. 0,7 Mio. mehr als 2022), die jedoch laut Vereinten Nationen nicht in benötigtem Maße zur Verfügung gestellt werden kann. In Gebieten im Nordwesten und Nordosten Syriens sowie Landesteilen mit einem hohen Anteil an Binnenvertriebenen ist die humanitäre Lage weiterhin besonders angespannt. Die ohnehin schlechte Wirtschaftslage hat 2022 durch die rasant fortschreitende Devisen- und Währungskrise (Einbruch des BIP um 60 % zwischen 2010 und 2020, Währungsverfall des syrischen Pfunds um 51,7 % im Vergleich zum Vorjahresmonat (Februar 2022) und um 99,4 % gegenüber dem US-Dollar auf dem Schwarzmarkt seit Konfliktbeginn 2011) sowie durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und die Wirtschaftskrise im Libanon einen neuen Tiefpunkt erreicht (AA 29.3.2023). Landesweite Wirtschaftsindikatoren zeigen die Lage in Syrien jedoch nur unvollständig, weil die Situation regional unterschiedlich ist und davon abhängt, unter wessen Kontrolle das jeweilige Gebiet steht (BS 29.4.2020). Auch basiert das Zahlenmaterial teils auf Schätzungen oder Statistiken, die regionale Unterschiede missachten, nicht flächendeckend sind oder zu Propagandazwecken veröffentlicht werden (WKO 10.2019). Die syrische Regierung kontrolliert auch die Sammlung von Daten (EIP 7.2019).

Aufgrund deutlich gestiegener Lebensmittel- und Kraftstoffpreise hat sich in den letzten zwölf Monaten die Versorgungslage nochmals deutlich verschlechtert. Insgesamt sind 12,1 Mio. Menschen von Hunger bedroht (68 % der Bevölkerung), ein Anstieg von etwa 55 % seit 2019. Die Zahl der chronisch unterernährten Kinder (unter fünf Jahren) stieg von 553.000 (2022) auf 609.979 (2023). Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) sind 75.726 Kinder (zw. sechs und 59 Monaten) akut unterernährt. Nicht zuletzt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dürften sich diese Zahlen über das Jahr 2022 erhöht haben, auch aufgrund der Abhängigkeit insbesondere der Regimegebiete von Importen aus Russland. Die Kosten für Lebensmittel haben sich seit 2020 um über 800 % erhöht. Die Kosten für einen Lebensmittelkorb des Welternährungsprogramms haben sich um 91 % im Vergleich zum Vorjahr erhöht (AA 29.3.2023). Das Welternährungsprogramm führt Syrien noch vor dem Jemen als Land mit der weitesten Verbreitung von ungenügender Ernährung im Nahen Osten und Nordafrika an: 10,4 Millionen Menschen können nur ungenügend Nahrung zu sich nehmen. Das sind 58 % der Bevölkerung in den Gebieten Syriens, zu denen das Welternährungsprogramm Erhebungen durchführen konnte (WFP 10.5.2023). Der UN-Koordinator für Syrien warnte nach dem Erdbeben, dass die Zahlen für humanitären Bedarf nach oben revidiert werden müssen (UN News 8.2.2023).

Preise für Nahrungsmittel, Benzin und Gas sind extremen Preisschwankungen ausgesetzt, aber steigen tendenziell landesweit an. Der Mangel an Treibstoff und Elektrizität birgt laut United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA) Risiken für ca. sechs Mio. Menschen, die sich nicht angemessen vor Winterbedingungen schützen können, und dies betrifft nun 33 % mehr Haushalte als im zurückliegenden Jahr. Etwa 90 % aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse (Wasser, Strom) aus, in 48 % der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei (AA 29.3.2023).

Die Wintersaison 2023 war besonders herausfordernd für bereits fragile Gemeinschaften und Menschen mit bereits bestehenden gesundheitlichen und sozialen Schwächen. Die Wintermaßnahmen sollten ursprünglich zwei Mio. Menschen unterstützen, die überwiegend in Lagern leben und als am verletzlichsten eingestuft werden. Dazu gehören Binnenvertriebene (IDP), die bereits das zwölfte Jahr in Zelten oder provisorischen Unterkünften bei Minustemperaturen, Schnee und Regen verbracht haben. Hinzu kamen nach dem Erdbeben am 6.2.2023 laut UN-Angaben weitere 11.000 Familien aus verschiedenen Teilen Syriens, deren Häuser eingestürzt sind bzw. schwer beschädigt wurden. 5,37 Mio. brauchen Hilfe bei der Unterbringung. Die geplante humanitäre Reaktion ist in allen Bereichen erheblich unterfinanziert. Laut Humanitarian Response Plan (HRP) 2022-23, herausgegeben von UNOCHA, waren mit Stand Dezember 2022 lediglich 47,4 % der Bedarfe finanziert (AA 29.3.2023). Einer anderen Aussage vom 6.5.2023 zufolge waren trotz der Erdbeben nur sieben % des benötigten Betrags bisher für das ohnedies unterfinanzierte Hilfsprogramm eingelangt (Al-Jazeera 6.5.2023).

Aufgrund der Unterfinanzierung erreichten die humanitären Hilfen in den Bereichen Unterkunft und Non-Food-Items (NFI) mindestens 1,2 Mio. der angestrebten 2,2 Mio. Menschen nicht. 2023 gab es 5,3 Mio. NFI-Bedürftige, ein Zuwachs um 15 % zum Vorjahr. 85 % der Bevölkerung gaben an, dass ihr monatliches Einkommen nicht zur Deckung der notwendigen Ausgaben reiche. Ein Großteil der Bevölkerung verfügt nach zwölf Jahren Konflikt über keine Ersparnisse mehr, 69 % der Haushalte haben sich folglich seit 2021 weiter verschuldet. Von Frauen geführte Haushalte sind in besonderem Maß von der Krise betroffen. Rund 70 % der Bevölkerung machen von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch (z. B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten). Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich. Subventionierte Basisgüter sind nur in begrenztem Umfang und in Regime-kontrollierten Gebieten über eine elektronische Karte zu beziehen. Im Februar 2022 entzog Syriens Regierung über 600.000 Haushalten mit 2,5 Mio. Personen die Berechtigung zum Bezug subventionierter Güter (AA 29.3.2023).

Die wirtschaftliche Implosion und die damit verbundene Verarmung weiter Teile der Bevölkerung unterminieren auch die Loyalitäten von als regimenah geltenden Bevölkerungsgruppen, inklusive der Alawiten (ÖB Damaskus 12.2022).

- Nordwest-Syrien (Oppositionsgebiete):

Prekär blieb die humanitäre Lage auch im Nordwesten Syriens. Ca. 2,9 Mio. der aktuell ca. 4,6 Mio. dort lebenden Menschen sind nach Schätzungen von UNOCHA Binnenvertriebene, die infolge von Kampfhandlungen nach oder innerhalb Idlibs geflohen sind oder durch vom Regime betriebene 'Evakuierungen' aus zuvor belagerten Gebieten dorthin verbracht wurden. Die hohe Bevölkerungsdichte stellt eine besondere Herausforderung dar, wenn auch die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs aufgrund der Nähe zur Türkei teilweise besser als in Regimegebieten ist. Mittlerweile leben 1,8 Mio. Binnenvertriebene in Lagern, 2022 waren es 1,7 Mio. Die Vereinten Nationen gehen von einem Anstieg auf zwei Mio. bis Jahresende aus (AA 29.3.2023).

Fast jeder und jede in Nordwest-Syrien war vom Erdbeben betroffen. Mehr als 4.500 Menschen starben. Mehr als 10.500 Personen wurden verletzt, und mehr als 100.000 wurden laut UN-Angaben durch das Erdbeben vertrieben. Durch die Erdbeben kollabierten fast 2.000 Gebäude und mehr als 4.000 Gebäude wurden als unsicher oder unbewohnbar eingestuft. Viele können ohne externe Hilfe nicht ihre Unterkünfte wiederaufbauen, und Nachbeben bleiben eine Sorge. Hinzukommt der Verlust von Einkommensmöglichkeiten als Folge des Erdbebens (Al Jazeera 6.5.2023). Die hohen Raten an Lebensmittelunsicherheit in der Region wurden durch die Erdbeben verschärft ebenso wie die Dürre. Die am stärksten von den Erdbeben betroffenen Gebiete in Syrien haben bedeutenden Wassermangel erlebt und viel Ackerland wird nun zur Unterbringung von Menschen genutzt, welche durch die Erdbeben ihr Obdach verloren (TNH 6.6.2023).

Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Lage weiter zugespitzt. 97 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze (Stand 2022); etwa 90 % der Menschen in der Region sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mangelernährung stellt ein wachsendes Problem in der Region dar. 3,3 Mio. Menschen sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Laut OCHA hat weniger als eins von zehn Kindern Zugang zu adäquater und ausreichender Ernährung. Die grenzüberschreitende humanitäre Versorgung von 4,1 Mio. Menschen in Nordwestsyrien bleibt daher weiterhin essenziell. Im November 2022 erreichten die Hilfsmaßnahmen der UNO 2,47 Mio. Menschen. Nach Auslaufen der Resolution 2585 konnte die notwendige Hilfe der Vereinten Nationen über den Grenzübergang Bab al-Hawa bisher jeweils immer um sechs Monate verlängert werden. Der UN-Sicherheitsrat verlängerte die Öffnung des Grenzübergangs erneut am 9. Januar 2023 bis zum 10. Juli 2023 (AA 29.3.2023). So kann jeweils für die Dauer von sechs Monaten humanitäre Hilfe ohne Zustimmung der syrischen Regierung in das Gebiet gebracht werden (Al Jazeera 6.5.2023).

- Der Nordosten

Auch im Nordosten Syriens bleibt die humanitäre Lage angespannt. In Nordostsyrien leben 2,7 Mio. Menschen, von denen rund 1,8 Mio. auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Prekär bleibt die Situation besonders für die etwa 630.000 Binnenvertriebenen in der Region, von denen 89 % bereits seit mindestens vier Jahren vertrieben sind. Nur vier % dieser Personen planen, innerhalb des nächsten Jahres in ihre Heimatorte zurückzukehren (AA 29.3.2023).

Mitte 2020 führten die türkisch-kontrollierten Gebiete in Nordsyrien die türkische Lira als Währung ein, um das volatile syrische Pfund zu umgehen (AA 4.12.2020). Die türkische Lira hat jedoch im Jahr 2022 ungefähr 30 % ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren und 44 % bereits im Jahr davor (Reuters 9.3.2023). Da die türkische Lira im Nordwesten Syriens mittlerweile eine weitverbreitete Währung ist, hat ihre Abwertung negative Auswirkungen auf die Menschen und die humanitäre Hilfe (UNOCHA 16.12.2021). Im Dezember 2021 wurde von Panikkäufen aufgrund des Währungsverfalls der türkischen Lira berichtet (The National 8.12.2021). Die selbst ernannte 'syrische Errettungsregierung' hat daraufhin beschlossen, die Preise für Ölprodukte, die in den von Hay'at Tahrir ash-Sham kontrollierten Teilen des Gouvernements Idlib verkauft werden, in US-Dollar statt in türkischen Lira anzugeben (TSR 14.12.2021).

Die allgemeine Wirtschaftslage

Mit 2021 belief sich der wirtschaftliche Schaden des Kriegs auf 1,2 Billionen US-Dollar, hauptsächlich durch die Zerstörung von Infrastruktur und die massiven Vertreibungen durch Einsatz verbotener Kriegstaktiken primär durch die syrischen und russischen Streitkräfte (HRW 13.1.2022). Mit dem Abflauen des Konflikts dominieren die sich weiter verschlechternde katastrophale wirtschaftliche Lage und infolgedessen die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten die öffentliche Wahrnehmung und Kritik, auch teils seitens bisher regierungsloyaler Bevölkerungsgruppen. Die Wirtschaftskrise im Libanon, dem vor allem auch im Hinblick auf die Sanktionen eine zentrale Rolle als Umschlags-und Finanzplatz für die syrische Wirtschaft zukommt, und COVID-19 verschärften die Situation ab 2019 weiter. Es kommt immer wieder zu Verknappungen von Benzin und Diesel, der für Heizzwecke und angesichts der völlig unzureichenden öffentlichen Stromversorgung auch für Generatoren benötigt wird. Auch bei dem Grundnahrungsmittel Brot gibt es Engpässe. Die Preise für beide Güter wurden stark erhöht und die Subventionen zurückgefahren. Mit derzeit mehr als 15 Mio. von Nahrungsmittelunsicherheit betroffenen Menschen ist diese Zahl höher als am Höhepunkt des Konfliktes. Der Preis für den Nahrungsmittelkorb erhöhte sich seit 2019 um 800 %. Der Konflikt hat die soziale Ungleichheit verschärft. Die Gehälter bewegen sich zwischen 70.000 und 120.000 syrische Pfund (SYP), dies entspricht umgerechnet zum Marktkurs rund 20 bzw. 35 US-Dollar. 90 % der Menschen leben in Armut. Im Land begegnet überall der Eindruck des Fehlens jeglicher Hoffnung auf Besserung (ÖB Damaskus 12.2022), und die Wirtschaft taumelt am Rande des Kollaps (MEE 3.4.2023). Die Arbeitslosenrate wird auf 57 % geschätzt. Andererseits gibt es einen Mangel an qualifiziertem Personal in bestimmten Sektoren und Gebieten, u.a. bedingt durch die Vertreibung, Flucht und Abwanderung. Ein Drittel des Wohnungsbestandes wurde ganz oder teilweise zerstört (ÖB Damaskus 12.2022).

Nach zwei Jahren Wachstum brach die Wirtschaft 2020 um 8 % ein. Die Inflation betrug 2022 geschätzt 121,5 %. Der Verfall des syrischen Pfunds hat sich weiter beschleunigt. Einem offiziellen Kurs von 3.000 SYP/USD steht ein inoffizieller Kurs von 6.100 SYP/USD gegenüber, der Unterschied beträgt demnach bereits über 50 % und steigt weiter. Die Überweisungen der im Ausland lebenden Syrer bilden einen wesentlichen Plusposten. Die Währungsreserven sind von 21 Mrd. USD (2010) dem Vernehmen nach heuer zeitweise auf nur 100.000 USD gesunken. Der Verfall der Währung führt zur Verstärkung der wirtschaftlichen Zentrifugalkräfte in den Regionen. – Im Nordwesten wird verstärkt die türkische Lira im Zahlungsverkehr genützt. Das BIP schrumpfte auf ein Fünftel gegenüber 2010, das Budget beträgt real 2022 rund zehn des Budgets von 2010. Die Ölproduktion fiel von 380.000 auf 25.000 Barrel pro Tag. Der Konflikt verursachte auch erhebliche Schäden an der physischen Infrastruktur (ÖB Damaskus 12.2022).

Sieht man von Russland und Iran (v. a. im Grundstoffbereich) sowie in geringerem Ausmaß von China ab, sind keine größeren Auslandsinvestitionen zu erwarten; auch die syrische Diaspora zeigt sich sehr zurückhaltend. Die Voraussetzungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung sind derzeit nicht gegeben; die Perspektiven haben sich vielmehr verschlechtert. Mit dem Iran sieht sich ein wichtiger Kreditgeber und Erdöllieferant aufgrund der US-Sanktionen und aktuell aufgrund massiver Proteste im Land und weiterer Sanktionsschritte des Westens selbst massiv unter wirtschaftlichem Druck (ÖB Damaskus 12.2022).

Während die Staatsinstitutionen und -funktionen in Instrumente des Regimes transformiert wurden, wurden unter der Regimeführung illegale Wirtschaftsaktivitäten massiv ausgeweitet. Diese stellen nun eine immer wichtigere Einnahmequelle dar. Dazu gehören die Drogenproduktion (Captagon) im großen Stil, Schmuggel, Schutzgelderpressungen, informelle Besteuerung von Warenhandel über die Frontlinien hinweg, Erpressung etc. Hochrangige Militärs wie Maher al-Assad und die Vierte Division sind dabei zentral in dieser 'Parallelwirtschaft' (Brookings 27.1.2023).

Laut Economist stellen Produktion und Schmuggel von Drogen - besonders von Captagon - mittlerweile die Hauptquelle Syriens für Devisen dar (USDOS 20.3.2023), es stellt das wichtigste Exportgut des Landes dar (Spiegel 17.6.2022). Die Produktion und der Schmuggel erfolgen durch Elemente mit Verbindungen zu Regimefunktionären und der Hizbollah: Die Vierte Gepanzerte Division der Syrischen Armee und Maher al-Assad dominieren auch hierbei (USDOS 20.3.2023), bzw. verdienen mit (Spiegel 17.6.2022).

Größere Produktionsstätten liegen der folgenden Karte gemäß in und um Damaskus sowie in Lattakia sowie weiteren Regionen vor allem im Westen, Südwesten und Nordwesten des Landes. Im Gebietsstreifen zwischen Homs und Damaskus entlang der libanesischen Grenze ballen sich zahlreiche kleinere Produktionsstätten (Spiegel 17.6.2022).

https://stp-intern-p.justiz.cal.local/at.gv.bfa.coicms-p/services/file/be6595414adc0274c86085629e12018d10f08654

Quelle: Spiegel 17.6.2022

In Europa und dem Nahen Osten erfolgen große Beschlagnahmungen von Captagon, die aus regimekontrollierten Gebieten in Syrien stammten (USDOS 20.3.2023) [Zur Funktion von Captagon als Einnahmequelle siehe auch Kapitel Politische Lage]. Allerdings gibt es keinen Hinweis, dass die Captagon-Produktion der syrischen Bevölkerung in irgendeiner Weise wirtschaftlich helfen würde. Stattdessen scheint Captagon Syrien in einen 'Narco-Staat' mit einer Abhängigkeit vom Drogenhandel zu verwandeln, in welchem die Staatsführung - auch privat - finanziell profitiert. Durch die Einnahmen in US-Dollar ist der Captagon von besonderer Bedeutung, weil die Sanktionen gegen Syrien den Zugang zu Dollars unterbinden sollen. So helfen die Profite von Captagon bei der Bezahlung von Assad-Unterstützern, Milizen und Leibwächtern, und schützen so die Assad-Loyalisten vor ihren heimischen Gegnern (Soufan 13.4.2023). Haft, Folter und extralegale Hinrichtungen werden dabei nicht nur zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen und zur Aufrechterhaltung der Autorität eingesetzt, sondern auch zum Schutz der wirtschaftlichen Privilegien (Brookings 27.1.2023). Währenddessen erlebt die syrische Bevölkerung nach UN-Einschätzung vom März 2023 eines der schwersten Jahre, verschlechtert durch die Zerstörungen durch das Erdbeben und durch verschiedene kumulierende Entwicklungen davor, einschließlich der anhaltenden Cholera-Epidemie (UNFPA 28.3.2023).

Die Rolle der al-Muwafaqa al-Amniyeh (Sicherheitsgenehmigung) bei Wirtschaftstransaktionen im Regierungsgebiet

Sicherheitsgenehmigungen sind von Immobilientransaktionen bis hin zu kommerziellen oder industriellen Aktivitäten sowie Dienstleistungen - oder sogar für Künstler für ein Konzert nötig - ebenso für verschiedene Personenstandsangelegenheiten wie Registrierungen von Geburten und Todesfällen. Die Liste genehmigungspflichtiger Aktivitäten wurde stetig länger - wie z.B. das Mieten eines Hauses. Die Vollmachten für einige Personenstandsangelegenheiten wie Geburtenregistrierungen und Eheschließungen sowie Reisepässe und Freikäufe vom Wehrdienst (von Syrern im Ausland) wurden im Jahr 2018 wieder von der Regelung ausgenommen. So kann die syrische Regierung bezüglich Personenstandsangelegenheiten im Ausland am Laufenden bleiben, bzw. durch die Reisepass- und Befreiungsgebühren US-Dollars einnehmen. Vollmachten für vermisste und abwesende Personen bedürfen jedoch laut einem späteren Erlass weiterhin einer Sicherheitsgenehmigung, was für die Familien und besonders für weibliche Familienmitglieder von Vermissten nachteilige Folgen hat. Der Erlass bricht laut Beurteilung der NGO STJ (Syrians for Truth and Justice) syrisches Gesetz und die Verfassung. Die beiden Erlässe zu den Sicherheitsgenehmigungen dienen in Augen von STJ zur demografischen Umgestaltung von Gebieten, die zuvor von bewaffneten Oppositionsgruppen gehalten wurden. Auch verwenden Mitarbeiter des Sicherheitsapparats die Genehmigung zur Erpressung von BürgerInnen, verweigern diese auf Basis böswilliger Berichte oder profitieren durch Bestechungsgelder für die Erteilung der Genehmigung oder deren Beschleunigung (STJ 1.2023).

- Oppositionsgebiete

Auch Gebieten außerhalb staatlicher Kontrolle etablierten oder übernahmen die an der Macht befindlichen Bündnisse Institutionen, um ihre Autorität zu legitimieren. Neben rudimentären Sozialleistungen regulieren sie die lokalen Märkte und den Handel über Grenzen und Frontlinien hinweg. Sie verwalten die Verteilungen essenzieller Waren und humanitärer Hilfe und heben Steuern ein. Dies ermöglicht auch kriminelle Praktiken und Ausübung von Zwang, was das wirtschaftliche Überleben der bewaffneten Gruppen sichert, und ihre Anführer bereichert. Haft, Folter und extralegale Hinrichtungen werden nicht nur zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen und zur Aufrechterhaltung der Autorität der Gruppen eingesetzt, sondern auch zum Schutz ihrer wirtschaftlichen Vorteile. Während im Regimegebiet Organisierte Kriminalität staatliche Strukturen ausbeutet und durchdringt, kann in den Rebellengebieten eine Art 'Staatsaufbau' durch Organisierte Kriminalität wahrnehmen (Brookings 27.1.2023).

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Weltbank (17.3.2023): Earthquake undermines Syria’s Economic Outlook, Compounding Dire Socio-Economic Conditions, and Internal Displacement, https://www.worldbank.org/en/news/press-release/2023/03/17/earthquake-undermines-syria-s-economic-outlook-compounding-dire-socio-economic-conditions-and-internal-displacement, Zugriff 2.5.2023

WFP - World Foof Program (10.5.2023): HungerMapLIVE: Middle East and Northern Africa insights and key trends, https://static.hungermapdata.org/insight-reports/latest/rbc-summary.pdf, Zugriff 10.5.2023

WKO - Wirtschaftskammer Österreich – Außenwirtschaftscenter Amman (10.2019): Wirtschaftsbericht Syrien, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/syrien-wirtschaftsbericht.pdf, Zugriff 7.10.2020 [Der Link ist nicht mehr Zugänglich, die Daten sind bei der Staatendokumentation jedoch archiviert und abrufbar]

Zeit Online (15.2.2023): Syrische Erdbebenopfer erhalten offenbar viel zu wenig Hilfe, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-02/usaid-syrien-erdbeben-hilfe-zu-wenig, Zugriff 23.2.2023

Zugang zu Einkommen und Arbeit

Letzte Änderung 2023-07-12 14:36

Allgemeines zum Arbeitsmarkt

Im Verlauf des Konflikts hat sich eine Kriegsökonomie herausgebildet, von der die syrische Regierung und ihr nahestehende Individuen und Gruppen profitieren (AA 29.11.2021). Durch den Bürgerkrieg haben sich bestehende Einkommens- und Vermögensungleichheiten verschärft, indem gleichzeitig große Teile der Bevölkerung in die Armut getrieben, und die Konsolidierung einer wohlhabenden Wirtschaftselite in den von der Regierung kontrollierten Gebieten ermöglicht wurde. Die Mittelschicht ist landesweit verschwunden (BS 29.4.2020). 90 % der syrischen Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze (Omran 23.1.2023). Es zeichnet sich ein Muster der Ungleichheit innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete ab: Ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind anfälliger für die Verletzung ihrer wirtschaftlichen Freiheiten (durch Plünderungen und Einschüchterungen) und haben weniger Chancen, von Wiederaufbaugeldern zu profitieren. Die Entwicklungsungleichheit folgt zunehmend der historischen Loyalität einer Region gegenüber dem Regime Assads und nicht mehr dem ethnischen oder religiösen Status (BS 29.4.2020). Insbesondere in Gebieten, in denen lokal Ansässige mit (rückkehrenden) Binnenvertriebenen um Ressourcen konkurrieren – wie im Norden und Nordosten des Landes – bestehen kaum Beschäftigungsmöglichkeiten. Es gibt zudem erhebliche Unterschiede zwischen den Gebieten unter Kontrolle der syrischen Regierung, der kurdischen Selbstverwaltung und der Syrian Salvation Government im Nordwesten: In Regierungsgebieten haben 49 % der Haushalte mehr als einen Versorger. Im Nordosten sind es 33 %, im Nordwesten nur 21 %. Laut Medienberichten liegt die Arbeitslosenquote in Nordsyrien (West und Ost) bei etwa 85 % (AA 29.3.2023).

Mit dem Abflauen des Konflikts dominieren die katastrophale wirtschaftliche Lage und die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten die öffentliche Wahrnehmung und Kritik, auch seitens bisher regierungsloyaler Bevölkerungsgruppen (ÖB Damaskus 1.10.2021). Wirtschaftliche Verluste führten zum Verlust von Arbeitsplätzen. Bereits im Jahr 2020 gingen laut GIZ drei von vier Erwachsenen keiner beruflichen Tätigkeit mehr nach (GIZ 9.2020). Das deutsche Auswärtige Amt berichtete im selben Jahr hingegen, dass 50 % der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos waren (AA 4.12.2020). Binnenvertriebene und Flüchtlinge sind besonders vulnerabel bezüglich Ausbeutung in der Arbeit - auch in relativ stabilen Gebieten unter Regierungskontrolle, weil der Zugang zu Arbeit und Investitionskapital oft von persönlichen, politischen oder gemeinschaftsbasierten Zugehörigkeiten abhängt (FH 9.3.2023).

Der Think Tank Middle East Institute berichtete schon 2018, dass es in Damaskus immer schwieriger wurde, ohne Beziehungen (wasta) eine Arbeitsmöglichkeit zu finden (MEI 6.11.2018). Das Operations and Policy Center (OPC) veröffentlichte Daten, die darauf hindeuten, dass obwohl Menschen in Damaskus eine der längsten Arbeitswochen der Welt haben, ihre Ausgaben unter die globale Armutsgrenze fallen. Ein großer Teil der Menschen in Damaskus (und de facto ganz Syriens) sind auf externe Einkommensquellen angewiesen, um sich zu versorgen. Ein Viertel der im Rahmen des OPC-Berichts Befragten gaben an, dass Überweisungen aus dem Ausland eine Haupteinkommensquelle sind, während 41 % auf Bargeldzahlungen von Hilfsorganisationen angewiesen sind (OPC 22.6.2021).

Aufgrund von Treibstoffknappheit verteuern sich auch viele Grundprodukte, und die Preise öffentlicher Verkehrsmittel erhöhten sich teilweise um bis zu 200 % (AA 4.12.2020). Für viele Menschen kostet der Weg zur Arbeit inzwischen mehr Geld, als ihr Gehalt deckt (AA 29.11.2021). Von Jänner bis Mai 2022 stieg der Preis von Treibstoff um weitere 40 % (AM 29.6.2022).

Der öffentliche Sektor als richtungsweisender Teil des Arbeitsmarkts Syriens

Die syrische Regierung verwendet einen Großteil des bereits limitierten Staatshaushalts für die Instandhaltung der Armee und der Sicherheitsbehörden sowie für laufende Militäroperationen (AA 29.11.2021). Trotz der geringen Gehälter sind Stellen im Staatsdienst aufgrund weniger Alternativen, der Aussicht auf Bestechungsgelder und günstiger Kredite gefragt (New Lines 4.6.2021).

Der starke Wettbewerb um Stellen stellt sicher, dass nur diejenigen einen Posten bekommen, die am besten vernetzt sind und als loyal angesehen werden (New Lines 4.6.2021). Im Allgemeinen haben AlawitInnen, falls sie gute Beziehungen (auf Arabisch 'wasta') haben, viel bessere Chancen auf eine Arbeit im öffentlichen Sektor als andere Gruppen wie ChristInnen, sunnitische AraberInnen oder KurdInnen. Hinzukommt, dass diese Bevölkerungsgruppen von den Geheimdiensten angesprochen werden können, für sie als InformantInnen zu arbeiten, um ihre Arbeit ausüben zu dürfen (DIS 6.2019) [Anm.: weitere Informationen zum Informantenwesen siehe auch besonders Kapitel Rückkehr, Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen]. Offiziell wird unmittelbaren Angehörigen von gefallenen Soldaten und Soldaten, die ihren gewöhnlich mehr als acht Jahre dauernden Dienst abgeleistet haben, Vorrang eingeräumt. Allerdings ist auch in dieser Gruppe mit Vorrang die Arbeitslosigkeit hoch (New Lines 4.6.2021). Laut Einschätzung des Think Tanks Omran for Strategic Studies gilt der Eintritt in die Streitkräfte als 'die einzige vielversprechende Karriereoption für junge Syrer' im Regierungsgebiet (Omran 23.1.2023).

Vor 2011 betrug das durchschnittliche Gehalt für Staatsangestellte 20.000 syrische Lira, umgerechnet etwa 400 US-Dollar. Trotz wiederholter Gehaltserhöhungen konnten die Löhne nicht mit der Inflation Schritt halten: Ein Durchschnittsgehalt von 55.000 Lira ist ungefähr 15 US-Dollar wert und reicht aufgrund der Lebensmittelteuerung für ungefähr drei Tage, um eine fünfköpfige Familie mit Basisgütern zu versorgen. Daher bessern die Staatsangestellten ihre Einkommen mit Zusatzjobs [Anm.: im Privatsektor, siehe Omran 23.1.2023] und Bestechungsgeldern auf (New Lines 4.6.2021) oder sie sind von Überweisungen aus dem Ausland abhängig. Im Fall der Militärs verfügen sie über Einkommensquellen, die allesamt illegal sind: Plündern, Erpressung, Schutzgelderpressung und Checkpoint-Steuern. Dazukommt auch noch Korruption bei Einkäufen und Verträgen des Verteidigungsministerium, von der nur bestimmte Offiziere und Unteroffiziere profitieren (Omran 23.1.2023) [Anm.: zur Korruption zwischen Offizieren und ihren Untergebenen in Form von 'Tafyeesh' siehe Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen, Unterkapitel Streitkräfte].

Im Zuge des Kriegs fand gleichzeitig eine Aufwertung der Militärgehälter im Vergleich zu den Löhnen der Zivilangestellten des öffentlichen Diensts statt: So ist mittlerweile das Netto-Einstiegsgehalt eines einfachen Soldaten mit Gundschulabschluss (auch aufgrund der Steuerbefreiung) höher als das Einstiegsgehalt von AkademikerInnen mit Doktorat. Insgesamt fördert diese Bevorzugung des Militärapparats die Militarisierung der Gesellschaft, und vermittelt laut Omran for Strategic Studies die Botschaft an junge Leute, dass der Eintritt ins Militär einer (höheren) Schulbildung vorzuziehen ist. Diese Gehaltspolitik hat auch zur Verstärkung der Auswanderung besonders gebildeter Schichten geführt, wobei die Auswanderung junger Leute ebenfalls Teil dieser Politik ist, damit die AuslandssyrerInnen später Geld an ihre Familien überweisen. Das Regime profitiert dabei nicht nur von diesen Devisen, sondern auch von den sehr hohen Summen für die Befreiung vom Wehr- und Reservedienst (Omran 23.1.2023).

Das US-Außenministerium zieht weiterhin einen Bericht des Danish Immigration Service (DIS) heran, wonach das Regime das unerlaubte Verlassen, bzw. Fernbleiben von der Arbeit im öffentlichen Dienst als politische oder regierungsfeindliche Aktion ansieht (USDOS 20.3.2023): Von 2011 bis 2017 wurden ungefähr 138.000 derartige Fälle vor syrische Gerichte gebracht. Ein Urteil erfolgte in 50.000 Fällen, und die meisten Betroffenen wurden in absentia verurteilt. Im Fall einer Rückkehr riskieren die Verurteilten eine Verhaftung. Hochrangige ehemalige MitarbeiterInnen laufen Gefahr, unter dem Anti-Terror-Gesetz von 2012 angeklagt zu werden, weil ihr Verlassen des Diensts als politischer bzw. oppositioneller Akt ausgelegt wird. Fälschungen von Gerichtsurteilen werden eher von außerhalb Syriens als in Syrien berichtet. Die Amnestien von September 2019 und März 2020 decken auch Verurteilungen und offene Verfahren von ehemaligen Angestellten des öffentlichen Diensts, wenn das Verlassen des öffentlichen Diensts nicht als politisch motiviert eingestuft wird. Im Fall einer Rückkehr nach Syrien würde trotzdem erst eine Verhaftung bis zum Entscheid über eine etwaige Anwendung der Amnestie erfolgen (DIS 4.2021).

Auch ist der öffentliche Sektor von Treibstoffknappheiten betroffen, welche zu Verspätungen der MitarbeiterInnen oder in einigen Fällen zum Einstellen des Erscheinens bei der Arbeit aufgrund der hohen Transportkosten führten. So kam es im Jahr 2021 im April wegen der Treibstoffknappheit auch zu angeordneten Arbeitszeitreduzierungen für viele Angestellte um 60 % und zu einer ursprünglich für zwei Wochen angekündigten Schließung von Schulen und Universitäten, die jedoch Anfang Juni 2021 noch anhielt (New Lines 4.6.2021).

Quellen

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Ergänzende Informationen zum Zugang zu Lebensmitteln und humanitärer Hilfe

Letzte Änderung 2024-03-13 16:28

Ergänzende Informationen zur Lebensmittelversorgung

Mitte 2023 lebten mehr als 90 Prozent der SyrerInnen unter der Armutsgrenze, und mindestens zwölf Millionen SyrerInnen hatten keinen ausreichenden Zugang zu Lebensmittel oder konnten sich diese nicht ausreichend leisten. Mindestens 15 Millionnen SyrerInnen waren auf eine Form von Humanitärer Hilfe angewiesen, um zu überleben. Mehr als 600.000 Kinder waren chronisch unterernährt (HRW 11.1.2024). Die Kosten für Grundnahrungsmittel für eine Familie haben sich seit Kriegsbeginn mit Stand 2021 verdreißigfacht. 90 Prozent aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel aus, in drei Viertel der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei. Preise für Nahrungsmittel, Benzin und Gas sind extremen Preisschwankungen ausgesetzt, steigen tendenziell aber landesweit weiter an. 87 Prozent der Bevölkerung haben keinerlei Ersparnisse mehr, 71 Prozent der Haushalte haben sich seit 2019 weiter verschuldet. Von Frauen geführte Haushalte sind in besonderem Maß von der Krise betroffen. Rund 70 Prozent der Bevölkerung machen von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch, z. B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten. Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich: Mittlerweile sind subventionierte Basisgüter nur in begrenztem Umfang über eine elektronische Karte zu beziehen. Für viele Menschen kostet der Weg zur Arbeit inzwischen mehr Geld, als ihr Gehalt deckt (AA 29.11.2021).

Im Jahresverlauf 2020 stieg die Zahl der Menschen, deren Ernährung nicht gesichert ist, dramatisch an. Zu den Gebieten mit der größten Ernährungsunsicherheit gehörten Lattakia, Raqqa und Aleppo (FAO 13.8.2020). Anfang 2021 waren 12,4 Mio. Menschen in Syrien von Ernährungsunsicherheit betroffen (WFP 3.2021), eine Steigerung um 56 Prozent von 7,9 Millionen 2019 (UNOCHA 3.2021a). Mit Stand Januar 2023 benötigen 15,3 Millionen SyrerInnen humanitäre Hilfe und von diesen verfügen vier Fünftel nicht über genug Nahrung (BBC 31.1.2023). In Gebieten im Nordwesten und Nordosten Syriens sowie Landesteilen mit einem hohen Anteil an Binnenvertriebenen ist die humanitäre Lage besonders angespannt. Die kritische Versorgungslage hat in Regionen mit einem besonders hohen Anteil Binnenvertriebener (z. B. Provinz Idlib, aber auch Zufluchtsorte in den Provinzen Homs, Damaskus, Lattakia und Tartus) darüber hinaus vereinzelt zu Ablehnung und Abweisung von Neuankömmlingen geführt, die als Konkurrenten in Bezug auf die ohnehin sehr knappen Ressourcen gesehen werden (UNOCHA 3.2021b).

Im Februar 2022 wurde der Ausschluss von ungefähr 600.000 Familien vom Subventionsprogramm bekannt gegeben, das Gas und Heiztreibstoffe, Brot und andere Basisgüter wie Mehl und Zucker beinhaltet. Das löste Proteste in Suwaida sowie online aus (HRW 12.1.2023). Der Zugang zu Sozialleistungen wird auch häufig durch die geografische Lage und die politische Kontrolle bestimmt. In den von der Regierung kontrollierten Gebieten waren bestimmte Sozialleistungen eine wichtige Stütze für die 'Leistungsfähigkeit des Staates', vor allem der fortgesetzte Zugang zu subventioniertem Brot [Anm.: zu der Rangordnung beim Zugang siehe Unterkapitel Lebensmittelversorgung und Zugang zu humanitärer Hilfe]. Das Regime versucht jedoch auch, den Zugang zu Sozialleistungen in Rebellengebieten zu verhindern. Dies geschieht häufig durch die Ausbeutung von Hilfslieferungen an Checkpoints durch Regimekräfte sowie durch andere bewaffnete Gruppen. Mangelnde Überwachung bedingt außerdem, dass die Hilfe, selbst wenn sie die betroffenen Gebiete erreicht, oft nach politischen Loyalitäten oder familiären Verbindungen verteilt wird. Die Regierung verlässt sich zunehmend auf Wohltätigkeitsverbände bei der Vergabe von Sozialleistungen und Unterstützungen (BS 29.4.2020).

Es gibt erhebliche Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung zwischen Staat und Wirtschaftseliten mit einem in sich geschlossenen Kreis wirtschaftlicher Möglichkeiten (BS 29.4.2020). Konfessionelle und ethnische Zugehörigkeit, der Herkunftsort, der familiäre Hintergrund, etc. entscheiden über den Zugang zu Leistungen und Privilegien - oder deren Vorenthaltung. Dieser Umstand hat sich im Laufe der Konfliktjahre vertieft, da es weniger Ressourcen zu verteilen gibt, und das Misstrauen der Bürger in den vom Regime kontrollierten Gebieten gestiegen ist (BS 23.2.2022).

In Damaskus und den Gouvernements Lattakia und Tartus ist der Zugang zu Wasser, Elektrizität, Bildung und gesundheitlicher Versorgung grundlegend gewährleistet, während sich die Versorgungslage aufgrund der Wirtschaftskrise wieder deutlich verschlechtert hat (AA 4.12.2020). Einer von Mitte August bis Anfang September 2023 durchgeführten Befragung hauptsächlich im Bevölkerungssegment von 16 bis 35 Jahren zufolge geben in Damaskus 17 Prozent, in Aleppo 28 Prozent und in Homs 2 Prozent der Befragten an, nicht ausreichend Lebensmittel für ihre Familien zur Verfügung zu haben. In Damaskus kommen 32 Prozent gerade noch bei der Lebensmittelversorgung über die Runden. In Aleppo sind es 28 Prozent und in Homs 15 Prozent (SL/ STDOK 13.12.2023).

Trotz der Brotkrise weigerte sich das Regime oft, private Bäcker in Gebieten, die zuvor von der Opposition kontrolliert wurden, zuzulassen. Seit Kriegsbeginn zerstörten das Regime- und Pro-Regime-Kräfte systematisch Bäckereien und Öfen, was die Produktion und Verteilung von Brot in umstrittenen Gebieten einschränkte. Auch der Wiederaufbau von Bäckereien durch die Regierung erfolgt nach politischer Ausrichtung eines Viertels statt nach dem Bedarf. Human Rights Watch (HRW) berichtete, dass Regierungskräfte den Bäckereien Brot wegnahmen, um es am Schwarzmarkt zu verkaufen. Bäckereien mit Regierungsunterstützung haben separate Warteschlangen für Einwohner, IDPs, Militärs und Angehörige der Geheimdienste, wobei Kunden mit Regierungszugehörigkeit Vorrang haben (USDOS 20.3.2023). Wobei bereits im September 2020 berichtet wurde, dass die Benzin- und Brotknappheit typisch für Regierungsgebiete ist. Die Lebensmittelpreise sind erheblich gestiegen, wobei urbane Regionen stärker betroffen sind - auch Damaskus (UNHCR 3.2021).

Einschränkungen beim Zugang zu humanitärer Hilfe im Regierungsgebiet

Die Lebensmittelpreise stiegen in den beiden letzten Jahren um mehr als 500 Prozent, was die Deckung der Grundbedürfnisse für die zwölf Millionen SyrerInnen, welche unter Lebensmittelunsicherheit leiden, unerreichbar macht (WFP 19.10.2022). Der Anteil an Menschen mit Bedarf an humanitärer Hilfe stieg im Jahr 2021 um 21 Prozent und erreichte eine Gesamtzahl von 13,4 Millionen Menschen, von denen sich laut UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA) 1,48 Millionen in schwerster Not befanden (HRW 13.1.2022). Im Jahr 2022 wurde der bisherige Höchststand an humanitären Bedarf erreicht, und im Jahr 2023 benötigen 15,3 Millionen Menschen humanitäre Hilfe - eine Steigerung um 700.000 Personen im Vergleich zu 2022. Unter den von Lebensmittelunsicherheit Betroffenen befinden sich 3,75 Millionen Kinder (UNPFA 28.3.2023).

Der Syria Humanitarian Response Plan (HRP) erhält immer weniger Geld, möglicherweise wegen anderer Krisen wie jener in der Ukraine (UNPFA 28.3.2023). Laut UN-Aussage sind nur 11 Prozent der von der UNO budgetierten Hilfe für 2023 abseits der Erdbebennothilfe finanziert. Das Welternährungsprogramm (World Food Programme - WFP) der UNO hat seine Hilfe in Syrien reduziert - trotz ihres vorhergehend publizierten Hinweises einen Monat vor den Erdbeben, dass der Hunger in Syrien den Höchststand in den zwölf Jahren Krieg erreicht hat. Eine Verschlechterung der Lage seit den Erdbeben ist offensichtlich. Mit Juli 2023 mustte die Hilfe für 40 Prozent der RezipientInnen des WFP eingestellt werden. Im Dezember 2023 schrieb WFP, dass auch die gekürzten Rationen bald nicht mehr zur Verfügung stehen würden (WFP 19.12.2023).

Die syrische Regierung hält weiterhin strenge Restriktionen bei der Lieferung humanitärer Hilfe in den Regimegebieten Syriens und darüber hinaus im Land aufrecht. Hilfe wird zur Bestrafung oppositioneller Meinung umgeleitet. Fehlende Sicherungsmaßnahmen der Beschaffungspraxis von UN-Organisationen bergen ein ernstes Risiko, Missbräuchlichkeiten durch syrische Organisationen zu unterstützen (HRW 11.1.2024) [Anm.: siehe dazu auch Kapitel Medizinische Versorgung]. Die UNO-Organisationen müssen den Regierungsvorgaben gemäß Partnerschaften mit syrischen Organisationen unter Regimekontrolle wie dem Syria Trust und dem Syrian Arab Red Crescent eingehen. Als Maßnahme, um diese Kooperation sicherzustellen, verweigert das syrische Außenministerium Personen Visa, von denen sie eine mangelnde Zusammenarbeit erwartet (FDD 15.3.2023). Quasi-NGOs, besonders der von Präsidentengattin Asma al-Assad geführte Syria Trust, sind immer einflussreicher geworden, seit internationale NGOs gezwungen sind, ihre Hilfe über diese zu verteilen. Unterabteilungen des Syria Trusts wurden zwecks Profit von dieser Hilfe eingerichtet. Es gibt zudem den Trend, neue Quasi-NGOs zu gründen oder alte umzubenennen, sodass die Überwachung der Geber über deren Hintergrund verkompliziert wird (BS 23.2.2022). Selbst wenn das UN-Personal alle diese Herausforderungen meistert, so können syrische Sicherheitskräfte dennoch aus den Konvois Güter für sich entwenden. Zudem konnte sich Bashar al-Assad mehr als 100 Millionen US-Dollar von Hilfe in den Jahren 2019 bis 2020 durch die Manipulation der Wechselkurse aneignen (FDD 15.3.2023)

Mit der fortgesetzt steigenden Zahl an Syrern und Syrerinnen in Not wird die Regierung al-Assad immer versierter darin, humanitäre Unterstützung als politisches Instrument zu verwenden, weshalb Hilfe, die dem syrischen Volk helfen soll, in wachsendem Maß die Regierung politisch und finanziell stärkt. Sie schöpft Hilfe ab, zweckentfremdet sie und leitet sie für eigenen Zwecke um - sowohl in den Gebieten unter seiner Kontrolle wie auch in anderen Landesteilen, indem es den internationalen Zugang lenkt (CSIS 14.2.2022). Die syrische Regierung hat immer wieder auch humanitäre Hilfe als strategische Waffe eingesetzt, um ihre Konfliktziele zu erreichen, wie zum Beispiel während der Belagerung von Dara’a Stadt zwischen 24.6. und 26.7.2021 (COAR 19.7.2021). Auch wird z. B. die UNO daran gehindert, den Hilfsbedarf der Bevölkerung zu ermitteln (FDD 15.3.2023).

- Die Lage im oppositionellen Nordwesten vor dem Hintergrund der Erdbeben

Die Erdbeben verschlechterten die Lage in der Region, wo 4,1 Millionen Menschen - 90 Prozent der Bevölkerung - irgendeine Art humanitärer Hilfe benötigen, aber nicht unbedingt erhalten. Nach den Erdbeben benötigten noch mehr Leute Hilfe, während gleichzeitig die Lebensmittelpreise in die Höhe schossen, weil Straßen, Supermärkte und Bäckereien beschädigt waren. Noch im Juni 2023 waren die Preise weiterhin am Steigen, allerdings hauptsächlich wegen der anhaltenden Inflation der türkischen Lira, die ungefähr 77 Prozent ihres Werts gegen den US-Dollar über fünf Jahre hin verloren hat. Teile des Nordwestens unter Kontrolle der Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) führten die Türkische Lira im Jahr 2020 als Alternative zum fallenden Syrischen Pfund ein. Dazukommen neben den Erdbebenfolgen auch noch die Klimaschocks für die Landwirtschaft in Form der Dürre. Auf vielen Feldern stehen zudem nun die Behausungen für die durch die Erdbeben obdachlos gewordenen Menschen (TNH 6.6.2023).

Außerdem gelangen weniger Hilfsgüter in die Region - im Zeitraum Jänner bis Mai 2023 insgesamt 2.496 LKW-Ladungen über die seit dem Erdbeben drei vom Regime erlaubten Grenzübergänge zur Türkei. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 3.506 LKW-Ladungen (damals nur via Grenzübergang Bab al-Hawa). Hintergrund ist seit Längerem die Unterfinanzierung der Hilfsoperation für Nordwest-Syrien. Die von der UNO initiierte Erdbebennothilfe für Syrien von 398 Millionen US-Dollar ist allerdings voll finanziert, und die Hilfslieferungen über die syrisch-türkische Grenze wurden hochgefahren. Laut UN-Angaben erhielten auch mehr als eine halbe Million Menschen im Nordwesten nach den Erdbeben eine Geldhilfe, eine entscheidende Hilfe, welche nicht auf LKWs verladen werden muss (TNH 6.6.2023).

- Landwirtschaftliche Produktion

Die lange andauernden kriegerischen Handlungen führten auch zu einer Zerstörung der landwirtschaftlichen Infrastruktur. Die COVID-19-Krise hat dies noch weiter verschärft (FAO 13.8.2020). Der Agrarsektor, der vor dem Krieg zu rund einem Fünftel zum BIP beitrug, ist nach Schätzungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) seit 2011 um 90 Prozent eingebrochen. Damit ist Syrien als vormaliger Agrarexporteur mittlerweile auf Nahrungsmittelimporte angewiesen, insbesondere auch aus Russland. Ein wesentlicher Teil der syrischen Agrarprodukte (Weizen, Oliven(-öl), Gemüse) wird teils in oppositionellen Gebieten produziert (Idlib, al-Hassakah). Für die Nahrungsversorgung der syrischen Bevölkerung spielt Weizen eine tragende Rolle. Der Bedarf an Weizen für Syrien wird laut FAO auf ca. 3,5 Mio. Tonnen pro Jahr geschätzt. Während die Produktion 2007 noch 4 Mio. Tonnen betrug, lag sie 2022 laut FAO bei nur noch 1,05 Mio. Tonnen. Der Ertrag des Gerstenanbaus ist ebenfalls stark zurückgegangen, er fiel im Vergleich zum Vorjahr um 75 Prozent. Anfang 2023 waren etwa 15 Mio. SyrerInnen auf Lebensmittelhilfen angewiesen. Die starke Dürre 2020/2021 im Nordosten, wo 80 Prozent der jährlichen Getreideproduktion Syriens erwirtschaftet wird, hatte fatale Auswirkungen auf die Ernteerträge. 40 Prozent der Ackerflächen liegen brach, in al-Hassakah sogar die Hälfte. Die VN sprachen von der schlimmsten Trockenheit seit 70 Jahren. Die Situation hat sich seither nicht verbessert, die VN rechnen aufgrund hoher Temperaturen und Trockenheit mit schweren Ernteausfällen auch für 2023. Laut einer OPC-Studie (Juni 2022) sind womöglich noch weniger Anbauflächen nutzbar als 2021 (AA 29.3.2023).

Neben der Dürre sind viele Anbaugebiete durch Kampfmittel schwer kontaminiert, was ihre Nutzung teilweise unmöglich macht. Die Transportwege in Regimegebiete sind teils blockiert oder aufgrund zahlreicher Straßensperren, an denen Milizen Wegzoll verlangen, sehr teuer. Das syrische Regime hat nach glaubhaften Berichten gezielt die Zerstörung von Anbaugebieten, Lebensmittelvorräten und Saatgut in von der Opposition gehaltenen Gebieten als Mittel der Kriegsführung eingesetzt und versucht, gleichzeitig so viel der Weizenernte im Nordosten wie möglich aufzukaufen – aufgrund der knappen Devisen mit nur mäßigem Erfolg (AA 29.3.2023). Auch im Nordosten sorgen rasant steigende Lebensmittelpreise, wachsende Sicherheitsprobleme und eine Verdopplung der Bevölkerung durch IDPs für eine vergrößerte Armutsrate. Viele Menschen sind nun auf humanitäre Hilfe für ihr Überleben angewiesen, aber Budgetknappheiten (der Hilfsorganisationen) und logistische Einschränkungen bedeuten, dass nicht alle Hilfsbedürftigen erreicht werden. Die UNO hat Schwierigkeiten, Hilfe in das Gebiet zu bekommen seit Russland und China im Jahr 2020 die Resolution über die Fortsetzung von Hilfslieferungen über einen irakischen Grenzübergang blockierten. Seither sind die Menschen im Nordosten auf Hilfslieferungen via Regimegebiet angewiesen. Was davon dann im Nordosten ankommt, geht meist in IDP-Lager und die am meisten vom Krieg getroffenen Gebiete wie Raqqa und Deir ez-Zor, während die ländlichen Gebiete dazwischen quasi übersehen werden (BBC 31.1.2023).

Quellen:

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Wohnsituation und Infrastruktur

Letzte Änderung 2024-03-13 16:29

Wohnsituation sowie Enteignungen

Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren. Seit 2011 bis 2021 wurden mehr als 50 neue Gesetze und Verordnungen zur Stadtplanung und -entwicklung erlassen, welche die Regelung der Eigentumsrechte und der Besitzverhältnisse vor Konfliktbeginn infrage stellen (AA 29.11.2021). Einer Untersuchung der Weltbank (2017) zufolge ist ein Drittel des gesamten Bestandes an Häusern und Wohnungen in Syrien im Rahmen des Konfliktes in Mitleidenschaft gezogen worden, wobei sieben Prozent zerstört und 20 Prozent beschädigt sind. Aufgrund der Kämpfe in den sog. Deeskalationszonen (Ost-Ghouta, Dara’a, Homs, Idlib), v. a. 2018, dürfte der Schaden an Infrastruktur heute noch höher sein (AA 29.3.2023). In Gebieten, welche von der Regierung zurückerobert wurden, berichtete die Mehrheit der von Human Rights Watch interviewten Personen über komplett oder teilweise zerstörte Häuser, deren Wiederaufbau oder Renovierung sie sich nicht leisten konnten. Die syrische Regierung stellt keine Wiederaufbauhilfe zur Verfügung - auch nicht Jahre nach der Rückeroberung. Daher leben viele BewohnerInnen in behelfsmäßigen Zelten, weil sie es sich nicht leisten können, anderswo etwas zu mieten (HRW 13.1.2022). Mindestens 5,7 Mio. Menschen lebten vor dem Erdbeben im Februar 2023 in von UNHCR als 'unzulänglich' kategorisierten Unterkünften, vielfach ohne Heizung und entsprechende Isolierung gegen Kälte und Regen. Aufgrund der Erdbebenkatastrophe sind laut UNHCR weitere 5,37 Mio. Menschen in Syrien auf Hilfe bei der Unterbringung (Shelter Assistance) angewiesen. Laut einer Studie der NGO Norwegian Refugee Council von Mai 2022 kann nur einer von zehn Syrern die monatlichen Ausgaben, wie etwa für Miete, Strom und Lebensmittel, bezahlen. Im Dezember 2022 lebten in Syrien 2,05 Mio. Menschen in informellen Behausungen und Lagern. Von den Binnenflüchtlingen in Lagern leben 57 Prozent in Zelten bzw. provisorischen Unterkünften, außerhalb der Lager sind es zwei Prozent. Das Gros (etwa 85 Prozent) lebt in Nordwestsyrien – in Aleppo und Idlib (2018: 670.000). Laut einer Studie des Humanitarian Needs Assessment Programme der Vereinten Nationen (VN) von 2020 wohnen 17 Prozent der Binnenvertriebenen in Nordwestsyrien in zerstörten Behausungen, zudem gaben 67 Prozent an, in beschädigten Unterkünften zu leben (AA 29.3.2023). Bei einer Mitte August bis Anfang September 2023 durchgeführten Befragung hauptsächlich im Bevölkerungssegment von 16 bis 35 Jahren gaben 50 Prozent der in Homs Befragten an, sich die Wohnkosten, wie Miete, Strom, Wasser, Heizung, kaum leisten zu können. In Damaskus und Aleppo waren es je 27 Prozent. In Aleppo konnten 24 Prozent der Befragten das Geld für die Wohnkosten nicht aufbringen, in Damaskus 13 Prozent und in Homs vier Prozent (SL/ STDOK 13.12.2023) [Anm.: bzgl. des Einflusses der Erdbeben auf den Zugang zu Obdach siehe auch Überkapitel Grundversorgung und Wirtschaft].

In Damaskus haben sich fast eine Million Binnenvertriebene vorübergehend oder dauerhaft niedergelassen, während ein großer Teil der Wohnhäuser am ehemals von den Rebellen gehaltenen östlichen und südlichen Stadtrand zerstört ist (Wind/Ibrahim 2.2020). Die Nachfrage nach Wohnraum ist enorm, während das Angebot auf dem Wohnungsmarkt begrenzt ist. Neue Stadtentwicklungsprojekte sind luxuriös und unerschwinglich für Familien, die ihr Zuhause aufgrund des Krieges verloren haben. Daher hat der informelle Wohnungsbau am südlichen und nördlichen Rand der Stadt stark zugenommen (Wind/Ibrahim 2.2020; vgl. Syria Times 21.6.2020). Aufgrund der Abwertung des syrischen Pfunds sind die Wohnungspreise im Laufe des Jahres 2020 stark gestiegen (Syria Times 21.6.2020). Bereits im Jahr 2021 überstiegen die Preise in und um Damaskus das Durchschnittsgehalt der Angestellten im öffentlichen Dienst (DIS 10.2021). Bereits im September 2012 hat die syrische Regierung mit Präsidialdekret 66/2012 eine rechtliche Grundlage für die Ausweisung von Stadtentwicklungsgebieten in zwei informellen Siedlungen in Damaskus (Marota City im Stadtteil Basateen al-Razi und Basilia City in mehreren südlichen Stadtvierteln) geschaffen. Da viele geflohene oder vertriebene Bewohner nicht nach Syrien zurückkehren konnten, um ihre Eigentumsrechte geltend zu machen, bzw. keine Eigentumsdokumente vorweisen konnten, verloren in Marota rund 50.000 Menschen ihr Zuhause ohne angemessene Entschädigung oder Erhalt einer alternativen Unterkunft (AA 29.11.2021).

Übereinstimmenden Berichten von VN und Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) und Betroffenen zufolge werden Verstöße gegen Wohn-, Land- und Eigentumsrechte (Housing, Land and Property – HLP) seitens des Regimes fortgesetzt. Dies dokumentiert auch die CoI (die von den VN eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) in ihrem Bericht von September 2022. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut diesen Berichten haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert. Zudem ist nach wie vor eine großflächige Enteignung in Form von Zerstörung und Abriss von Häusern und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten unter Anwendung der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Nr. 19/2012 und Dekret 63/2012) zu verzeichnen. Sie erlaubt es, gezielt gegen Inhaftierte, MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich an Protesten gegen das Regime beteiligen oder beteiligt haben, vorzugehen und deren Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen. Auf der Grundlage des Dekrets 63/2012 wurde die vorsorgliche Beschlagnahme von Eigentum und Vermögen von mindestens 10.000 Personen gerechtfertigt. Diese Form der Bestrafung führt nicht nur zu Repressalien gegen die Inhaftierten, sondern dient auch als kollektive Bestrafung von deren Familien. Die Ausübung von Eigentumsrechten wird außerdem behindert, indem für die Gültigkeit von Kauf- oder Mietverträgen eine Sicherheitsüberprüfung verlangt wird, in welcher die Familienmitglieder auf angebliche terroristische Aktivitäten sowie auf die Flucht außer Landes überprüft werden und ob sich die AntragstellerInnen aus einem Oppositionsgebiet zurückkehren. Zudem erlaubt Dekret 63/2012 dem Finanzministerium den Besitz und das Vermögen aller, die unter die Anti-Terror-Gesetzgebung fallen, zu beschlagnahmen. Laut eines Berichts des Syrian Network for Human Rights (SNHR) wurden zwischen 2014 und Oktober 2020 mindestens 3.970 solcher Fälle dokumentiert. Die Konfiszierungslisten sollen neben den Daten der Betroffenen selbst, auch die Namen ihrer Familienmitglieder enthalten. Die Anwendung des Dekrets kann auch auf diese ausgedehnt werden. Das Regime konfisziert Eigentum nicht nur unter rechtlichem Vorwand, sondern beschlagnahmt auch Grundstücke von Gefangenen, Oppositionellen und Vertriebenen für militärische Zwecke und zum Verkauf an iranische Milizionäre (AA 2.2.2024).

In wiedereroberten Teilen von Idlib und Hama konfiszieren so z. B. die syrischen Behörden mittels Pro-Regime-Milizen und der staatlich kontrollierten Bauerngewerkschaft ungesetzlicherweise die Heime und das Land von SyrerInnen, welche vor den syrisch-russischen Angriffen geflüchtet waren. Der Besitz wird dann durch Auktionen versteigert (HRW 13.1.2022). Auch 2023 wurde diese Praxis laut Human Rights Watch (HRW) weiter fortgesetzt (HRW 11.1.2024). Zu Beginn 2021 beschlagnahmte das Regime mehr als 44.000 ha landwirtschaftliche Flächen in den Gouvernements Hama, Aleppo und Idlib, und gab diese öffentlich zur Versteigerung frei. Diese Flächen waren als Land in Staatseigentum ('Amiriland') zur langfristigen Nutzung im Besitz von im Konflikt vertriebenen Syrern, von denen sich die meisten außerhalb des Landes befinden und deshalb ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Bewirtschaftung des Bodens nicht nachkommen konnten (AA 29.11.2021). In Ost-Ghouta und Douma hat die Regierung viele Grundstücke beschlagnahmt, die in erster Linie Personen gehören, die nach Nordsyrien oder in die Türkei vertrieben wurden oder die vom Militär zu anderen bewaffneten Kräften übergelaufen sind. Diese Grundstücke wurden an Familien von Militärangehörigen vergeben oder werden als militärische Quartiere genutzt (AA 2.2.2024).

Während des gesamten Konflikts gab es zudem Berichte über Luftangriffe, die direkt auf Standes- und Katasterämter abzielten. Dadurch wurden in großem Umfang Personenstands- und Eigentumsdokumente zerstört, sodass es für viele Menschen schwierig ist, ihre Eigentumsansprüche nachzuweisen. Mit dem Gesetz 10/2016 hat das Regime bestimmte Gebiete - insbesondere Gebiete außerhalb der staatlichen Kontrolle - als 'Sicherheitsrisiko' eingestuft, um damit Änderungen in den Eigentumsregistern in diesen Gebieten zu verbieten. Immobilientransaktionen von SyrerInnen in Gebieten außerhalb der Kontrolle der Regierung werden damit nicht anerkannt. Weiterhin wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern (AA 2.2.2024).

Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist. Das syrische Wehrpflichtgesetz (Art. 97) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 2.2.2024). Im Februar 2021 veröffentlichte das Ministerium für Medien und Information ein Video des Chefs der Abteilung für die Befreiung vom Militärdienst der syrischen Armee, in dem dieser die sofortige Beschlagnahme von Vermögenswerten ohne vorherige Benachrichtigung ankündigte, sofern die Zahlung des Ersatzgeldes nicht bis spätestens drei Monate nach Vollendung des 43. Lebensjahres erfolge. Eine Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten bzw. gerichtlich überprüfen zu lassen, fehlt laut Human Rights Watch. Außerdem wird dadurch ein zusätzliches Rückkehrhindernis geschaffen (AA 29.11.2021).

Milizen konfiszieren in unterschiedlichem Ausmaß Privatbesitz. Das Gesetz Nr. 10 von 2018 erlaubt dem Staat, Gebiete für den Wiederaufbau zu bestimmen. Personen, welche eine Anzahl von Kriterien zum Beweis ihres Besitzes nicht erfüllen können, riskieren diesen ohne Kompensation zu verlieren (FH 9.3.2023). Die Eigentümer werden innerhalb einer einmonatigen Ankündigungsfrist verständigt und haben dann ein Jahr Zeit, ihre Eigentumsansprüche einzubringen, damit sie Anspruch auf Kompensation (auch Eigentumsansprüche auf neu errichtete Wohneinheiten auf ihren Grundstücken) erheben können. Anvisierte Bezirke oder Gebiete waren zuvor mehrheitlich in der Hand der Rebellen. De facto stellt dies auch eine Enteignung jener Flüchtlinge dar, die aus Angst vor politischer Verfolgung oder aus anderen Gründen nicht nach Syrien zurückkehren können, um ihre Ansprüche anzumelden (WKO 10.2019). Die in Dekret 10/2018 festgelegte Vorgehensweise bei der Berechnung des Entschädigungswerts bei Neubebauung kommt laut UN-Experten einer „marktbasierten Enteignung“ gleich. Die meisten Binnenvertriebenen oder Flüchtlinge haben weder ausreichend Ressourcen noch die notwendigen Urkunden, um ihren Anspruch zu registrieren (AA 29.11.2021).

Dekret 42/2018 wurde bislang nicht umgesetzt. Stattdessen findet zunehmend Dekret 23/2015 Anwendung, demzufolge Grundstücke auch in Abwesenheit der ursprünglichen Eigentümer genutzt werden können. Insbesondere informelle Viertel, die aufgrund der rapiden Urbanisierung in den 1980er und 1990er-Jahren in den meisten syrischen Städten entstanden waren, sind der Regierung ein Dorn im Auge. Eigentumsverhältnisse sind für von dort geflohene Bewohner nur schwer nachweisbar. Zahlreiche syrische Staatsangehörige scheuen zudem den Kontakt mit offiziellen staatlichen Stellen, weil sie Befragungen durch die Sicherheitsbehörden befürchten. Menschen aus ehemals belagerten Gebieten trauen sich oftmals aus Angst vor Repressionen nicht, persönlich die Ausstellung eigener Personenstandsdokumente zu beantragen. Bei Anwendung von Gesetz 10/2018 könnten daher zahlreiche Rückkehrerinnen und Rückkehrer kurz- bis mittelfristig enteignet werden. Es gibt außerdem immer wieder Berichte über Rückkehrende, die verhaftet wurden, als sie ihre Besitzansprüche gegenüber syrischen Behörden geltend machen wollten (AA 29.11.2021).

Frauen sind bezüglich Grundstückbesitzes mit gesellschaftlichen Normen konfrontiert, welche Frauen bzgl. Immobilienbesitz entmutigen, zusätzlich zu Personenstandsgesetzen, die Frauen bei Erbschaften diskriminieren (FH 9.3.2023).

In der selbsternannten Autonomieverwaltung AANES (Autonomous Administration of North and East Syria) wird die dortige angewachsene Zahl an Immobilienstreitfällen (auch durch gefälschte Dokumente) durch die Existenz zweier Rechtssysteme - dem nationalen und dem der AANES - für die Betroffenen erschwert, wobei die AANES-Gerichte mangels eigener Landregister auf die Unterlagen der Regierungsgerichte zurückgreifen müssen. Das Problem der Immobilienstreitigkeiten aufgrund gefälschter Dokumente ist mittlerweile in mehreren syrischen Provinzen verbreitet und führte zu mehreren Erlässen des syrischen Justizministeriums, um das Phänomen einzudämmen (Enab 31.1.2023).

Infrastruktur allgemein

Unterschiedlichen Schätzungen zufolge könnten die Kosten des Wiederaufbaus bei 250 bis 400 Milliarden oder sogar einer Billion US-Dollar liegen (SWP 20.7.2020). Im Verlauf der bewaffneten Auseinandersetzungen ist Syriens Infrastruktur weitgehend zerstört worden. Dies betrifft vor allem den Energiesektor inklusive Öl- und Gasförderung sowie Elektrizitätswerke, Straßen und Transportwege sowie Wasser- und Abwasserversorgung. Zu massiven Schäden kam es ebenso beim Wohnungsbestand, bei Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie in der Landwirtschaft. Dabei sind die Kriegsschäden sehr ungleich verteilt. Schwere Zerstörungen gibt es vor allem in jenen Gebieten, die teils jahrelang umkämpft waren, und die durch das Regime und seine Verbündeten von den Rebellen oder dem sogenannten Islamischen Staat (IS) zurückerobert wurden. Insbesondere gilt das für die östlichen Vororte von Damaskus, für Yarmouk, ein Flüchtlingscamp am Südrand der Hauptstadt, ebenso für Ost-Aleppo, Raqqa, Homs und Hama. Vor allem in den (vormals) umkämpften Orten ist die Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen, Schulbildung, Trinkwasser und Elektrizität erheblich eingeschränkt (SWP 20.4.2020).

Die syrische Regierung bemüht sich, den Wiederaufbau voranzutreiben, doch kann dieser im Hinblick auf die Dimension der Zerstörung im Land im Moment nur als sehr eingeschränkt und sehr punktuell bezeichnet werden. Die Ankündigung von Projekten dient eher der internen Propaganda, bzw. dem Versuch, vor allem in Gebieten, in denen die syrische Regierung erst seit Kurzem wieder die Kontrolle erlangt hat, ein politisches Signal zu senden, und die Präsenz des Staates zu bekräftigen (WKO 10.2019). Erhebliche Teile bestimmter Städte wurden durch den Konflikt teils stark zerstört und sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar, wie z.B. Teile von Homs, Ost-Aleppo, Raqqa, die Vororte von Damaskus, Deir ez-Zour, Dara‘a und Idlib. Im vom sogenannten Islamischen Staat (IS) befreiten Raqqa ist das Ausmaß der Zerstörung sehr hoch, hinzukommt die immense Kontaminierung durch nicht explodierte Munition und IS-Sprengfallen. Am wenigsten vom Konflikt betroffen sind neben dem Stadtzentrum der Hauptstadt Damaskus die Hafenstädte Tartus und Lattakia (AA 4.12.2020). Die Stadt Damaskus erstreckt sich über eine große Fläche, und der Beschädigungsgrad variiert stark. Es gibt Stadtteile, die dem Erdboden gleichgemacht wurden, andere weisen klare Spuren des Krieges auf, und wiederum andere sehen mit Ausnahme der Checkpoints und der starken Militärpräsenz so aus wie vor dem Krieg (WKO 11.2018). Vor allem im westlichen Teil des Landes ist aufgrund der weiterhin vorhandenen Strukturen und neu angesiedelter Industriebetriebe eine stärkere wirtschaftliche Entwicklung zu beobachten. Von einer Normalisierung der Wirtschaft ist man nach wie vor jedoch weit entfernt (WKO 10.2019).

Das öffentliche Verkehrssystem in Syrien funktionierte mit Stand 2021 kaum noch: Es war für die Fahrer viel profitabler, ihre subventionierten Treibstoffrationen auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Das führte zu langen Wartezeiten zu Beginn und am Ende der Arbeitstage. Dies traf auch den öffentlichen Dienst in Form zu spät kommender Angestellter und in Form von Nicht-Erscheinen an vielen Arbeitstagen von Angestellten aufgrund der hohen Transportkosten (New Lines 4.6.2021). Im Februar 2023 war z. B. in Lattakia der Preis für Diesel, der in der Landwirtschaft, im Transport und zum Heizen benötigt wird, 14-mal höher als drei Jahre zuvor (WFP 14.3.2023). Im nordwestlichen Syrien, wo außerhalb der Regierungskontrolle die türkische Lira eingeführt wurde, wächst die Schere zwischen niedrigen Einkommen und steigenden Preisen für Treibstoffe und Transport weiter (The New Arab 26.5.2023).

Wasser- und Stromversorgung

13,6 Mio. Menschen benötigen im Jahr 2023 Zugang zu Trinkwasser, Sanitär- und Hygieneeinrichtungen, darunter 6 Mio. Kinder - ein Anstieg um 2,6 Prozent zum Vorjahr (AA 29.3.2023).

- Zugang zu Trinkwasser

Syriens sieben größte Trinkwasseranlagen versorgen etwa 9,5 Mio. Menschen. Die maroden Systeme verfallen aufgrund von Konflikt und fehlender Wartung zunehmend. Die Trinkwasser- und Elektrizitätsversorgung ist infolge gezielter Zerstörung vor allem in umkämpften Gebieten eingeschränkt. Für viele SyrerInnen bedeutet der Kauf von Trinkwasser eine große finanzielle Belastung: Haushalte geben sieben Prozent ihres monatlichen Einkommens für Wasser aus. Anfang 2023 hatten 52 Prozent der syrischen Bevölkerung keinen Zugang zur regulären leitungsbasierten Wasserversorgung, im Vorjahr waren es 47 Prozent. 6,9 Mio. Menschen erhalten nur 2-7 Tage im Monat Leitungswasser, da u. a. nicht ausreichend Strom für die Pumpwerke vorhanden ist. Insbesondere der Süden (Gouvernements Dara‘a und Quneitra), der Norden (Gouvernements Idlib, Aleppo, al-Hassakah) sowie nahezu die gesamte in Zeltlagern lebende Bevölkerung ist nach wie vor in hohem Maße auf durch Lastwagen im Rahmen der humanitären Hilfe geliefertes Wasser angewiesen (AA 29.3.2023). In einer Befragung von in den drei größten Städten lebenden Syrern im Alter zwischen 16 und 35 Jahren Mitte August bis Anfang September 2023 gaben 12 Prozent der Befragten in Aleppo an, keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser zu haben, in Damaskus und Homs waren es 2 Prozent der Befragten. 28 Prozent in Homs, 15 Prozent in Aleppo und 8 Prozent in Damaskus haben selten Zugang zu sauberem Trinkwasser (SL/ STDOK 13.12.2023).

Die Krise gefährdet die Wasserversorgung von rund 5,5 Mio. Menschen, die in den an den Euphrat grenzenden Provinzen leben. Das Generaldirektorat der EU-Kommission für Zivilschutz und humanitäre Hilfsmaßnahmen (ECHO) warnte im Juli 2022 mit Verweis auf Wetterprognosen der World Meteorological Organisation (WMO) vor einer "extremen und langfristigen" Dürre in Syrien (AA 29.3.2023) [Anm.: zur Wassersituation in Relation zum Ausbruch der Cholera siehe Kapitel Medizinische Versorgung und Überkapitel Grundversorgung und Wirtschaft]. Die regenarme Saison, die zu Wasserknappheit und dürftiger Ernte geführt hatte, führte bereits früher in Nordsyrien zu Spannungen. Die Wasserknappheit verschlimmert sich durch den Einsatz von Wasserversorgung als Waffe durch die Konfliktparteien, besonders durch das Regime, die Autonome Administration und die Türkei, sowie durch das Missmanagement und die Übernutzung des Grundwassers (COAR 5.7.2021). Zusätzlich dazu gefährdet der Konflitk zwischen der Türkei und der AANES den Zugang zu Wasser von fast einer Million Menschen in al-Hasakah und Umgebung (HRW 11.1.2024). Neben dem humanitären und gesundheitlichen Aspekt der Zerstörung der Wasserinfrastruktur trägt dies auch zu einem Wassermangel bei der landwirtschaftlichen Bewässerung bei (Insecurity 19.4.2023).

Im Sommer 2021 wurde der Nordosten von einer Wasserkrise heimgesucht, wie sie zuletzt 2008 stattfand (AA 29.3.2023): In al-Hassakah hatten im Jahr 2021 eine Million Menschen seit fast zwei Jahren keinen Zugang mehr zu Wasser (MSF 27.9.2021). Diese dreifache Wasserkrise bestand aus: (1) einer Dürre aufgrund geringer Niederschläge im Winter, (2) einem überdurchschnittlich niedrigen Wasserstand am Euphrat (200m³/s statt 500m³/s Durchfluss) und (3) häufigen Unterbrechungen im Wassersystem, allen voran der Alouk-Wasserstation, die knapp 460.000 Menschen in al-Hassakah inklusive der Flüchtlingslager Roj und Al-Hol versorgt (AA 29.3.2023). Neben einem Sommer mit extrem wenig Niederschlag im Jahr 2021 machten Vertreter der kurdisch geführten Verwaltung die türkische Regierung für die Verlangsamung der Wassermenge, die über den Euphrat ins Land fließt, verantwortlich (TNH 20.12.2021).

Aufgrund zerstörter Kläranlagen werden mindestens 70 Prozent des Abwassers nicht behandelt (AA 29.3.2023). Medienberichten zufolge erreicht die Verschmutzung wichtiger Gewässer ein kritisches Niveau. In vielen Gebieten ist das verschmutzte Wasser nicht mehr für den Konsum geeignet (TNH 20.12.2021) [Anm.: zum Cholera-Ausbruch seit August 2022 siehe Kapitel Medizinische Versorgung und Überkapitel Grundversorgung und Wirtschaft].

- Stromversorgung

Die Stromversorgung funktioniert u. a. aufgrund der Treibstoffknappheit, der zerstörten Energie-Infrastruktur und des niedrigen Wasserstandes an den Staudämmen in manchen Gebieten Syriens nur noch für wenige Stunden pro Tag. Insgesamt erhalten drei Viertel aller Haushalte weniger als acht Stunden Strom am Tag. In Nordostsyrien war Elektrizität im September 2021 täglich nur 5-6 Stunden verfügbar; in Nordwestsyrien täglich 7-8 Stunden (Stand 2022). Der Pro-Kopf-Konsum von staatlicher Elektrizität beträgt lediglich 15 Prozent gegenüber 2010 (AA 29.3.2023).

Quellen:

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WFP - World Food Program (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (14.3.2023): Syria markets update (18 - 25 February 2023): Fuel price increase provide further scope for higher food prices, https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/syria-markets-update-18-25-february-2023-fuel-price-increase-provide-further-scope-higher-food-prices, Zugriff 19.6.2023

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WKO - Wirtschaftskammer Österreich – Außenwirtschaftscenter Amman (10.2019): Wirtschaftsbericht Syrien, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/syrien-wirtschaftsbericht.pdf, Zugriff 7.10.2020 [Der Link ist nicht mehr zugänglich, die Daten sind bei der Staatendokumentation jedoch archiviert und abrufbar]

WKO - Wirtschaftskammer Österreich – Außenwirtschaftscenter Amman (11.2018): Außenwirtschaft: Update Syrien, Zugriff 1.3.2019 [Der Link ist nicht mehr zugänglich, die Daten sind bei der Staatendokumentation jedoch archiviert und abrufbar]

Rückkehr

Letzte Änderung 2024-03-13 20:36

Seit 2011 waren 12,3 Millionen Menschen in Syrien gezwungen, zu flüchten - 6,7 Millionen sind aktuell laut OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) Binnenvertriebene (HRW 11.1.2024).

Die offizielle politische Position des Regimes hinsichtlich der Rückkehr von Geflüchteten wurde im Berichtszeitraum angepasst. In einem anlässlich des UNHCR-Exekutivkomitees am 12.10.2023 veröffentlichten Statement versicherte das syrische Regime, dass es sichere Rückkehrbedingungen schaffe. Die Versprechungen, z. B. zum Wehrdienst, bleiben jedoch vage. Nach Einschätzung vieler Beobachter könne kaum mit großangelegter Flüchtlingsrückkehr gerechnet werden (AA 2.2.2024).

Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht durch verschiedene Akteure, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen könnten, und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen gegeben (UNCOI 7.2.2023). Eine UNHCR-Umfrage im Jahr 2022 unter syrischen Flüchtlingen in Ägypten, Libanon, Jordanien und Irak ergab, dass nur 1,7 Prozent der Befragten eine Rückkehr in den nächsten 12 Monaten vorhatten (CNN 10.5.2023). Obwohl sich am Bestehen der Fluchtursachen, insbesondere im Hinblick auf verbreitete Kampfhandlungen sowie die in weiten Teilen des Landes katastrophale humanitäre, wirtschaftliche und Menschenrechtslage nichts geändert hat, erhöhen manche Aufnahmestaaten in der Region gezielt den politischen, rechtlichen und sozioökonomischen Druck auf syrische Geflüchtete, um eine „freiwillige Rückkehr“ zu erwirken (AA 2.2.2024).

RückkehrerInnen nach Syrien müssen laut Human Rights Watch mit einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen rechnen, von willkürlicher Verhaftung, Folter, Verschwindenlassen (HRW 12.1.2023; vgl. Al Jazeera 17.5.2023) bis hin zu Beschränkungen beim Zugang zu ihren Herkunftsgebieten (HRW 11.1.2024). Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert. Unverändert besteht somit in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden. Nach entsprechenden Berichten von Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) von September bzw. Oktober 2021 präsentierten der Zusammenschluss von Zivilgesellschaftsorganisationen Voices for Displaced Syrians Forum und der Think Tank Operations and Policy Center im Frühjahr 2022 eine gemeinsame Studie (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens. Diese dokumentiert innerhalb eines Jahres schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. UNHCR, IKRK und IOM vertreten unverändert die Auffassung, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann derzeit insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden (AA 2.2.2024).

Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien laut Auswärtigem Amt weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).

Laut UNHCR sind von 2016 bis Ende 2020 170.000 Flüchtlinge (40.000 2020 gegenüber 95.000 im Jahr 2019) zurückgekehrt, der Gutteil davon aus dem Libanon und Jordanien (2019: 30.000), wobei die libanesischen Behörden weit höhere Zahlen nennen (bis 2019: 187.000 rückkehrende Flüchtlinge). COVID-bedingt kam die Rückkehr 2020 zum Erliegen. Die Rückkehr von Flüchtlingen wird durch den Libanon und die Türkei mit erheblichem politischem Druck verfolgt. Als ein Argument für ihre Militäroperationen führt die Türkei auch die Rückführung von Flüchtlingen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete an. Die Rückkehrbewegungen aus Europa sind sehr niedrig. Eine von Russland Mitte November 2020 initiierte Konferenz zur Flüchtlingsrückkehr in Damaskus (Follow-up 2021 sowie 2022), an der weder westliche noch viele Länder der Region teilnahmen, vermochte an diesen Trends nichts zu ändern (ÖB Damaskus 12.2022).

Laut Vereinten Nationen (u. a. UNHCR) sind die Bedingungen für eine nachhaltige Flüchtlingsrückkehr in großem Umfang derzeit nicht gegeben (ÖB Damaskus 12.2022).

Hindernisse für die Rückkehr

Rückkehrende sind auch Human Rights Watch zufolge mit wirtschaftlicher Not konfrontiert wie der fehlenden Möglichkeit, sich Grundnahrungsmittel leisten zu können. Die meisten finden ihre Heime ganz oder teilweise zerstört vor, und können sich die Renovierung nicht leisten. Die syrische Regierung leistet keine Hilfe bei der Wiederinstandsetzung von Unterkünften (HRW 12.1.2023). In der von der Türkei kontrollierten Region um Afrin nordöstlich von Aleppo Stadt wurde überdies berichtet, dass Rückkehrer ihre Häuser geplündert oder von oppositionellen Kämpfern besetzt vorgefunden haben. Auch im Zuge der türkischen Militäroperation 'Friedensquelle' im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB Damaskus 12.2022). Neben den fehlenden sozioökonomischen Perspektiven und Basisdienstleistungen ist es oft auch die mangelnde individuelle Rechtssicherheit, die einer Rückkehr entgegensteht. Nach wie vor gibt es Berichte über willkürliche Verhaftungen und das Verschwinden von Personen. Am stärksten betroffen sind davon Aktivisten, oppositionelle Milizionäre, Deserteure, Rückkehrer und andere, die unter dem Verdacht stehen, die Opposition zu unterstützen. Um Informationen zu gewinnen, wurden auch Familienangehörige oder Freunde von Oppositionellen bzw. von Personen verhaftet. Deutlich wird die mangelnde Rechtssicherheit auch laut ÖB Damaskus an Eigentumsfragen. Das Eigentum von Personen, die wegen gewisser Delikte verurteilt wurden, kann vom Staat im Rahmen des zur Terrorismusbekämpfung erlassenen Gesetzes Nr. 19 konfisziert werden. Darunter fällt auch das Eigentum der Familien der Verurteilten in einigen Fällen sogar ihrer Freunde. Das im April 2018 erlassene Gesetz Nr. 10 ermöglicht es Gemeinde- und Provinzbehörden, Zonen für die Entwicklung von Liegenschaften auszuweisen und dafür auch Enteignungen vorzunehmen. Der erforderliche Nachweis der Eigentumsrechte für Entschädigungszahlungen trifft besonders Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Konkrete Pläne für die Einrichtung von Entwicklungszonen deuten auf Gebiete hin, die ehemals von der Opposition gehalten wurden. Von den großflächigen Eigentumstransfers dürften regierungsnahe Kreise profitieren. Auf Druck von Russland, der Nachbarländer sowie der Vereinten Nationen wurden einige Abänderungen vorgenommen, wie die Verlängerung des Fristenlaufs von 30 Tagen auf ein Jahr (ÖB Damaskus 12.2022). Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind besonders von Enteignungen betroffen (BS 23.2.2022). Zudem kommt es zum Diebstahl durch Betrug von Immobilien, deren Besitzer - z. B. Flüchtlinge - abwesend sind (The Guardian 24.4.2023). Viele von ihren Besitzern verlassene Häuser wurden mittlerweile von jemandem besetzt. Sofern es sich dabei nicht um Familienmitglieder handelt, ist die Bereitschaft der Besetzer, das Haus oder Grundstück zurückzugeben, oft nicht vorhanden. Diese können dann die Rückkehrenden beschuldigen, Teil der Opposition zu sein, den Geheimdienst auf sie hetzen, und so in Schwierigkeiten bringen (Balanche 13.12.2021). Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren (AA 29.11.2021).

Laut einer Erhebung der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD) ist für 58 Prozent aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat (AA 4.12.2020). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach der Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar zum Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021).

Die laut Experteneinschätzung katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein großes Hindernis für die Rückkehr: Es gibt wenige Jobs, und die Bezahlung ist schlecht (Balanche 13.12.2021). Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB 1.10.2021).

Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft. Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren (Weltbank 2020). Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom IS gehalten wurden (z. B. Raqqa, Deir Ez-Zor). Laut aktueller Mitteilung von UNMAS vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen also rund 50 Prozent der Bevölkerung dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Ein Drittel der Opfer von Explosionen sind gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden und mehr als 20 Prozent haben Gehör oder Sehvermögen verloren. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs (ÖB Damaskus 12.2022) [Anm.: Infolge der Erdbeben im Februar 2023 erhöht sich die Gefahr, dass Explosivmaterialien wie Minen durch Erdbebenbewegungen, Wasser etc. verschoben werden].

Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer 'sehr begrenzten' und 'abnehmenden' Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück. Hierbei handelte es sich allerdings zu 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022). Insgesamt ging im Jahr 2022 laut UN-Einschätzung die Bereitschaft zu einer Rückkehr zurück, und zwar aufgrund von Sicherheitsbedenken der Flüchtlinge. Stattdessen steigt demnach die Zahl der SyrerInnen, welche versuchen, Europa zu erreichen, wie beispielsweise das Bootsunglück vom 22.9.2022 mit 99 Toten zeigte. In diesem Zusammenhang wird Vorwürfen über die willkürliche Verhaftung mehrer männlicher Überlebender durch die syrische Polizei und den Militärnachrichtendienst nachgegangen (UNCOI 7.2.2023).

Während die syrischen Behörden auf internationaler Ebene öffentlich eine Rückkehr befürworten, fehlen syrischen Flüchtlingen, im Ausland arbeitenden SyrerInnen und Binnenflüchtlingen, die ins Regierungsgebiet zurückkehren wollen, klare Informationen für die Bedingungen und Zuständigkeiten für eine Rückkehr sowie bezüglich einer Einspruchsmöglichkeit gegen eine Rückkehrverweigerung (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: mehr dazu siehe in dem Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort sowie im Unterkapitel Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr].

Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/de/dokument/2072999.html, Zugriff 6.6.2023

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2059734.html, Zugriff 6.6.2023

Al Jazeera (17.5.2023): Syrian refugees in fear as Lebanon steps up deportations, https://www.aljazeera.com/news/2023/5/17/syrian-refugees-in-fear-as-lebanon-steps-up-deportations, Zugriff 19.5.2023

Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videocall

BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 11.3.2023

CNN - Cable News Network.(10.5.2023): For Syrian refugees, Assad’s rehabilitation prompts fear of forced return, https://edition.cnn.com/2023/05/10/middleeast/syria-refugees-fear-assad-rehabilitation-mime-intl/index.html, Zugriff 6.6.2023

HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103131.html, Zugriff 22.1.2024

HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085501.html, Zugriff 24.5.2023

NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (7.2019): Country of Origin Information Report Syria: The security situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2016076/Country+of+Origin+Information+Report+Syria+%28July+2019%29.pdf, Zugriff 6.6.2023

ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien (Stand Ende Dezember 2022) (in der Staatendokumentation aufliegend)

ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 6.6.2023

The Guardian (24.4.2023): Scandal of Syria’s stolen homes: fraudsters use courts to legitimise thefts from refugees, https://www.theguardian.com/global-development/2023/apr/24/scandal-of-syrias-stolen-homes-fraudsters-use-courts-to-legitimise-thefts-from-refugees, Zugriff 6.6.2023

UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/iici-syria/report-coi-syria-march2023, Zugriff 18.3.2023

UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (6.2022): Protection Analysis Update June 2022, https://www.globalprotectioncluster.org/wp-content/uploads/GOS-and-NES-PAU-June-2022-Final.pdf, Zugriff 6.6.2023

Weltbank (2020): The Mobility of Displaced Syrians, https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/31205/9781464814013.pdf, Zugriff 6.6.2023

Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr

Letzte Änderung 2024-03-14 11:46

Die Bedeutung von Überweisungen von SyrerInnen im Ausland und die Rolle der syrischen Lohnpolitik für Angestellte des öffentlichen Diensts dabei

Neben dem wachsenden Auswanderungsdruck auf gebildete SyrerInnen durch die Bevorzugung der Militärs bezüglich Gehälter zielt die syrische Lohnpolitik im öffentlichen Sektor laut einer Studie von Omran for Strategic Studies darauf ab, junge Leute dazu zu bewegen, ins Ausland zu gehen, damit sie später Geld an ihre Familien schicken. So profitiert Syrien von den Devisenüberweisungen in die Gebiete unter Regimekontrolle sowie von den großen Summen, welche für die Befreiung vom Wehr- und Reservedienst zu zahlen sind (Omran 23.1.2023). Rücküberweisungen aus dem Ausland (remittances) sind angesichts der Wirtschaftskrise eine wichtige Einnahmequelle für viele Syrerinnen und Syrer. Seit Konfliktbeginn sind sie merklich angestiegen: 2010 betrugen sie laut der syrischen Zentralbank (CBS) 906 Mio. USD. 2019 waren es 3.01 Mrd. USD (elf Prozent des BIP). Seither hat die CBS keine Zahlen mehr veröffentlicht. Laut Medienberichten lagen die Rücküberweisungen 2022 bei über drei Mrd. US-Dollar (20 Prozent des gesamten BIP 2022; laut Weltbank etwa 15,5 Mrd. US-Dollar). Sie sind weiterhin eine signifikante Einnahmequelle für die Bevölkerung. Gleichzeitig verbreiteten Syrien und Russland bei einer Konferenz Mitte Oktober 2022 den Vorwurf, 'der Westen' würde eine Rückkehr von Geflüchteten verhindern (AA 29.3.2023). Das Regime wünscht sich laut Experten-Einschätzung RückkehrerInnen mit Geld - nicht einfache Leute (Khaddour 24.12.2021) oder ehemalige Flüchtlinge, zumal die Regierung, nicht die Kapazitäten und finanziellen Möglichkeiten hätte, für die ehemaligen Flüchtlinge zu sorgen (The Guardian 23.3.2023).

Laut Einschätzung des Think Tanks Omran for Strategic Studies werden rückkehrende Syrer mehrheitlich als Folge der obigen Lohnpolitik sich gezwungenermaßen einer militärischen Einrichtung oder einer Miliz anschließen müssen, denn diese Organisationen bieten als einzige eine berufliche Perspektive in den Regime-kontrollierten Gebieten (Omran 23.1.2023) [Anm.: zu weiteren Kriterien wie z. B. bereits vorhandenen Verbindungen zu Personen mit Einfluss im Staatsapparat sowie Loyalität der Assad-Herrschaft gegenüber siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft sowie Kapitel Korruption und speziell zu illegalen Zweitjobs von Militärs zur Aufbesserung der Gehälter siehe Unterkapitel Streitkräfte im Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen].

Wahrnehmung von RückkehrerInnnen ja nach Profil

Nach zuvor vorwiegend rückkehrkritischen öffentlichen Äußerungen hat die syrische Regierung seine Politik seit Ankündigung eines sogenannten „Rückkehrplans“ für Flüchtlinge durch Russland 2018 sukzessive angepasst und im Gegenzug für eine Flüchtlingsrückkehr Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und die Aufhebung westlicher Sanktionen gefordert (AA 20.3.2023). Die Rückkehr von ehemaligen Flüchtlingen ist trotzdem nicht erwünscht, auch wenn offiziell mittlerweile das Gegenteil gesagt wird (The Guardian 23.3.2023; vgl. Balanche 13.12.2021). Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert (AA 2.2.2024), bzw. insgeheim als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen angesehen (AI 9.2021). Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (regime-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiärer Verbindung zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 2.2.2024).

Jeder, der geflohen ist und einen Flüchtlingsstatus hat, ist in den Augen des Regimes bereits verdächtig (Üngör 15.12.2021). Aus Sicht des syrischen Staates ist es daher besser, wenn diese SyrerInnen im Ausland bleiben, damit ihr Land und ihre Häuser umverteilt werden können, um Assads soziale Basis neu aufzubauen. Minderheiten wie Alawiten und Christen, reiche Geschäftsleute und Angehörige der Bourgeoisie sind hingegen für Präsident al-Assad willkommene Rückkehrer. Für arme Menschen, z. B. aus den Vorstädten von Damaskus oder Aleppo, hat der syrische Staat jedoch keine Verwendung (Balanche 13.12.2021), zumal keine Kapazitäten zur Unterstützung von (mittellosen) Rückkehrenden vorhanden sind (The Guardian 23.2.2023).

Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen [Anm.: für weitere Informationen zu Sicherheitsüberprüfungen siehe Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort], Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021).

Anhand der von der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, NGOs und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende. Dabei gilt nach Ansicht des deutschen Auswärtigen Amts, dass sich die Frage einer möglichen Gefährdung des Individuums weder auf etwaige Sicherheitsrisiken durch Kampfhandlungen und Terrorismus beschränken lässt, noch ganz grundsätzlich eine Eingrenzung auf einzelne Landesteile möglich ist. Entscheidend für die Sicherheit von Rückkehrenden bleibt vielmehr die Frage, wie der oder die Rückkehrende von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen wird. Rückkehr auf individueller Basis findet, z. B. aus der Türkei, insbesondere in Gebiete statt, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen. Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).

Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr (ÖB Damaskus 1.10.2021), und die Aussagen zur Haltung der Regimekräfte gegenüber Rückkehrern heben unterschiedliche Aspekte zu deren Wahrnehmung und Behandlung hervor:

Der Syrien-Experte Uğur Üngör geht davon aus, dass jeder, der das Land verlassen hat, und nach Europa geflohen ist, vom Regime als verdächtig angesehen wird, weil es im Verständnis des Regimes keinen Grund gab, zu fliehen. Die Flucht nach Europa und das Beantragen von Asyl können negativ gesehen werden - im Sinne einer Zusammenarbeit mit den europäischen Regierungen oder sogar, dass man von diesen bezahlt wurde. Dies gilt jedoch nicht für Personen, die eine offiziell bestätigte regierungsfreundliche Einstellung haben. Weiters werden Personen, die in die Türkei geflohen sind, als Vertreter von Präsident Erdoğans Regierung gesehen. Wer im Ausland negative Äußerungen [Anm.: siehe hierzu das Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen und das Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage bzgl. der Gesetze zur Schädigung des Ansehens im Ausland sowie bzgl. positiver Äußerungen über Staaten, mit denen Syrien verfeindet ist] über das Regime gemacht hat (im Sinne von öffentlichem politischen Aktivismus, aber auch privat in sozialen Medien), kann bei der Rückkehr speziell vom politischen Geheimdienst überprüft werden. Wenn man Glück hat, sind die Anschuldigungen laut Üngör nicht sehr ernst, oder man kann ein Bestechungsgeld zahlen, um freizukommen, andernfalls kann man direkt vor Ort verhaftet werden. Hierbei spielen nicht nur eigene Aktivitäten eine Rolle, sondern auch Aktivitäten von Verwandten und die geografische Herkunft der rückkehrenden Person. Es gibt auch Berichte, dass Familienmitglieder von Journalisten, die in Europa für oppositionelle Medien schreiben, inhaftiert und tagelang festgehalten und wahrscheinlich gefoltert wurden (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage].

Laut dem Syrien-Experten Kheder Khaddour kommt es darauf an, wo im Ausland man sich aufgehalten hat: War man in den Golfstaaten, wird vielleicht davon ausgegangen, dass man geschäftlichen Tätigkeiten nachgegangen ist und nichts mit Politik zu tun hat. Wer in die Türkei gegangen ist, wird als Kollaborateur der Islamisten und Präsident Erdoğans gesehen. Wer in Europa war, wird beschuldigt, von Europa bezahlt worden zu sein, um gegen das Regime zu sein. Der Libanon ist vielleicht noch am neutralsten, quasi wie ein 'erweitertes Syrien', und durch die geografische Nähe stehen Flüchtlingen im Libanon-Korruptionsnetzwerke (zur Absicherung der Rückkehr) zur Verfügung, auf die man in Europa keinen Zugriff hat (Khaddour 24.12.2021).

Bashar al-Assad hat erklärt, dass er jene, die gegen sein Regime sind, als 'Krankheitserreger' sieht. Die Rückkehr ist aber nicht nur für Regimegegner, sondern auch für alle, über deren politischer Position sich das Regime nicht sicher ist, problematisch. Die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden hängt laut dem syrischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Mohamad Rasheed allein davon ab, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Wer regierungstreu ist, kann auf legalem und gewöhnlichem Weg ein- und ausreisen. Die Unvorhersehbarkeit und Willkür sind große Hindernisse für die Rückkehr nach Syrien. Man kann jederzeit verhaftet und verhört werden und niemand weiß, ob man leben, getötet oder verschwinden gelassen wird. Der Staatsapparat ist durchzogen von Mafias, und im ganzen Land gibt es Milizen, die die Bevölkerung tyrannisieren (Rasheed 28.12.2021).

Laut dem Nahost-Experten Fabrice Balanche kann man, wenn man Teil der Opposition war oder sogar gekämpft hat, nicht nach Syrien zurückkehren, selbst wenn es laut offiziellem Narrativ des Präsidenten eine Amnestie gibt. Dasselbe gilt auch für (andere) politische Flüchtlinge. Zudem besteht immer die Gefahr, vom Geheimdienst verhaftet zu werden, zum Teil, um Geld zu erpressen. Man wird für ein paar Wochen inhaftiert, weil man vom Ausland zurückkommt und davon ausgegangen wird, dass man Geld hat. Die Familie muss dann ein Lösegeld von ein paar Tausend Dollar bezahlen, oder die Person bleibt weitere zwei Wochen im Gefängnis (Balanche 13.12.2021).

Das deutsche Auswärtige Amt zieht den Schluss, dass eine sichere Rückkehr Geflüchteter insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden kann (AA 2.2.2024). UNHCR ruft weiterhin die Staaten dazu auf, keine zwangsweise Rückkehr von syrischen Staatsbürgern sowie ehemals gewöhnlich dort wohnenden Personen - einschließlich früher in Syrien ansässiger Palästinenser - in irgendeinen Teil Syrien zu veranlassen, egal wer das betreffende Gebiet in Syrien beherrscht (UNHCR 6.2022).

Auch die lokale Bevölkerung hegt oft Argwohn gegen Personen, die das Land verlassen haben. Es besteht eine große Kluft zwischen Syrern, die geflohen sind, und jenen, die dort verblieben sind. Erstere werden mit Missbilligung als Leute gesehen, die 'davongelaufen' sind, während Letztere oft Familienmitglieder im Krieg verloren und unter den Sanktionen gelitten haben (Khaddour 24.12.2021; vgl. Üngör 15.12.2021). Es kann daher zu Denunziationen oder Erpressungen von Rückkehrern kommen, selbst wenn diese eigentlich 'sauber' [Anm.: aus Regimeperspektive] sind, mit dem Ziel, daraus materiellen Gewinn zu schlagen (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch die Thematik des Immobiliendiebstahls durch Betrug, der sich oft gegen seit langem Abwesende richtet, z. B. im Überkapitel Rückkehr].

Ein weiteres soziales Problem sind persönliche Racheakte: Wenn bei Kämpfen zwischen zwei Gruppen jemand getötet wurde, kann es vorkommen, dass jemand, der mit dem Mörder verwandt ist, von der Familie des Ermordeten im Sinne der Vergeltung getötet wird. Dies hindert viele an der Rückkehr in ihren Heimatort (Balanche 13.12.2021).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024

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Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videocall

Khaddour, Kheder - Gastwissenschaftler am Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center (24.12.2021): Interview, per Videocall

ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 6.6.2023

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Rasheed, Mohamad - Syrischer Journalist und Medienexperte (28.12.2021): Interivew, per Videocall

The Guardian (23.3.2023): ‘It’s a kind of revenge’: Damascus suburb demolished as Assad builds a ‘new Syria’, https://www.theguardian.com/global-development/2022/mar/23/its-a-kind-of-revenge-damascus-suburb-demolished-as-assad-builds-a-new-syria, Zugriff 23.5.2023

Üngör, Uğur Ümit - Professor für Geschichte, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview, per Videocall

UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (6.2022): Protection Analysis Update June 2022, https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/protection-analysis-update-june-2022, Zugriff 6.6.2022

Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort

Letzte Änderung 2024-03-14 11:51

Administrative Verfahren der syrischen Behörden für RückkehrerInnen

Die syrische Regierung bietet administrative Verfahren an, die Rückkehrwillige aus dem Ausland oder aus von der Opposition kontrollierten Gebieten vor der Rückkehr in durch die Regierung kontrollierte Gebiete durchlaufen müssen, um Probleme mit der Regierung zu vermeiden. Im Rahmen dieser Verfahren führen die syrischen Behörden auf die eine oder andere Weise eine Überprüfung der RückkehrerInnen durch. Während des als 'Sicherheitsüberprüfung' (arabisch muwafaka amniya) bezeichneten Verfahrens werden die Namen der AntragstellerInnen mit Fahndungslisten verglichen. Beim sogenannten 'Statusregelungsverfahren' (arabisch: taswiyat wade) beantragen die AntragstellerInnen, wie es in einigen Quellen heißt, die 'Versöhnung', sodass ihre Namen von den Fahndungslisten der syrischen Behörden gestrichen wird (DIS 5.2022). Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen (AA 2.2.2024).

Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen, zur Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und zu gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) berichtet von Menschenrechtsverletzungen in ihrem Berichtszeitraum, darunter den Tod eines Rückkehrers in Haft, dem man lebensrettende medizinische Versorgung verweigert hatte. Er war Anfang 2022 bei seiner Rückkehr nach Syrien trotz eines erfolgten Beilegungs-, bzw. 'Versöhnungsprozesses', verhaftet worden (UNCOI 7.2.2023).

So gilt es zum Beispiel für die Rückkehr nach Homs, in die von der Regierung gehaltenen Teile von Idlib sowie ins Umland von Damaskus (Rif Dimashq) mehrere und sich überlappende Genehmigungsprozesse bei einer Reihe von Behörden zu durchlaufen. Oft beinhalten diese Prozedere eine geheimdienstliche Sicherheitsgenehmigung oder ein Beilegungsabkommen (Anm.: auch 'Versöhnungsabkommen') oder beides, je nachdem woher die Rückkehrenden kommen, wo sie hingehen, und was ihre Profile sind. Einige mussten etwa schon vor ihrer Rückkehr ihren Status bei Zentren zur 'Statusklärung' in Regierungsgebieten 'klären', indem Verwandte oder Freunde vor Ort dies für sie durchführten. Andere gingen direkt zu diesen Zentren, nachdem sie durch Schmuggelrouten in das Gebiet zurückkehrten oder nachdem sie an einem Grenzübergang um eine 'Statusklärung' angesucht hatten. Andere wiederum mussten eine Sicherheitsgenehmigung für einen Wohnsitz, bzw. Aufenthalt ('residence') bereits vor ihrer Rückkehr einholen. Andere versuchten an kollektiven Rückkehraktionen aus dem Libanon teilzunehmen (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: siehe dazu Unterkapitel Hinweise über Rückkehrende aus den Nachbarstaaten und Europa].

Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (AA 2.2.2024).

Sicherheitsüberprüfungen (besonders al-Muwafaqa al-Amniyeh, die Sicherheitsgenehmigung) vor der Rückkehr sowie inoffizielle Schutzzusagen

Es gibt widersprüchliche Informationen darüber, ob sich Personen, die nach Syrien zurückkehren wollen, einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen müssen oder nicht (AA 19.5.2020). Gemäß einem Rechtsexperten der ÖB Damaskus hat prinzipiell jeder syrische Staatsbürger das Recht, sich auf dem syrischen Staatsgebiet zu bewegen sowie es zu verlassen. Er darf gemäß Artikel 38 der syrischen Verfassung von 2012 nicht an der Rückkehr gehindert werden. Daraus folgt, dass von syrischen StaatsbürgerInnen vor ihrer Rückkehr keine Sicherheitsgenehmigung verlangt wird, oder sie um eine solche ansuchen müssen. Der Konflikt hat die Sicherheitsgenehmigung jedoch ins Zentrum gerückt. Viele syrische StaatsbürgerInnen haben die Rückkehr nach Syrien erwägt, fürchten allerdings, von den syrischen Behörden verhaftet zu werden. Da die syrische Regierung bestrebt war, zu zeigen, dass Syrien sicher ist, und für die Rückkehr von Flüchtlingen offen steht, damit diese am Wiederaufbau des Landes teilnehmen, hat die syrische Regierung zur Erleichterung der Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien zugestimmt, in manchen Fällen bekannt zu geben, ob jemand gemäß ihrer Aufzeichnungen in Syrien gesucht wird. Dies ist bei der freiwilligen Rückkehr von Gruppen von Syrern aus dem Libanon der Fall, erleichtert durch die Kooperation des General Security Office (GSO) [Anm.: libanesischer Nachrichtendienst] im Libanon mit den syrischen Behörden. Das heißt, bei der Teilnahme an einer GSO-unterstützten Rückkehr führt das GSO akkordiert mit den syrischen Behörden eine Sicherheitsüberprüfung durch und leitet die persönlichen Daten der RückkehrerInnen an die syrischen Behörden weiter. Letztere informieren das GSO dann darüber, welche Personen eine Sicherheitsfreigabe erhalten haben. Eine ähnliche Vorgehensweise wurde auch bei individuellen Rückkehrern aus Jordanien vermerkt: Rückkehrer müssen hierzu bei der syrischen Botschaft in Amman um eine Sicherheitsfreigabe ansuchen (VB der ÖB Damaskus 27.9.2022).

Laut einer in Syrien tätigen Menschenrechtsorganisation überprüfen die syrischen Behörden bei der Sicherheitsüberprüfung Informationen über den/die AntragstellerIn, Familienmitglieder und eventuell auch seine/ihre erweiterte Familie. Das syrische Außenministerium ermöglichte im Rahmen des Amnestiegesetzes (Gesetzesdekret Nr. 7/2022 vom 30.4.2022), welches alle von syrischen StaatsbürgerInnen vor dem 30.4.2022 verübten 'terroristischen Verbrechen' ohne Todesopfer beinhaltet, dass syrische StaatsbürgerInnen im Ausland durch die diplomatischen Vertretungen überprüft werden, ob sie unter das Amnestiegesetz fallen. Die betroffenen Personen müssen bei der syrischen Botschaft ihres Wohnorts erscheinen, und einen gesonderten Antrag ausfüllen. Die syrische Botschaft leitet den Antrag dann an das Außenministerium weiter, das eine Liste mit den persönlichen Daten der AntragstellerInnen vorbereitet, und sie an das syrische Innenministerium weiterleitet. Letzteres gleicht die Namen auf der Liste mit einer zentralen Datenbank ab, um zu überprüfen, ob eine Person Verbindungen zu 'terroristischen' Gruppierungen hat (Rechtsexperte 27.9.2022). Das Auswärtige Amt weist jedoch darauf hin, dass jeder Geheimdienst auch eigene Fahndungslisten führt. Es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.3.2023) (Anm.: Zu der Amnestie siehe Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst im Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen].

Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amtes müssen sich syrische Flüchtlinge, unabhängig von ihrer politischen Orientierung, vor ihrer Rückkehr weiterhin einer Sicherheitsüberprüfung durch die syrischen Sicherheitsbehörden unterziehen (AA 19.5.2020). Laut Mohamad Rasheed braucht jeder, der nach Syrien zurückkehren will, eine Sicherheitsüberprüfung, selbst Eltern von Personen, die für das syrische Regime arbeiten (Rasheed 28.12.2021). Die Kriterien und Anforderungen für ein positives Ergebnis sind nicht bekannt (AA 19.5.2020). Auch nach Angaben der International Crisis Group stellt die Sicherheitsüberprüfung durch den zentralen Geheimdienst in Damaskus (oder die Verweigerung einer solchen) die endgültige Entscheidung darüber dar, ob ein Flüchtling sicher nach Hause zurückkehren kann, unabhängig davon, welchen administrativen Weg ein Flüchtling, der zurückkehren möchte, einschlägt (ICG 13.2.2020). Im Gegensatz dazu berichtete die dänische Einwanderungsbehörde auf der Grundlage von Befragungen, dass SyrerInnen, die sich außerhalb Syriens aufhalten und nicht von der syrischen Regierung gesucht werden, keine Sicherheitsgenehmigung für die Rückkehr nach Syrien benötigen. Syria Direct berichtete dem DIS hingegen, dass nur SyrerInnen im Libanon, die über eine 'organisierte Gruppenrückkehr' nach Syrien zurückkehren wollen, eine Sicherheitsüberprüfung für die Einreise nach Syrien benötigen (DIS 12.2020).

Laut Fabrice Balanche brauchen Personen, die kein politisches Asyl und keine Probleme mit dem Regime haben, auch keine Sicherheitsüberprüfung, sondern nur jene, die auf einer Liste gesuchter Personen stehen. Um diese Überprüfung durchzuführen, bezahlt man die zuständige Behörde (z. B. syrische Botschaft, Grenzbeamte an der Grenze zwischen Syrien und Libanon, syrische Behörden im Heimatort in Syrien), um zu überprüfen, ob der eigene Name auf einer Liste steht (Balanche 13.12.2021). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt demnach immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zu Verhaftungen kommen kann (AA 2.2.2024), zum Teil, um von den Rückkehrenden Geld zu erpressen (UNCOI 7.2.2023; vgl. Balanche 13.12.2021).

Die Herkunftsregion spielt eine große Rolle für die Behörden bei der Behandlung von Rückkehrern, genauso wie die Frage, was die Person in den letzten Jahren gemacht hat. SyrerInnen aus Homs, Deir iz-Zor oder Ost-Syrien werden dabei eher verdächtigt als Personen aus traditionell regierungstreuen Gebieten (Khaddour 24.12.2021). Besonders Gebiete, die ehemals unter Kontrolle oppositioneller Kräfte standen (West-Ghouta, Homs, etc.), stehen seit der Rückeroberung durch das Regime unter massiver Überwachung und der syrische Staat kontrolliert genau, wer dorthin zurückkehren darf. Es kann also besonders schwierig sein, für eine Rückkehr in diese Gebiete eine Sicherheitsgenehmigung zu bekommen, und falls man diese erhält und zurückkehrt, wird man den Sicherheitsbehörden berichterstatten müssen (Üngör 15.12.2021) [Anm.: zum Informantenwesen siehe auch Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen].

Mehrere Experten gehen davon aus, dass es vor allem auf die informelle Sicherheitsgarantie ankommt. Der sicherste Schutz vor Inhaftierung ist es, ein gutes Netzwerk bzw. Kontakte zum Regime zu haben, die einem im Notfall helfen können. Man muss jemanden in der Politik oder vom Geheimdienst haben, den man um Schutz bittet (Balanche 13.12.2021; vgl. Khaddour 24.12.2021, Rechtsexperte 27.9.2022). Laut Kheder Khaddour wird der offizielle Weg zur Rückkehr kaum genutzt, nicht nur weil er sehr langwierig ist, sondern auch weil niemand Vertrauen in die Institutionen hat. Nur bekannte Oppositionspersonen müssen den offiziellen Weg gehen, dieser Prozess bringt aber keine Garantie mit sich. Daher muss zusätzlich auch immer eine informelle Sicherheitsgarantie über persönliche Kontakte erlangt werden, wenn jemand zurückkehren will. Wenn jemand auf einer schwarzen Liste aufscheint, muss er seinen Namen bereinigen lassen. Dies geschieht meist durch Bestechung (Khaddour 24.12.2021). Personen, die erfahren, dass sie von den Behörden gesucht werden, bezahlen große Summen an Vermittler und Mitglieder der Sicherheitskräfte, um bei der Rückkehr eine Verhaftung zu vermeiden (UNCOI 7.2.2023).

'Versöhnungsanträge', Statusregelungsverfahren

Das Regime hat einen Mechanismus zur Erleichterung der 'Versöhnung' und Rückkehr geschaffen, der als 'Regelung des Sicherheitsstatus' (taswiyat al-wadaa al-amni) bezeichnet wird. Das Verfahren beinhaltet eine formale Klärung mit jedem der vier großen Geheimdienste und eine Überprüfung, ob die betreffende Person alle vorgeschriebenen Militärdienstanforderungen erfüllt hat. Einzelne Personen in Aleppo berichteten jedoch, dass sie durch die Teilnahme am 'Versöhnungsprozess' einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden (ICG 9.5.2022). Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden und deshalb keine Erlaubnis zur Rückkehr erhalten, werden aufgefordert, ihren Status zu 'regularisieren', bevor sie zurückkehren können (Reuters 25.9.2018; vgl. SD 16.1.2019).

Nach Angaben eines syrischen Generals müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren wollen, bei der zuständigen syrischen Vertretung einen Antrag auf 'Versöhnung' stellen und unter anderem angeben, wie und warum sie das Land verlassen haben, und Informationen über ihre Aktivitäten während ihres Auslandsaufenthalts vorlegen. Diese Informationen werden an das syrische Außenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsprüfung durchgeführt wird. SyrerInnen, die über die Landgrenzen einreisen, müssen nach Angaben des Generals einen 'Versöhnungsantrag' ausfüllen (DIS 6.2019). Um eine Verhaftung bei der Rückkehr zu vermeiden, versuchen SyrerInnen, Informationen über ihre Sicherheitsakte zu erhalten und diese, wenn möglich, zu löschen. Persönliche Kontakte und Bestechungsgelder sind die gebräuchlichsten Kanäle und Mittel zu diesem Zweck (ICG 13.2.2020; vgl. EASO 6.2021), doch aufgrund ihrer Informalität und des undurchsichtigen Charakters des syrischen Sicherheitssektors sind solche Informationen und Freigaben nicht immer zuverlässig, und nicht jeder kann sie erhalten (ICG 13.2.2020). Zwei Quellen berichteten EASO (Anm.: nun EUAA), dass, wenn ein/e RückkehrerIn durch informelle Netzwerke oder Beziehungen (arab. 'wasta') herausfindet, dass er oder sie nicht von den syrischen Behörden gesucht wird, es dennoch keine Garantie dafür gibt, dass er oder sie bei der Rückkehr nicht verhaftet wird (EASO 6.2021).

Rückkehrverweigerungen

Die Regierung verweigert gewissen BürgerInnen die Rückkehr nach Syrien, während andere SyrerInnen, die in die Nachbarländer flohen, die Vergeltung des Regimes im Fall ihrer Rückkehr fürchten (USDOS 12.4.2022). Der Prozentsatz der AntragstellerInnen, die nicht zur Rückkehr zugelassen werden, ist nach wie vor schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020): Ihr Anteil wird von verschiedenen Quellen aus den Jahren 2018 bis 2022 auf 5 Prozent (SD 16.1.2019), 10 Prozent (Reuters 25.9.2018), 20 Prozent (Qantara 2.2.2022) oder bis zu 30 Prozent (ABC 6.10.2018) geschätzt. Das Regime fördert nicht die sichere, freiwillige Rückkehr in Würde, eine Umsiedlung oder die lokale Integration von IDPs. In einigen Fällen ist es Binnenvertriebenen nicht gestattet, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren (USDOS 12.4.2022). Einige BeobachterInnen und humanitäre HelferInnen geben an, dass die Bewilligungsquote für AntragstellerInnen aus Gebieten, die als regierungsfeindliche Hochburgen identifiziert wurden, fast bei null liegt (ICG 13.2.2020). Gründe für die Ablehnung können (vermeintliche) politische Aktivitäten gegen die Regierung, Verbindungen zur Opposition oder die Nichterfüllung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.9.2018; vgl. ABC 6.10.2018, SD 16.1.2019).

Weitere im Fall einer Rückkehr benötigte behördliche Genehmigungen

Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr. Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB Damaskus 12.2022).

Es muss z. B. bei Abschluss eines Immobilienkaufvertrags, bevor die Immobilie übertragen werden kann, bei den Sicherheitsbehörden um eine Freigabe (Anm.: al-Muwafaqa al-Amniyeh - die Sicherheitsgenehmigung) angesucht werden. Bei Mietverträgen wurde diese Regelung jüngst vereinfacht, sodass die Daten erst nach Abschluss des Vertrags an die Gemeinde übermittelt werden mussten. Diese Information wird dann an die Sicherheitsbehörden weitergegeben, die im Nachhinein einen Einspruch erheben können. Diese Regelung wurde aber nach aktuellen Informationen nur in Damaskus umgesetzt, außerhalb muss die Genehmigung nach wie vor vorab eingeholt werden. Auch hinsichtlich Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten nicht erlaubt wurde, sich in Damaskus niederzulassen. Die Niederlassung ist dementsprechend – für alle Gebiete unter Regierungskontrolle – von einer Zustimmung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 12.2022). Erschwerend kommt hinzu, dass eine von einer regierungsnahen Stelle innerhalb Syriens ausgestellte Sicherheitsgenehmigung in Gebieten, die von anderen regierungsnahen Stellen kontrolliert werden, als ungültig angesehen werden kann. Dies ist auf die Fragmentierung des Sicherheitsapparats der Regierung zurückzuführen, welche die Mobilität auf Gebiete beschränkt, die von bestimmten regierungsnahen Sicherheitsbehörden kontrolliert werden (EASO 6.2021).

Anm.: für grundsätzliche Informationen zur Sicherheitsgenehmigung siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.

Gefährdungslage

Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt gemäß deutschem Auswärtigem Amt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).

Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (system-) kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiären Verbindungen zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 2.2.2024). Einer Umfrage des Middle East Institute im Februar 2022 zufolge berichteten 27 Prozent der RückkehrerInnen, dass sie oder jemand Nahestehender aufgrund ihres Herkunftsorts, für das illegale Verlassen Syriens oder für das Stellen eines Asylantrags Repression ausgesetzt sind. Ein Rückkehrhindernis ist zudem laut Menschenrechtsberichten das Wehrdienstgesetz, das die Beschlagnahmung von Besitz von Männern ermöglicht, die den Wehrdienst vermieden haben, und nicht die Befreiungsgebühr bezahlt haben (USDOS 20.3.2023).

Syrische Flüchtlinge müssen bereit sein, der Regierung gegenüber vollständig Rechenschaft über ihre Beziehungen zur Opposition abzulegen, um nach Hause zurückkehren zu dürfen. Die RückkehrerInnen sind Schikanen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden sowie Inhaftierung und Folter ausgesetzt, um Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im Ausland zu erhalten (TWP 2.6.2019) [Anm.: siehe hierzu auch Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen im Ausland und deren Folgen].

Gemäß der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic könnte das Unterlassen einer klaren Information über die Rückkehrverfahren und das Vorenthalten der Gründe für Rückkehrverweigerungen, bzw. einer Einspruchsmöglichkeit in solchen Fällen eine 'willkürliches Vorenthalten des Rechts auf Einreise von SyrerInnen im Ausland in ihr eigenes Land' durch die syrische Regierung darstellen. Dieses Vorgehen könnte auch als Verletzung des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts gelten (UNCOI 7.2.2023).

Rückkehr an den Herkunftsort

Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele Faktoren die Möglichkeit dazu beeinflussen. Ethnisch-konfessionelle, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber den der Opposition nahestehenden Gemeinschaften. Wenn es darum geht, wer in seine Heimatstadt zurückkehren darf, können laut einem Experten ethnische und religiöse, aber auch praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Einem Syrien-Experten zufolge dient eine von einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat erteilte Sicherheitsgenehmigung lediglich dazu, dem Inhaber die Einreise nach Syrien zu ermöglichen. Sie garantiert dem Rückkehrer nicht, dass er seinen Herkunftsort in den von der Regierung kontrollierten Gebieten auch tatsächlich erreichen kann (EASO 6.2021). Auch über Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten sich dort nicht niederlassen durften. Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). SyrerInnen, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht einfach an einem beliebigen Ort unter staatlicher Kontrolle niederlassen (ÖB Damaskus 21.8.2019). Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie von der Region bestimmt, in die sie zurückkehren, sondern davon, wie die RückkehrerInnen von den Akteuren, die die jeweiligen Regionen kontrollieren, wahrgenommen werden (AA 2.2.2024). Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern wie den Gemeindebehörden oder den die Regierung unterstützenden Milizen gesteuert wird. Die Verfahren, um eine Genehmigung für die Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt, sind auch die unterschiedlichen Verfahren Veränderungen unterworfen (EASO 6.2021).

Übereinstimmenden Berichten der Vereinten Nationen (VN) und Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) und Betroffenen zufolge werden Verstöße gegen Wohn-, Land- und Eigentumsrechte seitens des Regimes fortgesetzt. Dies dokumentieren nicht zuletzt offizielle staatliche Gazetten. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut der oben angeführten Berichte hätten Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen zudem der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 2.2.2024). Das Gesetz Nr. 10 von 2018 wird weiterhin zur Belohnung von regimeloyalen Personen verwendet und schafft Hürden für die Rückkehr von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, die in ihre Heime zurückkehren möchten. Laut Berichten ersetzt die Regierung so ehemalige BewohnerInnen von vormaligen Oppositionsgebieten durch ihr gegenüber loyalere Personen. Dies betrifft disproportional sunnitische Flüchtlinge und IDPs. Laut Einschätzung von SNHR (Syria Network for Human Rights) steckt die Regierungsstrategie dahinter, durch einen demografischen und gesellschaftlichen Wandel des Staats, automatisch eine Hürde für die Rückkehr von IDPs und Flüchtlingen zu schaffen (USDOS 2.6.2022).

Andere RückkehrerInnen müssen Berichten zufolge Bestechungsgelder an die Lokalverwaltung zahlen, um Zugang zu ihren Heimen zu erhalten. Anderen wird der Zugang zu ihren Heimen verwehrt. Auch gibt es Fälle, wo Immobilien von Nachbarn übernommen wurden, und die Rückkehrwilligen bedrohen, wenn sie versuchen, ihren Besitz wieder zu beanspruchen. Eine regierungstreue Miliz erlangte z. B. durch öffentliche Versteigerungen an enteignetes Land, was einer bereits dokumentierten Praxis entspricht. Gegenmaßnahme für derartige Situationen fehlen oder sind ineffektiv (UNCOI 7.2.2023).

Einige ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind für alle, die in ihre ursprünglichen Häuser zurückkehren wollen, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um eine Wiederherstellung des sozialen Umfelds, das den Aufstand unterstützt hat, zu vermeiden. Einige nominell vom Regime kontrollierte Gebiete wie Dara'a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs konfrontieren für Rückkehrer mit schweren Zerstörungen, der Herrschaft regimetreuer Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des Islamischen Staats oder einer Kombination aus allen drei Faktoren (ICG 13.2.2020). So durften z. B. nach Angaben von Aktivisten bisher nur wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsnahen Milizen und ältere Bewohner zurückkehren (MEI 6.5.2020). Vor zwei Jahren haben die syrischen Behörden begonnen, ehemaligen Bewohnern die Rückkehr nach Yarmouk zu erlauben, wenn diese den Besitz eines Hauses nachweisen können, und eine Sicherheitsfreigabe vorliegt. Bislang sollen allerdings nur wenige zurückgekommen sein. UNRWA dokumentierte bis Juni 2022 die Rückkehr von rund 4.000 Personen, weitere 8.000 haben im Laufe des Sommers eine Rückkehrerlaubnis bekommen (zur Einordnung: Vor 2011 lebten dort 160.000 PalästinenserInnen zusätzlich zu SyrerInnen) (TOI 17.11.2022). Viele kehren aus Angst vor Verhaftungen und Zwangsrekrutierungen oder aufgrund der nicht mehr vorhandenen Wohnung nicht zurück. Die Rückkehrer kämpfen laut UNRWA mit einem 'Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, begrenzten Transportmöglichkeiten und einer weitgehend zerstörten öffentlichen Infrastruktur' (TOI 17.11.2022).

Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren. Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft (Weltbank 2020). Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer 'sehr begrenzten' und 'abnehmenden' Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück und davon handelte es sich bei 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022), wenngleich von der UNO auch Fälle dokumentiert sind, dass Binnenvertriebene von aktuell oppositionell gehaltenen Gebieten aus nicht in ihre Heimatdörfer im Regierungsgebiet zurückkehren durften - trotz vorheriger Genehmigung (UNCOI 7.2.2023).

Laut Einschätzung der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic könnte das Vorgehen der Regierung möglicherweise eine Verletzung von Unterkunfts-, Land- und Besitzrechten dar. Die Duldung der Inbesitznahme von Immobilien durch Dritte könnte eine Verletzung des Schutzes genannter Rechte darstellen. Sie haben auch mögliche Verletzungen des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts zur Folge bezüglich der Besitzrechte von Vertriebenen (UNCOI 7.2.2023).

Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft im Abschnitt Wohnsituation und Enteignungen.

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024

AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/de/dokument/2072999.html, Zugriff 16.6.2023

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2059734.html, Zugriff 16.6.2023

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.5.2020): Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031629/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Fortschreibung_des_Berichts_%C3%Bcber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_vom_November_2019_%28Stand_Mai_2020%29%2C_19.05.2020.pdf, Zugriff 16.6.2023

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Rasheed, Mohamad - Syrischer Journalist und Medienexperte (28.12.2021): Interivew, per Videocall

Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (27.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail

Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail (liegt in der Staatendokumentation auf)

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Üngör, Uğur Ümit - Professor für Geschichte, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview, per Videocall

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VB der ÖB Damaskus - Vertrauensanwalt der Österreichischen Botschaft Damaskus (27.9.2022): Antwortschreiben per E-Mail

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Ergänzende Informationen zur Behandlung bei und nach der Rückkehr

Letzte Änderung 2024-03-14 11:52

Am 10.5.2023 erklärten die Außenminister von Russland, Türkei, Iran und Syrien, dass erst die nötige Infrastruktur für eine sichere Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien geschaffen werden müsse (SNHR 6.2023). Es besteht nach wie vor kein freier und ungehinderter Zugang von UNHCR und anderer Menschenrechtsorganisationen zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen bei der Rückkehr ist es unklar, wie systematisch und weit verbreitet Übergriffe gegen Rückkehrer sind. Es gibt kein klares Gesamtmuster bei der Behandlung von Rückkehrern, auch wenn einige Tendenzen zu beobachten sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt zur Abwesenheit eines klaren Musters bei (DIS 5.2022). Die Behandlung von Menschen, die nach Syrien einreisen, hängt stark vom Einzelfall ab, und es gibt keine zuverlässigen Informationen über den Kenntnisstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrer (ÖB Damaskus 29.9.2020).

Es ist schwierig, Informationen über die Situation von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude (Anm.: über die Rückkehr) der RückkehrerInnen (TN 10.12.2018), pro-oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von RückkehrerInnen (TN 10.12.2018; vgl. TWP 2.6.2019, FP 6.2.2019). Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen durch die Regierung nach ihrer Rückkehr nach Syrien nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder auch nur mit Angehörigen sprechen (SD 16.1.2019; vgl. TN 10.12.2018). Die syrische Regierung und ihr Sicherheitsapparat sind immer wieder gegen Personen vorgegangen, die sich abweichend oder oppositionell geäußert haben, unter anderem durch willkürliche Inhaftierung, Folter und Schikanen gegen Kritiker und ihre Angehörigen. Trotz Amnestien und gegenteiliger Erklärungen hat die syrische Regierung bisher keine Änderung ihres Verhaltens erkennen lassen. Selbst dort, wo Einzelpersonen von der Regierung Sicherheitsgarantien erhalten haben, kam es zu Übergriffen. Jeder, der aus dem Land geflohen ist oder sich gegen die Regierung geäußert hat, läuft Gefahr, als illoyal angesehen zu werden, was dazu führen kann, dass er verdächtigt, bestraft oder willkürlich inhaftiert wird (COAR/HRW/HBS/JUSOOR 19.4.2021). BürgerInnen in von der Regierung rückeroberten Gebieten wie auch Rückehrende gehören zu den verwundbarsten Bevölkerungsgruppen. RückkehrerInnen und Binnenvertriebene sind am ehesten von gesellschaftlichem Ausschluss und einem Mangel an Zugang zu öffentlichen Leistungen in der näheren Zukunft ausgesetzt (BS 23.3.2022). Enteignungen dienen der Schaffung von Hürden für rückkehrende Flüchtlinge und Binnenvertriebene und der Belohnung von regimeloyalen Personen mit einer daraus resultierenden demografischen Änderung in ehemaligen Hochburgen der Opposition (USDOS 15.5.2023).

Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert und sehen sich daher oft mit weitreichender systematischer Willkür bis hin zu vollständiger Rechtlosigkeit konfrontiert. Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen. Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (AA 2.2.2024). Alles in allem kann eine Person, die von der Regierung gesucht wird, aus einer Vielzahl von Gründen oder völlig willkürlich gesucht werden. So kann die Behandlung einer Person an einem Checkpoint von verschiedenen Faktoren abhängen, darunter der Willkür des Kontrollpersonals oder praktischen Problemen wie eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, müssen mit verschiedenen Konsequenzen seitens der Regierung rechnen, z. B. mit Verhaftung und im Zuge dessen auch mit Folter. Einigen Quellen zufolge gehört medizinisches Personal zu den Personen, die als oppositionell oder regierungsfeindlich gelten, insbesondere wenn es in einem von der Regierung belagerten Oppositionsgebiet gearbeitet hat. Dies gilt auch für Aktivisten und Journalisten, die die Regierung offen kritisiert oder Informationen oder Fotos von Ereignissen wie Angriffen der Regierung verbreitet haben, sowie generell für Personen, die die Regierung offen kritisieren. Einer Quelle zufolge kann es vorkommen, dass die Regierung eine Person wegen eines als geringfügig eingestuften Vergehens nicht sofort verhaftet, sondern erst nach einer gewissen Zeit. Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Kontrollpunkt beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. Wenn eine Person an einem Ort lebt oder aus einem Ort kommt, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, kann dies das Misstrauen des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018). Die Definition des Regimes, wer ein Oppositioneller ist, ist nicht immer klar oder kann sich im Laufe der Zeit ändern. Es gibt keine Gewissheit darüber, wer vor Verhaftungen sicher ist. In Gesprächen mit der NGO International Crisis Group (ICG) berichteten viele Flüchtlinge, dass der Verzicht auf regimefeindliche Aktivitäten keine sichere Rückkehr garantiert (ICG 13.2.2020). So folgten z. B. Abschiebungen aus dem Libanon im April 2023 von mindestens 130 Menschen - darunter auch unbegleitete Minderjährige - Berichte, wonach es zu Verhaftungen [Anm.: die Zahlen variieren je nach Quelle - z. B. mindestens vier dokumentierte Verhaftungen] und zwangsweisem Einzug zum Wehrdienst [Anm.: keine Zahlenangaben, nur Beispiele] kam (Reuters 1.5.2023).

Generell ist es schwer, in Erfahrung zu bringen, was der Status einer Person bezüglich der syrischen Regierung ist. Für Menschen mit Geld und guten Beziehungen zu den Behörden oder einflussreichen Personen besteht die Möglichkeit, nachzuforschen, ob ihre Namen auf Suchlisten stehen. Allerdings kann die Suche nach diesen Informationen diese auch exponieren - bzw. die Personen, welche für sie nach Informationen suchen. Es gibt keine Garantie, dass sie dabei nicht mit Schwierigkeiten konfrontiert sein werden, darunter das Risiko einer Verhaftung (DIS 9.2019). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse. Laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen, der Vereinten Nationen und von Betroffenen haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 2.2.2024). Zudem ist nach wie vor eine großflächige Enteignung in Form von Zerstörung und Abriss von Häusern und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten unter Anwendung der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Nr. 19/2012 und Dekret 63/2012) zu verzeichnen. Sie erlaubt es, gezielt gegen Inhaftierte, Menschenrechtsaktivistinnen und –aktivisten sowie Personen, die sich an Protesten gegen das Regime beteiligen oder beteiligt haben, vorzugehen und deren Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen (AA 22.2.2024).

Anhand der von der CoI (Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic der Vereinten Nationen), Nichtregierungsorganisationen (NRO) und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende (AA 2.2.2024). Unverändert besteht nach Bewertung des deutschen Auswärtigen Amts in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden (AA 2.2.2024).

Das Syrian Network for Human Rights dokumentierte beinahe 2.000 Verhaftungen von RückkehrerInnen nach Syrien von 2014 bis 2019. Ein Drittel von ihnen wurde 'verschwunden gelassen' (BS 23.3.2022). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden Berichten von 2019 zufolge nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört, darunter Flüchtlinge, die aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrt sind, Binnenvertriebene aus von der Opposition kontrollierten Gebieten und Personen, die in von der Regierung zurückeroberten Gebieten ein 'Versöhnungsabkommen' mit der Regierung unterzeichnet hatten. Sie wurden gezwungen, Aussagen über Familienmitglieder zu machen, und in einigen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 2.6.2019; vgl. EIP 7.2019). Amnesty International legte in seinem Bericht aus dem Jahr 2021 Informationen über 66 Personen vor, die bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland Opfer von Verstößen wurden. Unter ihnen wurden 59 Fälle von unrechtmäßiger oder willkürlicher Inhaftierung von Männern, Frauen und Kindern dokumentiert. Unter den Inhaftierten befanden sich zwei schwangere Frauen und zehn Kinder im Alter zwischen drei Wochen und 16 Jahren, von denen sieben vier Jahre alt oder jünger waren. Außerdem wurden 27 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen dokumentiert, darunter vier Kinder, die mindestens eine Woche und bis zu vier Jahre lang festgehalten wurden, wobei 17 Fälle noch andauerten. Die Sicherheitsbeamten verhafteten die Rückkehrer zumeist unter dem pauschalen Vorwurf des 'Terrorismus', weil sie häufig davon ausgingen, dass einer ihrer Verwandten der politischen oder bewaffneten Opposition angehörte, oder weil die Rückkehrer aus einem Gebiet kamen, das zuvor von der Opposition kontrolliert wurde. Darüber hinaus wurden 14 Fälle gemeldet, in denen Sicherheitsbeamte sexuelle Gewalt gegen Kinder, Frauen und männliche Rückkehrer ausübten, darunter Vergewaltigungen an fünf Frauen, einem 13-jährigen Buben und einem fünfjährigen Mädchen. Die sexuelle Gewalt fand an Grenzübergängen oder in Haftanstalten während der Befragung am Tag der Rückkehr oder kurz danach statt. Berichten zufolge setzten Geheimdienstmitarbeiter 33 RückkehrerInnen, darunter Männer, Frauen und fünf Kinder, während ihrer Inhaftierung und Verhöre in Geheimdiensteinrichtungen Praktiken aus, die Folter oder anderen Misshandlungen gleichkommen. Trotz der Behauptung, Damaskus und seine Vororte seien sicher, um dorthin zurückzukehren, fand ein Drittel der im Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2021 dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Damaskus selbst oder in der Umgebung von Damaskus statt, was laut Amnesty International darauf hindeutet, dass selbst dann, wenn die willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau liegt und/oder die Regierung ein bestimmtes Gebiet unter Kontrolle hat, die Risiken bestehen bleiben (AI 9.2021).

Eine gemeinsame Studie von Zivilgesellschaftsorganisationen im Frühjahr 2022 (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens dokumentiert schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 2.2.2024).

Quellen:

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Hinweise über Rückkehrende aus den Nachbarstaaten und Europa

Letzte Änderung 2024-03-14 11:54

Syrische Rückkehrende aus den Nachbarstaaten Libanon, Jordanien und der Türkei

Obwohl sich am Bestehen der Fluchtursachen laut deutschem Auswärtigem Amt, insbesondere im Hinblick auf verbreitete Kampfhandlungen sowie die in weiten Teilen des Landes katastrophale humanitäre, wirtschaftliche und Menschenrechtslage nicht verbessert hat, erhöhen manche Aufnahmestaaten in der Region gezielt den politischen, rechtlichen und sozio-ökonomischen Druck auf syrische Geflüchtete, um eine 'freiwillige Rückkehr' zu erwirken. So hat die türkische Regierung im Juli 2022 entsprechende Programme für rund eine Million Syrerinnen und Syrer mit Infrastrukturprojekten in sog. 'sicheren Zonen' angekündigt, deren Umsetzung sich schwer unabhängig überprüfen lässt. Die libanesische Regierung hat ebenfalls versucht, das Thema Rückkehr von syrischen Geflüchteten aktiv voranzutreiben. Es fanden mehrere Gespräche zwischen libanesischen und syrischen Behörden und Delegationsreisen nach Damaskus statt, um Modalitäten einer Rückführungspolitik zu sondieren (AA 2.2.2024).

Im Mai 2023 wurde die syrische Bevölkerung mit 22.933.531 Millionen Menschen beziffert (CIA 30.5.2023). Mitte November 2022 waren 5.534.620 Personen als syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens und in Ägypten registriert. Nach Angaben des UNHCR kehrten im Jahr 2022 (Stand 30.11.2022) insgesamt rund 47.623 Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten und Ägypten nach Syrien zurück (UNHCR 30.11.2022).

Auf der folgenden Grafik sind die Provinzen ersichtlich, in welche die Flüchtlinge im Jahr 2022 (Stand 30.11.2023) zurückkehrten (Anm.: Die fünf zahlenstärksten Rückkehrziele befinden sich ganz oder teilweise in Händen von Oppositionsgruppen - siehe Kapitel Sicherheitslage.]:

Auf der folgenden Grafik von UNCHR sind die Provinzen ersichtlich, in welche die Flüchtlinge im Jahr 2022 (Stand 30.11.2023) zurückkehrten.

Auf der folgenden Grafik von UNCHR sind die Provinzen ersichtlich, in welche die Flüchtlinge im Jahr 2022 (Stand 30.11.2023) zurückkehrten.

UNHCR 30.11.2022

UNHCR hat die Rückkehrzahlen je nach Land grafisch für die Jahre 2017 bis 2023 aufbereitet. Die meisten Rückkehrbewegungen fanden demnach aus Türkei statt:

Diese Grafik von UNHCR zeigt, aus welchen Ländern Rückkehrer zwischen 2017 und 2023 nach Syrien zurückkehrten. Die meisten Rückkehrbewegungen fanden demnach aus Türkei statt.

UNHCR 11.5.2023

Hier sind für das 1. Quartal 2023 folgende Zahlen bezüglicher RückkehrerInnen dokumentiert. Auch in diesem Zeitabschnitt führen RückkehrerInnen aus der Türkei mit 4.028 Personen die Statistik an:

In dieser Grafik von UNHCR sind für das 1. Quartal 2023 Zahlen von RückkehrerInnen dokumentiert. RückkehrerInnen aus der Türkei führen mit 4.028 Personen die Statistik an. UNHCR 11.5.2023

Der folgenden Trendanalyse von UNHCR zufolge liegen die Rückkehrzahlen von 2022 wie vom 1. Quartal 2023 unter denen des zahlenstärksten Jahres 2019:

Diese Grafik zeigt eine Trendanalyse von UNHCR. Demzufolge liegen die Rückkehrzahlen von 2022 wie vom 1. Quartal 2023 unter denen des zahlenstärksten Jahres 2019.

UNHCR 11.5.2023

Laut niederländischem Außenministerium kehrten im Jahr 2021 ein Tausend PalästinenserInnen aus den Nachbarländern und anderen Staaten nach Syrien zurück. Es betont aber, dass keine Informationen vorliegen, ob diese Rückkehr dauerhaft war, und verweist auf die Möglichkeit, dass diese Syrien wieder verlassen haben. Viele von diesen (etwaigen) Rückehrenden wurden zu Verhören vorgeladen. Ob sie dabei anders als zurückgekehrte SyrerInnen behandelt wurden, ist nicht bekannt (NMFA 5.2022).

Nach entsprechenden Berichten von Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) von September bzw. Oktober 2021 präsentierten der Zusammenschluss von Zivilgesellschaftsorganisationen Voices for Displaced Syrians Forum und der Think Tank Operations and Policy Center im Frühjahr 2022 eine gemeinsame Studie (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens. Diese dokumentiert innerhalb eines Jahres schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien (AA 2.2.2024).

- Libanon

Ende Oktober 2022 begann der Libanon damit, Gruppen syrischer Geflüchteter vermeintlich freiwillig nach Syrien zurückzuführen. Trotz Kritik von Menschenrechtsorganisationen nahm die libanesische Regierung die mit Beginn der Corona-Krise ausgesetzte, von der libanesischen General Security [Anm.: ein libanesischer Geheimdienst] durchgeführte, freiwillige Rückkehr wieder auf, in deren Rahmen am 26.10.2022 324 Personen nach Syrien zurückgekehrt sein sollen. Eine zweite Gruppe von 353 Personen soll am 5.11.2022 nach Syrien zurückgekehrt sein (AA 29.3.2023). Die Rückkehraktionen werden vom General Security Directorate mit den syrischen Geheimdiensten koordiniert, welche dann über die Rückkehrerlaubnis entscheiden. In einigen Fällen wurde der Rückkehrantrag noch vor Abfahrt des Konvois aus 'Gründen der Kriminalität' oder aus 'Sicherheitsgründen' abgelehnt, ohne dass Näheres bekannt gegeben wurde. Anderen SyrerInnen wurde direkt an der Grenze die Einreise verwehrt (UNCOI 7.2.2023). Die libanesischen Statistiken weisen darauf hin, dass Syriens Sicherheitsapparat mit Berichtsdatum 2.2.2022 lediglich 20 Prozent der AntragstellerInnen für eine Rückkehr aus dem Libanon eine Heimkehrerlaubnis gewährte (Qantara 2.2.2022). Seit Beginn des Jahres 2023 wurden durch die Lebanese Armed Forces (LAF) in einem zunehmend angeheizten politischen Klima vermehrt auch zwangsweise Rückführungen nach Syrien durchgeführt. Den LAF zufolge geht es dabei um „Kriminelle und Terroristen“. Hingegen waren lt. UNHCR-Libanon v.a. syrische Geflüchtete ohne gültige Aufenthaltstitel betroffen, darunter aber auch beim UNHCR registrierte Personen (AA 2.2.2024). Dabei kam es in einigen Fällen zur Trennung von abgeschobenen Minderjährigen von ihren Familien, die nicht von einer Abschiebung betroffen waren (Al Jazeera 17.5.2023). Berichten von Human Rights Watch zufolge wurden zwischen April und Mai 2023 Tausende Syrer, inklusive unbegleiteter Kinder, nach Syrien deportiert (HRW 11.1.2024).

Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden (AA 2.2.2024). Michael Young, vom Think Tank Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Centre in Beirut bestätigte, dass RückkehrerInnen verhaftet wurden, einschließlich Fällen von Verschwindenlassen (Now 4.4.2023). Zum Beispiel im Fall von abgeschobenen SyrerInnen im April 2023 berichteten Angehörige wie auch AktivistInnen von Verhaftungen sowie zwangsweisem Einziehen zum Wehrdienst. Amnesty International dokumentierte mindestens vier Verhaftungen zusätzlich zu den Personen, die zum Wehrdienst eingezogen wurden. Einige Angehörige berichteten, dass die verhafteten Familienmitglieder von der Vierten Division festgehalten werden, die wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen unter Sanktionen steht (Reuters 1.5.2023).

Seit 2018 gibt es immer wieder Versuche im Libanon, zahlreiche syrische Staatsangehörige zur Rückkehr zu bewegen. Hierbei wird eine weite Palette von Druckmitteln eingesetzt, die internationale Beobachter an der Freiwilligkeit vieler der berichteten Rückreisen zweifeln lässt. Syrische Flüchtlinge im Libanon sind im Regelfall den Folgen des ökonomischen Zusammenbruchs des Landes stärker ausgesetzt als libanesische Staatsangehörige, weil sie zu vielen Dienstleistungen keinen Zugang haben und ihnen der Arbeitsmarkt nur sehr begrenzt legal zur Verfügung steht. Der Libanon ist kein Signatarstaat der Genfer Flüchtlingskonvention (BAMF 7.11.2022). Die Abschiebungen im April 2023 waren zum Beispiel 'von einer Welle von Hetzreden, Restriktionen durch Stadtverwaltungen gegen SyrerInnen und Kommentaren von Offiziellen begleitet, die ein Umfeld von Druck erzeugte', um syrische Flüchtlinge dazu zu bringen, den Libanon zu verlassen (Reuters 1.5.2023). Einige Flüchtlinge hatten bereits im Jahr 2019 erklärt, dass sie wegen der strikten Politik und der sich verschlechternden Bedingungen im Libanon zurückkehrten, nicht weil sie Syrien für sicher hielten. Gemeinden im Libanon hatten bereits damals Tausende von Flüchtlingen ohne Rechtsgrundlage und ohne ordnungsgemäßes Verfahren gewaltsam vertrieben (HRW 17.1.2019).

- Jordanien

Im ersten Quartal 2023 kehrten UNHCR zufolge 923 SyrerInnen aus Jordanien in ihr Heimatland zurück (UNHCR 11.5.2023). Bisher kehrte aufgrund der Sicherheits- und Wirtschaftslage in Syrien nur eine geringe Zahl von SyrerInnen zurück (SD 6.5.2020), obwohl die wirtschaftliche Lage vieler syrischer Flüchtlinge in Jordanien schwierig ist (TN 3.10.2019; vgl. SD 6.5.2020). Im Jahr 2021 normalisierten mehrere Staaten, darunter die Vereinigten Arabischen Emirate und Jordanien, trotz der Menschenrechtsverletzungen in Syrien ihre Beziehungen zum syrischen Regime. Dabei wurden Kooperationszusagen gemacht, welche bei BeobachterInnen die Frage einer verfrühten Rückkehr von Flüchtlingen und das eventuelle Ermöglichen von Menschenrechtsverletzungen aufwarfen (HRW 13.1.2022).

- Türkei

Die Türkei beherbergt mit Stand 30.11.2022 3.577.714 Millionen syrische Flüchtlinge (UNHCR 30.11.2022). Im ersten Quartal 2023 kehrten 4.028 SyrerInnen nach Syrien von der Türkei zurück (UNHCR 11.5.2023).

Im Juli 2019 änderte sich die Haltung der türkischen Regierung den syrischen Flüchtlingen gegenüber. Die türkischen Sicherheitskräfte begannen, syrische Flüchtlinge zusammenzutreiben und sie in die türkischen Provinzen zurückzuschicken, in denen sie registriert waren. Sie fingen damit an, einige von ihnen abzuschieben und andere zu ermutigen, in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien, einschließlich der Konfliktzone Idlib, zu ziehen (SWP 5.2.2020). NGO-Berichten zufolge haben die türkischen Behörden immer wieder Flüchtlinge inhaftiert und sie gezwungen, 'freiwillige' Rückkehrdokumente zu unterschreiben, manchmal durch Schläge und Drohungen (SJAC 8.10.2020). Auch die Organisation Syrians for Truth and Justice erhob in ihrem Bericht vom Februar 2022 diesen Vorwurf (STJ 14.2.2022). Human Rights Watch beziffert für das Jahr 2023 die Zahl der Abschiebungen nach Nordsyrien mit 'Tausenden' (HRW 11.1.2024). Der Modus der Abschiebungen umfasst Verhaftungen in Wohnungen, an Arbeitsplätzen und auf der Straße, gefolgt von Haft unter schlechten Bindungen und physischen Schikanen, um die Unterzeichnung eines 'Formulars für eine freiwillige Rückkehr' zu erreichen. Dann werden die Syrer zu den Grenzübergängen zu Nordsyrien gebracht und 'mit vorgehaltenem Gewehr' zum Grenzübertritt gezwungen (USDOS 20.3.2023).

Für nähere Informationen siehe auch COI-CMS-Länderinformationen Türkei [Anm.: letzte Aktualisierung am 29.6.2023], Kapitel Binnenvertriebene und Flüchtlinge sowie zur völkerrechtswidrigen Verbringung von syrischen Gefangenen in die Türkei und deren dortige Verurteilung siehe Kapitel Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland.

Syrische Rückkehrende aus Europa

Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann laut deutschem Auswärtigen Amt für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und andere Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 2.2.2024).

Die verfügbaren Informationen über SyrerInnen, die aus Europa nach Syrien zurückkehren, sind begrenzt (Rechtsexperte 14.9.2022, DIS 5.2022). Zur Situation von rückkehrenden Flüchtlingen aus Europa gibt es auch aufgrund deren geringer Zahl keine Angaben (ÖB Damaskus 12.2022): Im Jahr 2020 kehrten 137 syrische Flüchtlinge freiwillig und mit Unterstützung der dänischen Behörden aus Dänemark nach Syrien zurück. Im selben Jahr suchten zehn SyrerInnen bei den niederländischen Behörden um Hilfe für eine Rückkehr nach Syrien an. In Dänemark leben rund 35.000 Syrer und Syrerinnen, in den Niederlanden ca. 77.000 (EASO 6.2021). Nach Angaben des deutschen Innenministeriums kehrten von 2017 bis Juni 2020 über 1.000 SyrerInnen mit finanzieller Unterstützung Deutschlands aus Deutschland nach Syrien zurück (Daily Sabah 15.6.2020). Die meisten syrischen Flüchtlinge in der EU erwägen nicht, in (naher) Zukunft nach Syrien zurückzukehren, wie Umfragen aus verschiedenen europäischen Staaten illustrieren. Diejenigen, die nicht nach Syrien zurückkehren wollten, wiesen auf verschiedene Hindernisse für eine Rückkehr hin, darunter das Fehlen grundlegender Dienstleistungen (wie Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit) und die derzeitige syrische Regierung, die an der Macht geblieben ist (Rechtsexperte 14.9.2022).

Die meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die Europäische Union selbst sowie der UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), bleiben bei ihrer Einschätzung, dass Syrien nicht sicher für eine Rückkehr von Flüchtlingen ist. Im Juli 2022 entschied das Netherlands Council of State, dass syrische Asylsuchende nicht automatisch nach Dänemark transferiert werden dürften angesichts der dortigen Entscheidung, Teile Syriens für 'sicher' zu erklären (HRW 12.1.2023). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) kommt zum Schluss, dass die Bedingungen für eine sichere Rückkehr in Würde nicht gegeben sind, auch angesichts von Fällen von Rückkehrverweigerungen, willkürlichen Verhaftungen und der Verhinderung der Rückkehr zu ihren Heimen in Regierungsgebieten (UNCOI 7.2.2023). Das deutsche Auswärtige Amt weist darauf hin, dass UNHCR, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und die International Organization for Migration (IOM) unverändert die Auffassung vertreten, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. UNHCR bekräftigte, dass sich seine Position und Politik nicht geändert hätten. Im Einklang mit dieser Einschätzung führt laut deutschem Auswärtigem Amt weiterhin kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union Rückführungen nach Syrien durch (AA 2.2.2024). Auch der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sieht nicht die menschenrechtlichen Voraussetzungen für Abschiebungen nach Syrien gegeben (Die Presse 5.6.2023).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024

AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), 5https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023

Al Jazeera (17.5.2023): Syrian refugees in fear as Lebanon steps up deportations, https://www.aljazeera.com/news/2023/5/17/syrian-refugees-in-fear-as-lebanon-steps-up-deportations, Zugriff 19.5.2023

BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (7.11.2022): Briefing Notes - Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw45-2022.pdf?__blob=publicationFile amp;v=5, Zugriff 15.6.2023

CIA - Central Intelligence Agency [USA] (30.5.2023): The World Factbook: Syria - People and Society, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/syria/#people-and-society, Zugriff 21.6.2023

Daily Sabah (15.6.2020): At least 1,000 Syrians returned home from Germany since 2017, https://www.dailysabah.com/politics/at-least-1000-syrians-returned-home-from-germany-since-2017/news?gallery_image=undefined#big, Zugriff 21.6.2023

Die Presse (5.6.2023): UNO-Hochkommissar warnt vor Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan, https://www.diepresse.com/6295929/uno-hochkommissar-warnt-vor-abschiebungen-nach-syrien-und-afghanistan, Zugriff 6.6.2023

DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2022): Syria. Treatment Upon Return, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072754/notat-syria-treatment-upon-return-may-2022.pdf, Zugriff 21.6.2023

EASO - European Asylum Support Office (6.2021): Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060547/2021_06_EASO_COI_Report_Syria_Situation_returnees_from_abroad_DE.pdf, Zugriff 21.6.2023

HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103131.html, Zugriff 22.1.2024

HRW – Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085501.html, Zugriff 16.3.2023

HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066477.html, Zugriff 21.6.2023

HRW - Human Rights Watch (17.1.2019): Annual report on the human rights situation in 2018 - Syrian Arab Republic, https://www.ecoi.net/en/document/2002172.html, Zugriff 21.6.2023

NMFA - Netherlands Ministy of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 8.3.2023

Now (4.4.2023): Scapegoating Refugees, https://nowlebanon.com/scapegoating-refugees/, Zugriff 19.4.2023

ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien (Stand Ende Dezember 2022) (in der Staatendokumentation aufliegend)

Qantara - Qantara.de (Scheller, Bente) (2.2.2022): Normalisierung auf Kosten der Syrer, https://de.qantara.de/inhalt/assads-rehabilitation-normalisierung-auf-kosten-der-syrer, Zugriff 21.6.2023

Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (27.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail

Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail

Reuters (1.5.2023): Syrian refugees deported from Lebanon face arrest, conscription, say relatives https://www.reuters.com/world/middle-east/syrian-refugees-deported-lebanon-face-arrest-conscription-say-relatives-2023-05-01/, Zugriff 16.6.2023

SD - Syria Direct (6.5.2020): Ineligible for government aid, Syrians in Jordan struggle amidst COVID-19 lockdowns, https://syriadirect.org/ineligible-for-government-aid-syrians-in-jordan-struggle-amidst-covid-19-lockdowns/, Zugriff 21.6.2023

SJAC - Syria Justice and Accountability Centre (8.10.2020): Turkey continues to deport Syrians to Idlim, violating international law, https://syriaaccountability.org/updates/2020/10/08/turkey-continues-to-deport-syrians-to-idlib-violating-international-law/, Zugriff 1.12.2022

STJ - Syrians for Truth and Justice (14.2.2022): Turkey Continues to Forcibly Return Refugees, Ignoring International Warnings that Syria is Still Unsafe, https://stj-sy.org/en/turkey-continues-to-forcibly-return-refugees-ignoring-international-warnings-that-syria-is-still-unsafe/, Zugriff 21.6.2023

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (5.2.2020): Syrian Refugees in Turkey: Changing Attitudes and Fortunes, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/comments/2020C05_Kiniklioglu.pdf, Zugriff 21.6.2023

TN - The National (3.10.2019): Syrians struggling to survive in Jordan face difficult decision, https://www.thenational.ae/world/mena/syrians-struggling-to-survive-in-jordan-face-difficult-decision-1.917568, Zugriff 21.6.2023

UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/iici-syria/report-coi-syria-march2023, Zugriff 18.3.2023

UNHCR – United Nations High Commissioner for Refugees (11.5.2023): Durable Solutions; 31 March 2023; Egypt, Iraq, Jordan, Lebanon, and Türkiye, https://data.unhcr.org/en/documents/download/100338, Zugriff 15.6.2023

UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (30.11.2022): Durable Solutions dashboard - Egypt, Iraq, Jordan, Lebanon, and Türkiye - November 2022, https://data.unhcr.org/en/situations/syria_duable_solutions, Zugriff 21.6.2023

USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023

Überwachungsmaßnahmen im Ausland und deren Folgen

Letzte Änderung 2023-07-12 08:31

Informationssammlung des Sicherheitsapparats und 'Berichte' von InformantInnen

Der Sicherheitssektor nutzt den Rückkehr- und Versöhnungsprozess, um seinen historischen Einsatz lokaler InformantInnen zur Sammlung von Informationen und zur Kontrolle der Bevölkerung wieder zu verstärken und zu institutionalisieren. Die Regierung baut weiterhin eine umfangreiche Datenbank mit Informationen über alle Personen auf, die ins Land zurückkehren oder im Land bleiben. In der Vergangenheit wurde diese Art von Informationen genutzt, um Personen zu erpressen oder zu verhaften, die aus irgendeinem Grund als Bedrohung oder Problem wahrgenommen wurden (EIP 7.2019). Das Verfassen eines 'Taqrir' (eines 'Berichts', d. h., die Meldung von Personen an die Sicherheitsbehörden) war im ba'athistischen Syrien jahrzehntelang gang und gäbe und wird laut International Crisis Group (ICG) auch unter Flüchtlingen im Libanon praktiziert. Die Motive können persönlicher Gewinn oder die Beilegung von Streitigkeiten sein, oder die Menschen schreiben 'Berichte', um nicht selbst zur Zielscheibe zu werden. Selbst Regimevertreter geben zu, dass es aufgrund unbegründeter Denunziationen zu Verhaftungen kommt (ICG 13.2.2020). Eine Umfrage des Middle East Institute veröffentlicht im Februar 2022 ergab, dass 27 Prozent der RückkehrerInnen berichteten, dass sie oder ihnen nahestehende Personen aufgrund ihres Herkunftsorts, ihres illegalen Verlassens von Syrien oder wegen eines Asylantrags im Ausland Repressionen ausgesetzt sind (USDOS 20.3.2023).

Zur digitalen Überwachung einschließlich Hackerangriffen durch die Syrian Electronic Army siehe Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage sowie bzgl. Abfrage von Login-Daten bei Ein- und Ausreise siehe Kapitel Bewegungsfreiheit im Unterkapitel Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen.

Überwachung von SyrerInnen im Ausland

Die Überwachung im Ausland ist ein Eckpfeiler der syrischen Außenpolitik, und wird von einem koordinierten Netzwerk von Botschaftsangestellten, nachrichtendienstlichen Quellen und Sicherheitsdiensten umgesetzt. Es sind keine Änderung diesbezüglich absehbar. Das Syria Justice and Accountability Centre sieht die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen Syriens und die Wiedereröffnung ausländischer Botschaften auch als Weg zu einer verstärkten Kontrolle der im Ausland aufhältigen SyrerInnen. Seit 2011 mehren sich die Berichte über syrische Botschaften als Ausgangspunkt für die Überwachung und Einschüchterung von Oppositionellen. Bereits vor dem SJAC-Bericht mit einer Auswertung von interner Korrespondenz der involvierten syrischen Behörden (SJAC 3.5.2023) gingen Berichte verschiedener Stellen davon aus, dass syrische Sicherheitsdienste in der Lage sind, politische Aktivitäten im Exil auszuspionieren und darüber zu berichten (ÖB Damaskus 29.9.2020; vgl. TWP 2.6.2019, EASO 6.2021). Dabei erstreckt sich die Überwachung über die Länder mit großen Zahlen an SyrerInnen hinaus rund um die Welt (SJAC 3.5.2023). Nach Angaben von Jusoor for Studies haben die syrischen Behörden Agenten und Informanten in Asylstaaten, unter anderem in die EU und der Türkei entsandt, die Syrer in der Diaspora beobachten und wöchentlich über sie berichten. Diese Agenten und Informanten arbeiten für verschiedene Abteilungen der Sicherheitsbehörden: die 4. Division des Sicherheitsbüros, die Abteilung 279 des Allgemeinen Nachrichtendienstes, die Abteilung 297 der Abteilung für militärische Aufklärung, das Direktorat für den Geheimdienst der Luftwaffe und die Abteilung 300 (EASO 6.2021). In Staaten mit etablierter syrischer diplomatischer Präsenz, wie die Türkei und der Libanon, werden besonders große Ressourcen für die Überwachung eingesetzt. In der Türkei werden auch die Kreise der politischen Exilopposition unterwandert, z. B. indem sich in einem dokumentierten Fall ein Agent als Unterstützer der Opposition ausgab, um Informationen über diese zu sammeln (SJAC 3.5.2023).

Trotz der Konkurrenz zwischen den Organisationen des syrischen Sicherheitsapparats koordinieren sich diese, wenn notwendig, zwecks Sammlung von Informationen über für sie interessante Personen. Gleichwohl ist z. B. ein Fall aus Zypern bekannt, wo ein Oppositioneller es schaffte, aufgrund seiner Rolle als vermeintlicher Informant für das Büro des syrischen Militärattachés weiterhin offen seinen regimegegnerischen Aktivitäten nachzugehen (SJAC 3.5.2023).

Syrische Sicherheitsdienste setzen auch Drohungen gegen in Syrien lebende Familienmitglieder ein, um Druck auf Verwandte im Ausland auszuüben, die z.B. in Deutschland leben (AA 13.11.2018): Seit 2011 sind in Syrien lebenden Familien von im Ausland aufhältigen oppositionellen Ziele. Dabei taucht in schriftlichen Anweisungen des Sicherheitsapparats an ihre MitarbeiterInnen der Befehl 'das Notwendige zu tun' auf. Diese Anweisung erlaubt den Mitgliedern des Sicherheitsapparats bei der Ausführung von Befehlen den Einsatz einer Bandbreite an Maßnahmen bis hin zu tödlicher Gewalt nach ihrem Ermessen (SJAC 3.5.2023). Auch Gewalt und Drohungen gegen Personen außerhalb Syriens werden berichtet, darunter Fälle, in denen SyrerInnen zur Rückkehr nach Syrien mit dem Ziel politischer Repressalien gegen sie gezwungen wurden (USDOS 20.3.2023).

Einem Syrien-Experten des Europäischen Friedensinstituts zufolge werden Syrer in der Diaspora auf zwei Arten überwacht: informell und formell. Die formelle Art der Überwachung besteht darin, dass staatliche Einrichtungen wie Botschaften und Sicherheitsdienste Informationen über im Ausland lebende Dissidenten sammeln einschließlich durch Überwachung von Social-Media-Konten und Social-Media-Gruppen im Ausland lebender Syrerinnen und Syrern. Bei der informellen Überwachung melden Einzelpersonen andere Personen an die syrischen Behörden. Diese Informanten sind nicht offiziell bei den Sicherheitsbehörden angestellt, melden aber andere Personen, um der Regierung gegenüber loyal zu erscheinen. Auf diese Weise versuchen sie, mögliche negative Aufmerksamkeit von sich abzuwenden (EASO 6.2021). Laut Syrien-Experten Prof. Uğur Ümit Üngör war ein Auslandsaufenthalt schon vor dem Krieg ein Grund für Misstrauen. SyrerInnen mit einem europäischen Pass nach der Asylantragstellung und mit einer bewiesenen regimeloyalen Haltung können seiner Erfahrung nach sehr nützlich für das Regime sein. Bei manchen Fällen stellt sich die Frage, ob das Regime ihre Flucht erlaubt hat. Z. B. gab es in den Niederlanden einen derartigen Fall, wo der Betreffende syrische Gemeinschaften ausspionierte, und sich zurück in Syrien mit diversen offiziellen Funktionären fotografieren ließ, bevor er wieder in die Niederlande zurückkehrte, wo dann ein Verfahren gegen ihn eingeleitet wurde (Üngör 15.12.2021).

Die syrische Regierung sammelt nicht nur Informationen über oppositionelle Aktivitäten im Ausland, sondern verwendet diese auch gegen diese, was Fragen zur Sicherheit zurückkehrender SyrerInnen aufwirft (SJAC 3.5.2023). Die Informationen, welche die syrischen Botschaften sammeln, sind detailliert und genau, einschließlich Details, die eine Identifizierung von Rückkehrenden und ihrer vorhergehenden Aktivitäten im Ausland erlaubt (Enab 5.5.2023). Die Gefährdung eines Rückkehrers im Falle politischer Aktivitäten im Exil hängt jedoch von den Aktivitäten selbst, dem Profil der Person und vielen anderen Faktoren ab, wie dem Hintergrund der Familie und den der Regierung zur Verfügung stehenden Ressourcen (STDOK 8.2017). Politische und humanitäre Aktivisten, die erwägen, nach Syrien zurückzukehren, sind nach Ansicht von Jusoor for Studies aufgrund der Auslandsüberwachung großen Gefahren ausgesetzt (EASO 6.2021).

Es gibt nicht nur eine Unzahl weiter zurückliegender Fälle, bei denen Personen am Flughafen Damaskus aufgrund von Informantenberichten aus dem Ausland verhaftet wurden, sondern auch in der Gegenwart: So wurde bereits eine Anzahl an RückkehrerInnen in Syrien verhaftet und gezwungen, Informationen über ihre Familienmitglieder bekannt zu geben. Andere wurden auch zwecks Erhalt von Informationen über oppositionelle Aktivitäten im Ausland gefoltert (SJAC 3.5.2023).

Unterstützung von nach dem Prinzip der universellen Jurisdiktion angeklagten ehemaligen Regimemitarbeitern und das Vorgehen gegen syrische ZeugInnen

Die Wiedereröffnung von syrischen Botschaften schafft auch Hindernisse für Gerichtsverfahren im Rahmen universeller Jurisdiktion. Überwachungen sind eine zusätzliche Hürde für die Behörden und die Menschenrechtsorganisationen bei den Gerichtsverfahren in Europa, denn ZeugInnen werden eingeschüchtert und mit ihren Familien (in Syrien) erpresst: So wurden im Fall eines in Deutschland wegen Mordes, Folter und sexuellen Missbrauchs in syrischen Militärspitälern angeklagten Arztes die Angehörigen der Zeugen in Syrien bedroht. Aufgrund der Gefahr für die Angehörigen im Regimegebiet Syriens haben viele ZeugInnen die Aussage verweigert, weil der Angeklagte sonst ihre Namen erfahren hätte. Ein Syrer, der im Verdacht steht, Zeugen in diesem Gerichtsverfahren bedroht zu haben, wurde von Norwegen an Deutschland ausgeliefert. Der angeklagte Arzt erhielt zudem von einem syrischen Botschaftsmitarbeiter Angebote zur Hilfe bei der Flucht nach Syrien (SJAC 3.5.2023).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff 22.6.2023

EASO - European Asylum Support Office (6.2021): Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060547/2021_06_EASO_COI_Report_Syria_Situation_returnees_from_abroad_DE.pdf, Zugriff 7.7.2023

Enab - Enab Baladi (5.5.2023): Syrians abroad put under systematic surveillance by regime diplomatic missions: documents, https://english.enabbaladi.net/archives/2023/05/syrians-abroad-put-under-systematic-surveillance-by-regime-diplomatic-missions-documents/, Zugriff 21.6.2023

EIP - European Institute of Peace (7.2019): Refugee return in Syria: Dangers, security risks and information scarcity, https://www.ecoi.net/en/file/local/2018602/EIP+Report+-+Security+and+Refugee+Return+in+Syria+-+July.pdf, Zugriff 7.7.2023

ICG - International Crisis Group (13.2.2020): Easing Syrian Refugees‘ Plight in Lebanon, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/eastern-mediterranean/lebanon/211-easing-syrian-refugees-plight-lebanon, Zugriff 7.7.2023

ÖB Damaskus- Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (29.9.2020): Asylländerbericht Syrien 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038328/Asyländerbericht+2020+(Stand+29092020)+.pdf, Zugriff 7.7.2023

SJAC - Syria Justice and Accountability Centre (3.5.2023): The Mechanics of Foreign Surveillance - Syria’s Network of Embassies Overseas, https://syriaaccountability.org/the-mechanics-of-foreign-surveillance/, Zugriff 16.3.2023

STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 7.7.2023

TWP - The Washington Post (2.6.2019): Assad urged Syrian refugees to come home. Many are being welcomed with arrest and interrogation, https://www.washingtonpost.com/world/assad-urged-syrian-refugees-to-come-home-many-are-being-welcomed-with-arrest-and-interrogation/2019/06/02/54bd696a-7bea-11e9-b1f3-b233fe5811ef_story.html?utm_term=.e0a2c27a072f, Zugriff 7.7.2023

Üngör, Uğur Ümit - Professor für Geschichte, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview, per Videocall

USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 21.6.2023

Anfragebeantwortung zu Syrien: Konsequenzen bei Verweigerung des Dienstes in den Selbstverteidigungskräften; Konsequenzen für Angehörige; Wahrnehmung von Personen, die den Dienst in den Selbstverteidigungskräften verweigern; Situation von Arabern; Einsatz von Rekruten im Rahmen der Selbstverteidigungspflicht an der Front [a-12188-v2], 6. September 2023 – Auszug

Konsequenzen bei Verweigerung des Dienstes in den Selbstverteidigungskräften (Tod, Folter, Freiheitsentzug)

Das Rojava Information Center (RIC) veröffentlicht im Juni 2020 eine englische Übersetzung des Militärdienstgesetzes von Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES). Laut Artikel 13 werde jede Abwesenheit mit einer Verlängerung der Dienstzeit um einen Monat bestraft. Ein Wehrpflichtiger gelte als abwesend, wenn die Person kein Selbstverteidigungsdienstbuch erhalten habe und/oder nicht binnen 60 Tagen ab Datum des Einzugs in den Selbstverteidigungsbüros vorstellig geworden sei (RIC, Juni 2020).

Das Danish Immigration Service (DIS) veröffentlicht im Juni 2022 einen Bericht über militärische Rekrutierung in der Provinz Hasaka. Für den Bericht führte DIS im Jänner und Februar 2022 fünfzehn Interviews mit Expert·innen und Informanten, die unter anderem über die Situation von Personen, die sich dem Selbstverteidigungsdienst entziehen, befragt wurden. Laut einem kurdisch-syrischen Journalisten und Autoren aus Qamischli, sowie Wladimir van Wilgenburg (Journalist, politischer Analyst und Autor mehrerer Bücher über Kurd·innen in Syrien) sei Kriegsdienstverweigerung für Wehrpflichtige in der AANES keine Option (DIS, Juni 2022, S. 49; DIS, Juni 2022, S. 70).

Fabrice Balanche, Associate Professor an der Universität von Lyon 2, ein/e Expert·in der International Crisis Group, der genannte syrisch-kurdische Journalist und Autor, ein syrisch-kurdischer politischer Analyst, ein/e Repräsentant·in der AANES in der Region Kurdistan Irak und ein syrisch-kurdischer Universitätsprofessor im Irak bestätigen gegenüber DIS, dass eine Person, die den Selbstverteidigungsdienst verweigere oder sich ihm entziehe („draft evader“), wenn sie aufgegriffen werde, direkt in ein Trainingslager überstellt werde, um ihren Dienst anzutreten (DIS, Juni 2022, S. 42; DIS, Juni 2022, S. 45; DIS, Juni 2022, S. 49; DIS, Juni 2022, S. 57; DIS, Juni 2022, S. 66).

Laut Fabrice Balanche und drei lokalen Bewohnern der Provinz Hasaka könnten gefasste Wehrpflichtige, die sich dem Dienst entzogen hätten, von den Behörden festgehalten werden, bis ihr Status geklärt sei (DIS, Juni 2022, S. 42) oder ein geeigneter Ausbildungsort für sie gefunden werde (DIS, Juni 2022, S. 61). Laut Fabrice Balanche könnten Wehrpflichtige aus diesem Grund für ein bis zwei Tage (DIS, Juni 2022, S. 42), laut den Bewohnern von Hasaka ein bis zwei Wochen (DIS, Juni 2022, S. 61) inhaftiert werden. Beide Quellen hätten nicht von Misshandlungen während der Haftzeit gehört (DIS, Juni 2022, S. 42; DIS, Juni 2022, S. 62).

Der/Die Repräsentant·in der AANES in der Region Kurdistan Irak habe gegenüber DIS angegeben, dass es keine Strafe für Personen gebe, die sich der Selbstverteidigungspflicht entzogen hätten (DIS, Juni 2022, S. 57). Fabrice Balanche habe erwähnt, dass Wehrdienstverweigerer weder eine Geldstrafe noch eine Gefängnisstrafe erhalten würden (DIS, Juni 2022, S. 42; siehe auch: DIS, Juni 2022, S. 49). Laut dem/r Experten/in der International Crisis Group gebe es keine Strategie zur Inhaftierung von Wehrdienstverweigerern (DIS, Juni 2022, S. 45). Der syrisch-kurdische Journalist und Autor erklärt gegenüber DIS, dass Wehrdienstverweigerer ihren Selbstverteidigungsdienst einen Monat länger als die anderen Rekruten ableisten müssten. Er habe nicht von Misshandlungen von Wehrdienstverweigerern während ihres Dienstes aufgrund ihres Entzugs vom Wehrdienst gehört (DIS, Juni 2022, S. 49-50). Auch die drei Bewohner von Hasaka hätten berichtet, dass ihrer Erfahrung nach die Wehrdienstverweigerung keinen Einfluss auf die Behandlung des eingezogenen Wehrdienstverweigerers habe (DIS, Juni 2022, S. 62). Der syrisch-kurdische politische Analyst habe erklärt, dass es Wehrdienstverweigerern, die gefasst würden, nicht gestattet sei, nach Hause zu gehen, um ihre Sachen zu holen oder sich von ihrer Familie zu verabschieden. Die Person könne um Erlaubnis bitten, während ihres Dienstes ihre Familie zu besuchen. Sollten die Behörden jedoch vermuten, dass die Person bei einer Freistellung desertieren könnte, werde die Genehmigung nicht erteilt. Nach Beendigung der Dienstzeit werde die Person entlassen und ihre ursprüngliche Weigerung habe keinen Einfluss auf die Dauer der Dienstzeit (DIS, Juni 2022, S. 53-54). Laut dem syrisch-kurdischen Journalisten würden Wehrdienstverweigerer in ein Gebiet weit von ihrem Wohnort entfernt geschickt und mit schwierigen Aufgaben betraut. Sie würden keine Geldstrafe erhalten (DIS, Juni 2022, S. 59).

Ein von ACCORD kontaktierter Syrienexperte gibt in einer E-Mail-Auskunft vom August 2023 an, dass die Konsequenzen bei Verweigerung des Dienstes in den Selbstverteidigungskräften vom Profil des Wehrpflichtigen und der Region, aus der er stamme, abhingen. Je strenger die kurdische Kontrolle, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, dass Rekruten nicht das Risiko eingehen würden, offen Einwände gegen den Selbstverteidigungsdienst zu zeigen. In Hasaka beispielsweise könnten Personen im dienstfähigen Alter verhaftet und zum Dienst gezwungen werden (Syrienexperte, 15. August 2023).

Muhsen Al-Mustafa, Forscher am Omran Center for Strategic Studies, schreibt in einer E-Mail an ACCORD vom September 2023, dass alle Wehrdienstverweigerer unter die Bestimmungen des Gesetzes zur Selbstverteidigungspflicht fallen würden und dem Gesetz entsprechend behandelt würden. Die Asayish (kurdische Sicherheitsbehörde, Anmerkung ACCORD) würde den Wohnort von zum Dienst gesuchten Personen durchsuchen, an Checkpoints Rekrutierungslisten überprüfen und die Gesuchten verhaften. Nach dem Gesetz werde jede Person, die dem Dienst fernbleibe, verhaftet und mit einer Verlängerung des Dienstes um einen Monat bestraft (Al-Mustafa, 1. September 2023).

Situation von Arabern

Ein Universitätsprofessor in Erbil habe gegenüber DIS im Jänner 2022 ausgesagt, dass er davon ausgehe, dass Araber, die sich dem Dienst in den Selbstverteidigungskräften entzogen hätten, nicht im gleichen Ausmaß zum Beitritt gezwungen würden wie Kurden (DIS, Juni 2022, S. 66).

Fabrice Balanche erklärt in einer E-Mail an ACCORD vom August 2023, dass Araber und Kurden, die keinen Selbstverteidigungsdienst leisten, vor dem Gesetz gleichbehandelt würden. Es gebe eine Verhaftung und Zwangsbeitritt in die Selbstverteidigungskräfte. Laut Balanche zeige man in der AANES jedoch mehr Flexibilität gegenüber Arabern, um einen Aufstand zu vermeiden. Arabische Stammesführer hätten lokal die Macht und würden für bestimmte junge Araber Ausnahmen und Aufschiebungen erwirken (Balanche, 9. August 2023).

Laut dem Syrienexperten seien die speziellen Konsequenzen für Araber von Region zu Region unterschiedlich. Nicht alle von den SDF kontrollierten Gebiete würden unter derselben Art von Kontrolle stehen. In den vornehmlich arabisch besiedelten Stammesregionen von Deir Ezzour hätten die SDF beispielsweise nicht die Kapazität, eine direkte Rekrutierung wie in der Provinz Hasaka durchzusetzen (Syrienexperte, 15. August 2023).

Auf die Frage, ob arabische Wehrdienstverweigerer anders behandelt werden als kurdische, antwortet Al-Mustafa im September 2023, dass die Konsequenzen des Fernbleibens für alle gleich seien, jedoch könnten arabische Wehrdienstverweigerer bei der Festnahme anders behandelt werden und Beleidigungen und Gewalt ausgesetzt sein. Es sei anzumerken, so Al-Mustafa, dass sich die meisten kurdischen jungen Männer freiwillig bei den SDF [Syrian Democratic Forces, Demokratische Kräfte Syriens] melden würden und daher von der Selbstverteidigungspflicht befreit seien (Al-Mustafa, 1. September 2023).

Wahrnehmung von Personen, die den Dienst in den Selbstverteidigungskräften verweigern (als Gegner/ Oppositionelle)

Es konnten online keine Informationen über die Wahrnehmung von Personen, die den Dienst in den Selbstverteidigungskräften verweigern, gefunden werden. Gesucht wurde auf Arabisch, Deutsch und Englisch mittels ecoi.net, Factiva und Google nach einer Kombination aus folgenden Suchbegriffen: Syrien, AANES, Rojava, Selbstverteidigungsdienst, Selbstverteidigungspflicht, Selbstverteidigungskräfte, verweigern, weglaufen, verstecken, Wahrnehmung, Probleme, Gegner, Oppositionelle, Anfeindung, Gesellschaft, Araber, Kurden, Stämme, Behörden

Fabrice Balanche schreibt in seiner E-Mail an ACCORD, dass Kurden Arabern im Allgemeinen nicht vertrauen und annehmen würden, dass sie gegen die AANES seien. Araber, die den Dienst in den Selbstverteidigungskräften verweigern würden, würden nicht als Terroristen wahrgenommen, sondern eher als Feiglinge und Gegner der AANES. Die Kurden seien pragmatisch und es sei ihnen lieber, Araber, die den Dienst verweigern, nicht in der Armee zu sehen, weil sie sich unter Umständen als Verräter entpuppen könnten (Balanche, 9. August 2023).

Laut dem von ACCORD kontaktierten Syrienexperten würden Araber, die den Dienst in den Selbstverteidigungskräften verweigern würden, als Gegner der kurdischen Hegemonie im Nordosten Syriens wahrgenommen (Syrienexperte, 15. August 2023).

Al-Mustafa erklärt in seiner E-Mail-Auskunft vom September 2023, dass arabische Wehrdienstverweigerer als Verräter der AANES angesehen werden könnten, die ihrer Pflicht nicht nachkommen würden, die von den SDF kontrollierten Gebiete zu schützen. Es könne ihnen vorgeworfen werden, Mitglieder des Islamischen Staates zu sein oder ausländische Kräfte zu unterstützen. Eine Quelle vor Ort habe Al-Mustafa berichtet, dass einige Personen während ihrer Verhaftung (weil sie der Pflicht des Selbstverteidigungsdienstes nicht nachgekommen seien) ihr Leben verloren hätten. Laut einer anderen Quelle gebe es in manchen Gebieten mit Stammeseinfluss mehr Flexibilität bei der Anwendung der Selbstverteidigungspflicht. SDF-Beamte würden jedoch bei jedem Meeting an die Notwendigkeit erinnert werden, dass alle, und insbesondere Araber, sich dem Selbstverteidigungsdienst anzuschließen hätten. Araber würden die Selbstverteidigungspflicht im Allgemeinen ablehnen und die SDF lediglich als „De-facto-Autorität“ betrachten (Al-Mustafa, 1. September 2023).

Einsatz von Rekruten im Rahmen der Selbstverteidigungspflicht an der Front

Laut RIC würden Rekruten im Rahmen der Selbstverteidigungspflicht normalerweise nicht an aktiver Front kämpfen. Sie würden in der Regel eine ideologische und militärische Ausbildung absolvieren, bevor sie an Checkpoints oder Straßensperren stationiert und logistische Unterstützung für freiwillige Streitkräfte leisten würden (RIC, Juni 2020).

Laut der syrisch-kurdischen Nachrichtenagentur North Press Agency (NPA) würden Rekruten des Selbstverteidigungsdienstes dazu eingesetzt, Militärgebäude zu bewachen und würden an Militäreinsätzen gegen den Islamischen Staat (IS) teilnehmen (NPA, 23. Februar 2022).

Die Interviewpartner·innen von DIS hätten übereinstimmend berichtet, dass die Wehrpflichtigen der Selbstverteidigungskräfte allgemein nicht an der Front eingesetzt würden (DIS, Juni 2022, S. 37; DIS, Juni 2022, S. 49; DIS, Juni 2022, S. 57; DIS, Juni 2022, S. 60; DIS, Juni 2022, S. 63; DIS, Juni 2022, S. 67; DIS, Juni 2022, S. 71) Der Universitätsprofessor habe gegenüber DIS erklärt, dass der ideologische Zweck der Selbstverteidigungspflicht darin bestehe, die Jugend auf Sicherheitsnotsituationen vorzubereiten. Die Wehrpflichtigen würden hauptsächlich für Aufgaben der inneren Sicherheit in den Städten eingesetzt (DIS, Juni 2022, S. 67). Der/die Repräsentant·in der AANES in der Region Kurdistan Irak habe angegeben, dass die Aufgabe der Selbstverteidigungspflichtigen darin bestehe, das Sicherheitsvakuum in Nordostsyrien zu füllen. In städtischen Gebieten seien sie für die Bewachung der öffentlichen Gebäude und der AANES-Institutionen verantwortlich. Wehrpflichtige könnten auch an der Front eingesetzt werden, um professionelle Kräfte, die an vorderster Front kämpfen, zum Beispiel durch Logistik und Bewachung der eroberten Gebiete etc. zu unterstützen (DIS, Juni 2022, S. 57). Laut Aram Hanna, Sprecher der SDF, würden die Selbstverteidigungspflichtigen zum Schutz von befreiten Gebieten, nicht jedoch zum Kampf in selbigen, eingesetzt (DIS, Juni 2022, S. 37-38). Laut Wladimir von Wilgenburg sei es die Hauptaufgabe von Wehrpflichtigen, Versorgungswege im Hintergrund zu schützen (DIS, Juni 2022, S. 71). Zwei lokale Bewohner hätten gegenüber DIS erklärt, dass es als Rekruten der Selbstverteidigungspflicht ihre Aufgabe gewesen sei, die Straße zwischen dem Al-Omar-Ölfeld und dem Al-Tanak-Ölfeld in der Provinz Deir Ezzour zu schützen und zu sichern. Andere hätten die drei Hauptstaudämme in Syrien, die sich in den von der AANES kontrollierten Gebieten befinden, geschützt (DIS, Juni 2022, S. 63). Drei der Interviewpartner·innen hätten gegenüber DIS angegeben, dass die Wehrpflichtigen dafür eingesetzt würden, Checkpoints zu sichern (DIS, Juni 2022, S. 43; DIS, Juni 2022, S. 46; DIS, Juni 2022, S. 71). Laut Fabrice Balanche gebe es Fälle, bei denen Rekruten an Checkpoints getötet worden seien (DIS, Juni 2022, S. 43). Laut dem/r Experten/in der International Crisis Group würden Wehrpflichtige meist in ihren eigenen Provinzen eingesetzt. Araber hätten sich darüber beschwert, dass die Provinzen, in denen sie dienen, weniger sicher seien, da es dort mehr IS-Angriffe gebe als in anderen Gebieten Nordostsyriens (DIS, Juni 2022, S. 46). Der Journalist und Autor habe angemerkt, dass es angesichts der Tatsache, dass es sich beim Selbstverteidigungsdienst um einen Militärdienst handle, möglich sei, dass Militärkommandanten entscheiden würden, Rekruten auch für Kämpfe einzusetzen (DIS, Juni 2022, S. 49-50). Auch der syrisch-kurdische Journalist habe angegeben, dass Wehrpflichtige der Selbstverteidigungspflicht in Konfliktzeiten zum Kampf eingesetzt werden könnten (DIS, Juni 2022, S. 60). Laut des politischen Analysten sowie dem/r Repräsentant·in der AANES in der Region Kurdistan sei es möglich, dass Wehrpflichtige freiwillig kämpfen würden (DIS, Juni 2022, S. 53; DIS, Juni 2022, S. 57). Die drei lokalen Bewohner hätten angegeben, dass es Situation gegeben habe, in denen die Behörden die Selbstverteidigungskräfte für Kämpfe eingesetzt hätten, wie zum Beispiel während der Operation in Raqqa im Jahr 2017 und beim Gefängnisaufstand in Hasaka im Jänner 2022 (DIS, Juni 2022, S. 63).

Fabrice Balanche merkte in seiner E-Mail-Auskunft an ACCORD an, dass es im Gebiet der AANES seit Oktober 2019 keine aktive Front mehr gebe. Wehrpflichtige würden nicht an die Front geschickt. Sie könnten jedoch durch Terroranschläge hinter der Frontlinie getötet werden. Es gebe gefährliche Gebiete, wie beispielsweise südöstlich der Provinz Deir Ezzour und Wehrpflichtige würden regelmäßig bei Patrouillen oder an Straßensperren getötet (Balanche, 9. August 2023).

Auch der kontaktierte Syrienexperte gab in seiner E-Mail an, dass ihm keine Fälle bekannt seien, in denen Rekruten an die Front geschickt würden. Die aktuelle Phase des Konflikts zeichne sich durch eingefrorene Frontlinien und einem Konflikt von geringer Intensität aus (Syrienexperte, 15. August 2023).

Laut Al-Mustafa könnten Rekruten an die Front geschickt werden. Einige von ihnen seien beim Einsatz an der Front getötet worden (Al-Mustafa, 1. September 2023).

2. Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang und die getroffenen Feststellungen ergeben sich aus dem unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des Bundesamtes sowie des Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichts, insbesondere aus der mündlichen Verhandlung und dem persönlichen Eindruck, den die erkennende Richterin dort gewinnen konnte.

Die Feststellungen zu Geburtsort und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seinem Lebenslauf, der Bildung, Berufsausübung und den Familienverhältnissen sowie seinem Gesundheitszustand gründen sich auf seine in den festgestellten Punkten im gesamten Verfahren im Wesentlichen einheitlichen, schlüssigen und chronologisch stringenten Angaben. Seine Identität steht aufgrund des vorgelegten syrischen Reisepasses und der ID-Card fest.

Aus dem vorgelegten Verwaltungsakt der belangten Behörde sowie dem vor dem Bundesverwaltungsgericht geführten Verfahren und insbesondere der mündlichen Verhandlung ergibt sich, dass der Beschwerdeführer ausreichend Zeit und Gelegenheit hatte, eventuelle Fluchtgründe umfassend und im Detail darzulegen sowie allfällige Beweismittel und geeignete Nachweise zur Untermauerung seines Vorbringens vorzulegen. Er wurde auch zur umfassenden und detaillierten Schilderung seiner Fluchtgründe und ausdrücklich zur Vorlage von Beweismitteln aufgefordert sowie über die Folgen unrichtiger Angaben belehrt. Die Richtigkeit der Protokolle und Niederschriften wurde vom Beschwerdeführer jeweils nach Rückübersetzung durch seine Unterschrift bestätigt.

Wie in der Folge dargestellt, ist das Vorbringen des Beschwerdeführers objektiv nicht geeignet, eine asylrelevante Verfolgung zu begründen.

Im Rahmen seiner Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 31.07.2022 brachte der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund lediglich vor: „Ich bin wegen dem Krieg ausgereist, weil ich Angst davor habe. Das ist mein einziger Fluchtgrund.“ Bezüglich seiner Rückkehrbefürchtung nannte er den Krieg in der Heimat.

Das Gericht verkennt bei der Würdigung der Aussagen des Beschwerdeführers in der Erstbefragung nicht, dass gemäß § 19 Abs. 1 AsylG die Erstbefragung zwar „insbesondere" der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden dient und sich nicht auf die „näheren" Fluchtgründe zu beziehen hat. Die Beweisergebnisse der Erstbefragung dürfen nicht unreflektiert übernommen werden (vgl. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0061). Ein vollständiges Beweisverwertungsverbot normiert § 19 Abs. 1 AsylG jedoch nicht. Im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen können Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten in den Angaben in der Erstbefragung zu späteren Angaben - unter Abklärung und in der Begründung vorzunehmender Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind – einbezogen werden (VwGH 26.03.2019, Ra 2018/19/0607 bis 0608-12, VwGH 28.6.2018, Ra 2018/19/0271, mwN). Es ist davon auszugehen, dass jemand, der tatsächlich nach einer Desertion erneut einem Rekrutierungsversuch durch kurdische Einheiten ausgesetzt gewesen ist und gerade deswegen binnen kurzer Zeit die Heimat verlassen hat, dies auch bei der Erstbefragung so angibt und nicht lediglich allgemein auf die Angst vor dem Krieg verweist.

Aufgefordert, seine Gründe für die Ausreise und Asylantragstellung detailliert, von sich aus, vollständig und wahrheitsgemäß zu schildern, antwortete der Beschwerdeführer vor der Behörde zunächst lediglich vage: „wegen dem Militär“. Seine Angaben anlässlich der Erstbefragung vorgehalten erwiderte er: „ich bestätigte, dass ich das gesagt habe, weil ich dachte, es ist nicht von Vorteil, wenn ich erwähne, dass ich ein Militärangehöriger bin“, was aber auch nicht für seine Glaubwürdigkeit spricht. Weitere Fluchtgründe verneinte er dann ausdrücklich.

Zu seiner angeblichen Wehrdienstleistung und Desertion sowie versuchten neuerlichen Rekrutierung erklärte der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt zunächst, 2016 habe er begonnen, für die Kurden im Heimatdorf Dienst zu leisten, nach einem Monat sei er im November 2016 illegal in der Libanon gegangen, im August 2021 legal nach Syrien in das Heimatdorf zurückgekehrt und nach einem Monat hätten die Kurden versucht, ihn zu rekrutieren und es habe eine Hausdurchsuchung stattgefunden. Im September 2021 sei er illegal in die Türkei ausgereist. Als diese Hausdurchsuchung durchgeführt worden sei, sei er bei seiner Arbeit – beim Fischen - gewesen. In weiterer Folge gab er an, diese Hausdruchsuchung hätte am 15.08.2021 stattgefunden, was jedoch nicht mit dem zuvor angeführten Zeitablauf im Einklang steht und auch der vorgelegten Einreisebestätigung widerspricht, deren Aushändigung er an ebendiesem Datum in XXXX unterzeichnet haben soll. Zudem waren die Angaben zu dieser angeblichen Hausdurchsuchung auch auf wiederholtes Nachfragen hin sehr oberflächlich: Nach seiner Rückkehr vom Fischen habe ihn seine Familie über die Hausdurchsuchung informiert, die Kurden seien zu ihm gekommen und hätten das Haus durchgesucht, um ihn zu finden. Sie hätten seiner Familie gesagt, seine Freunde hätten ihnen mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer aus dem Libanon zurückgekehrt sei. Nachgefragt, ob sonst noch etwas dabei passiert sei, verneinte er dies ausdrücklich.

Vor der erkennenden Richterin erklärte er hierzu auch nur vage, er sei im August 2021 ins Heimatdorf zurückgekehrt, am Anfang habe es keine Probleme gegeben. Er und sein Bruder seien Fischen gegangen, in der Früh zurück nach Hause gekehrt und die Familie habe gemeint, dass die Kurden in der Nacht gekommen seien und nach dem Beschwerdeführer gefragt hätten. Am nächsten Tag sei er in die Türkei gereist. Erst seine Angaben vor der Behörde bezüglich einer Hausdurchsuchung vorgehalten, gab er – wieder nur oberflächlich - an: „Sie haben nach mir gesucht und das Haus durchsucht.“

Somit ist schon wegen der gesteigerten und vor allem äußerst oberflächlichen und nicht lebensnahen Angaben der Rekrutierungsversuch bzw. die Hausdurchsuchung durch die Kurden im Jahr 2021 nicht glaubhaft.

Dies gilt auch für die angebliche Wehrdienstleistung für die Kurden bzw. die Desertion im Jahr 2016 zumal sich der Beschwerdeführer hier zusätzlich noch in grobe Widersprüche verwickelte.

Hatte der Beschwerdeführer vor der Behörde zunächst angegeben, 2016 habe er begonnen, für die Kurden im Heimatdorf Dienst zu leisten, nach einem Monat sei er im November 2016 illegal in der Libanon gegangen, wonach er den Dienst im Oktober begonnen haben muss, erklärte er später, er habe einen Monat und zwar im Juli 2016 den Kurden gedient, dann sei er ausgereist. Seine vorherigen Angaben vorgehalten, versuchte er diesen Widerspruch damit auszuräumen, er hätte sich versprochen und hätte den Dienst bei den Kurden im Oktober begonnen und sei im November 2016 in den Libanon ausgereist. Hatte er bei der Behörde noch durchgehend von einem Monat Dienst gesprochen, erklärte er in der Verhandlung, es seien ungefähr zwei Monate gewesen.

Im Rahmen der Verhandlung behauptete der Beschwerdeführer dann gesteigert, vage und ohne dies weiter auszuführen, die Kurden hätten ihn mit Zwang mitgenommen. Aufgefordert, zu beschreiben, wie das vor sich gegangen sein soll, erklärte er wieder lediglich oberflächlich und ohne Details zu nennen, im Plural: „Sie kamen ins Dorf, nachdem der IS das Dorf verlassen hat. Sie haben uns versammeln lassen und junge Männer zwei drei vier mitgenommen.“ Sie meinten, dass „wir“ unser Vaterland verteidigen sollen „und ich weiß nicht was“, und dass „wir“ den IS aus Syrien vertreiben sollen. Nachgefragt, was gewesen wäre, wenn er sich geweigert hätte, den Kurden zu folgen, antwortete der Beschwerdeführer ausweichend: „Dort werden die Gesetze nicht eingehalten, dort ist es nicht wie hier. Man wird mit Zwang mitgenommen.“ Nachdem der IS das Dorf verlassen habe, wäre eine Autobombe im Dorf detoniert. „Wir“ seien aus dem Dorf geflüchtet. Die Kurden hätten „uns“ versammeln lassen und gemeint, dass „wir“ das Vaterland verteidigen sollen und „uns“ mitgenommen. Nochmals gefragt, wie dieser Zwang denn ausgesehen hätte, brachte der Beschwerdeführer nur in der dritten Person bzw. wieder nur im Plural vor: „Sie sagen einem, dass man mitkommen soll, wenn man nein sagt wird man in deren Auto hineingestoßen. Wir hatten Angst vor dem Krieg, wir hatten Angst vor ihnen, weil sie die nächste Gruppierung ist, die nach dem IS zu uns gekommen ist. Sie sind sogar schlechter als der IS.“ Nochmals gefragt, wie das bei ihm genau gewesen wäre, blieb er weiterhin sehr allgemein: „Am Anfang haben sie uns nicht gesagt, dass wir verpflichtet sind ihnen zu dienen. Sie haben uns gesagt, dass wir mit ihnen mitgehen sollen. Wir wussten nicht, dass es sich dabei um Rekrutierung handelt. Wir haben eine 15 tägige Ausbildung absolviert, wir wurden auf Waffen ausgebildet. Danach wurden wir in das Dorf XXXX zurückgebracht. Dort hatten die Kurden eine Polizeidienststelle errichtet.“ Abgesehen davon, dass ersteres auch nicht plausibel ist, widerspricht die angebliche Ausbildung seinem Vorbringen vor der Behörde. Nachgefragt, was er während des Militärdienstes gemacht habe, hatte der Beschwerdeführer dort nur angegeben: „es gab ein Haus, dass die Kurden als Rekrutierungsstelle nutzten, ich bin dort gesessen und habe nicht gemacht.“ Dieses Haus sei in seinem Heimatdorf gewesen und manche der Leute aus dem Haus seien in den Krieg geschickt worden, wobei er nicht einmal andeutete, er selbst wäre davon betroffen gewesen. Dass er eine Ausbildung absolviert hätte, hatte er vor dem Bundesamt auch nicht ansatzweise erwähnt.

Nachgefragt, wie lange er den Militärdienst bei den Kurden absolviert habe, gab er vor der erkennenden Richterin ausweichend an, als „wir“ dorthin gebracht worden seien, seien nicht einmal unsere Namen eingetragen worden - was für sich genommen schon nicht nachvollziehbar ist. „Uns“ seien Waffen übergeben worden und Uniformen. Seine Angaben vor der Behörde vorgehalten, behauptete er im groben Widerspruch zum rückübersetzten und von ihm unterzeichneten Protokoll: „Nein. Ich habe ihm gesagt, dass sie mich in den Krieg geschickt haben. Ich war XXXX Jahre alt. Ich habe meine Freunde tot gesehen, ich habe Angst bekommen. Daher haben sie mich nach hinten geschickt. Das stimmt, ich habe auch gesagt, dass sie uns in dieses Haus gebracht haben.“ Vorgehalten, dort habe er gesagt, dass er in diesem Haus Angst gehabt hätte, in den Krieg geschickt zu werden, erwiderte er: „Nein. Ich habe ihm gesagt, dass sie uns mitgenommen haben“, was er eben nicht getan hat. Dann gab er wieder gesteigert an, nach der 15-tägigen Ausbildung hätten sie ihn nach Manbij geschickt. Dort habe es Krieg gegeben und er viele tote Menschen gesehen. Er habe zwar eine Waffe getragen, aber nicht an Kämpfen teilgenommen. Der Beschwerdeführer habe Angst bekommen und ihnen gesagt, dass er zurückkehren wolle. Daher hätten sie ihn ins Heimatdorf gebracht. Wann dies gewesen sei, sei ihm nicht erinnerlich. Nachgefragt, warum der Beschwerdeführer vor der Behörde mit keinem Wort den Aufenthalt in Manbij erwähnt habe, versuchte er dies damit zu erklären: „Er hat mich nicht gefragt, wo ich hingegangen bin und woher ich gekommen bin.“ Vorgehalten, er habe dort auch nur angegeben, im Haus gesessen zu sein und nichts getan zu haben, erwiderte er lediglich: „Er hat mich gefragt, wo ich gedient habe. Ich habe gesagt im Dorf. Er hat mir die Frage nicht gestellt, wo ich hingeschickt wurde.“ Erneut vorgehalten, beim Bundesamt habe er angegeben, einen Monat in diesem Haus der Kurden gewesen zu sein, gab er nur ausweichend an, er wisse nicht genau, wie lange, einen Monat oder eineinhalb Monate.

Nicht plausibel ist auch, dass der Beschwerdeführer, wie vor der erkennenden Richterin behauptet, in Manbij und im Heimatdorf seine Waffe getragen hat. Nachgefragt, ob er damit spazieren gegangen wäre, erwiderte er: „Ja, sicher. Auch als wir frei hatten durften wir die Waffen mitnehmen.“

Nachgefragt, warum er desertiert sei, brachte der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt vor, er hätte nicht gewusst, dass es sich bei der Militärdienstleitung um einen Krieg handelt, was schon für sich nicht nachvollziehbar ist, auch wenn er damals ungefähr XXXX oder XXXX Jahre alt gewesen sein soll. Er habe Angst bekommen und sei geflohen.

Vor der erkennenden Richterin gab der Beschwerdeführer an: „Wir hatten Angst, wir wollten nicht kämpfen oder mit den Waffen schießen. Als wir mitgenommen wurden haben wir nicht erwartet, dass wir am Straßenkampf teilnehmen müssen. Wir haben ihnen gesagt, dass wir nicht kämpfen wollen. Sie meinten, dass wir keine Angst haben sollen. Sie haben uns ins Dorf zurückgeschickt. Wir wollten nicht kämpfen, ich wollte nicht sterben und niemanden töten.“ Abgesehen davon, dass nicht plausibel ist, dass eine Truppe, die Leute angeblich zwangsrekrutiert, diese Rekruten dann einfach wieder in ihr Heimatdorf zurückschickt, weil sie Angst haben, ist auch das weitere Vorbringen nicht glaubhaft: „Wir wurden ins Dorf gebracht, wir durften drei Tage lang zu Hause bleiben. Danach kamen sie wieder und haben uns von unserem Haus abgeholt.“ Wohin sie gebracht wurden oder wie das abgelaufen sein soll, schilderte er nicht.

Konkret zu seiner Desertion erklärte er vor dem Bundesamt, er habe Urlaub gemacht, seine Mutter habe ihn nach Damaskus gebracht, nach 10 Tagen in Damaskus sei er in den Libanon gereist. Sein Dienst sei schichtweise gewesen, drei Tage im Dienst und drei Tage zuhause, er sei in den freien Tagen desertiert. In der Verhandlung gab er hierzu an: „Ich wurde von Manbij ins Dorf gebracht. Ich habe ein paar Tage in der Polizeidienststelle verbracht, dann habe ich mir freigenommen und bin geflüchtet.“ Sein Vorbringen zum Schichtdienst vor der Behörde vorgehalten, behauptete er: „Auch, wenn ich freie Tage hatte, musste ich es ihm sagen und ihn informieren, dass ich nach Hause gehen will.“

Dass sein Vorbringen in der Verhandlung sehr stark vom Vorbringen beim Bundesamt abweicht, versuchte der Beschwerdeführer lediglich damit auszuräumen, es wären ihm dort nicht die gleichen Fragen gestellt worden, was aber die groben Steigerungen und Widersprüche auch nicht beseitigt.

Zu dem vorgelegten verschwommenen Foto, das ihn in Militäruniform zeigen soll, wurde vom Bundesamt angemerkt, dass er das Bild am 23.11.2022 zum letzen Mal bearbeitet hat, es dem Beschwerdeführer vom Bruder per Whats App geschickt und dieser Chatverlauf gelöscht wurde. Somit ist auch dieses Foto nicht geeignet, die Geschichte glaubhaft zu machen.

Schließlich legen auch die aktuellen Erwägungen des Hochkommissars der Vereinten Nationen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, dar, dass Männer, die eine Ableistung des Diensts bei den Selbstverteidigungseinheiten ablehnen dann wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, wenn die Ablehnung als Ausdruck einer SDF/YPG-feindlichen Gesinnung und/oder einer Unterstützung von ISIS oder SNA wahrgenommen wird, in jedem Fall aber nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund der tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder ihrer religiösen oder ethnischen Identität. Dass dem Beschwerdeführer eine SDF/YPG-feindliche Gesinnung oder eine Unterstützung des Islamischen Staates oder der Syrischen Nationalen Armee unterstellt werden würde, machte der Beschwerdeführer weder glaubhaft, noch trat es im Übrigen hervor. Der Beschwerdeführer vermochte somit insgesamt nicht glaubhaft zu machen, dass ihm im Zusammenhang mit der behaupteten Desertion, (zwangsweisen) Rekrutierung und der so genannten Selbstverteidigungspflicht Verfolgung(shandlungen) drohen würden, die in einem inhaltlichen Zusammenhang mit den Verfolgungsgründen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention stehen könnten.

Aber auch die Gefahr einer Rekrutierung zum Dienst bei der syrischen Armee bzw. eine Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung konnte der Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen.

Vor der Behörde brachte er vor, für die Regierung keinen Dienst geleistet zu haben.

Bezüglich der vorgelegten Einreiseerlaubnis, laut der der Beschwerdeführer sich binnen 15 Tagen bei der Rekrutierungsstelle melden soll, ist anzumerken, dass diese nicht auf Echtheit überprüfbar, in Word leicht herstellbar und zudem notorisch ist, dass in Syrien Dokumente aller Art gegen Bestechungsgelder leicht erworben werden können. Zudem ist sie in XXXX an dem Tag von ihm übernommen bzw. unterzeichnet worden, an dem er angeblich bereits einen Monat zuhause und beim Fischen war und die Kurden die Hausdurchsuchung bei ihm durchgeführt hätten.

Im Rahmen der Verhandlung verneinte der Beschwerdeführer die Frage, ob er jemals Kontakt zum syrischen Regime gehabt habe: „Nein. Als ich vom Libanon nach Syrien zurückgekehrt bin, hat mich einer aufgefordert ihm Geld zu zahlen. Ich habe das abgelehnt, er hat meinen Kopf mit den Füßen getreten.“ Vorgehalten, er habe ein Formular für einen syrischen aus dem Ausland kommenden Wehrdienstverweigerer vom syrischen Verteidigungsministerium erhalten und damit Kontakt zum syrischen Verteidigungsministerium gehabt, erwiderte er ausweichend: „Ja, damals hat er mir gesagt, dass ich ihm Geld für Mittagessen geben soll. Ich habe ihm 5000 syrische Lira gegeben, also ungefähr 10 Dollar. Er wollte 15 000 syrische Lira. Ich habe ihm gesagt, dass ich diesen Betrag nicht zahlen kann. Er meinte, dass er mir nicht erlauben würde, weiterzufahren. Es hat ihm gestört, dass ich keine Angst vor ihm hatte. Daher hat er mich mit den Füßen getreten. Die Soldaten dort behandeln die Leute genauso wie Schafe.“ Nachgefragt, von wem er das Formular erhalten hätte, antwortete er, an der Grenze: „Man zahlt 100 Dollar und darf nach Syrien reisen. Nach 15 Tagen soll man sich bei ihnen melden. Als ich den Libanon verlassen habe, wusste ich, dass ich nach 15 Tagen flüchten werde“. Am ersten Checkpoint müsse man 100 Dollar zahlen. Dieser Mann, der ihn getreten habe, habe an einem anderen Checkpoint gearbeitet. Somit konnte er weder einheitlich schildern, wo und von wem er dieses Dokument erhalten hat und blieb auch bezüglich des angeblichen Vorfalls äußerst vage.

Aber auch sonst ist vor dem Hintergrund der Länderberichte eine Verfolgung durch das Regime nicht glaubhaft.

Als Heimatregion (Herkunftsprovinz) des Beschwerdeführers – und damit die Grundlage für die Prüfung möglicher Verfolgungshandlungen – in seinem Herkunftsstaat ist das Gebiet um den Ort XXXX bei Manbij zu sehen, das sich nach Syria live map und den festgestellten Länderinformationen unter kurdischer Kontrolle befindet, was auch vom Beschwerdeführer durchgehend bestätigt wurde. Obwohl in der Region an bestimmten Stellen auch das Regime präsent ist, ist es dem Beschwerdeführer durchaus möglich, die durchaus bekannten Regimeenklaven und Stützpunkte zu meiden bzw. zu umgehen.

Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. "Sicherheitsquadraten" auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im "Sicherheitsquadrat" im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Rechtsexperte 14.9.2022). Dies wird auch von SNHR bestätigt, die ebenfalls angeben, dass die Rekrutierung durch die syrischen Streitkräfte an deren Zugriffsmöglichkeiten gebunden ist (ACCORD 7.9.2023). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o.ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts darf i.d.Z. nicht übersehen werden, dass die Begründetheit der Furcht vor Verfolgungshandlungen i.S.d. §§ 3 Abs. 1 und § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 (bzw. Art. 2 lit. d i.V.m. Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie), nicht etwa parzellenscharf, wie beispielsweise einen – in einem nach Länderinformationen beispielsweise „Sicherheitsquadrat“ gelegenen – konkreten Straßenzug oder ein einzelnes Dorf betreffend, sondern bezogen auf ein Gebiet oder eine Region von geographischer Signifikanz in Relation zum gesamten Staatsgebiet zu prüfen ist (vgl. dazu auch EUAA Richterliche Analyse, S. 142). Mit anderen Worten: Nur, wenn die – aus individuellen und allgemeinen Tatsachen prognostisch abzuleitende – Wahrscheinlichkeit bezogen auf ein derartiges Gebiet bzw. eine derartige Region als solches den Grad der Maßgeblichkeit erreicht, wird (dort) Verfolgung (bzw. Verfolgungshandlungen) als Grundlage für eine weitere Prüfung hinsichtlich einer möglichen Asylrelevanz anzunehmen sein (zur Relevanz der Gebietskontrolle vgl. auch etwa VwGH 06.09.2018, Ra 2017/18/0055, Rn. 10 [„auf die zu beurteilenden Gebiete“]). Die Wahrscheinlichkeitsbetrachtung bzw. Prognose zu einer aktuellen Gefahr einer Verfolgungshandlung wird also auf einen bestimmten Aufenthalt und Bewegungen im zu betrachtenden Gebiet als solches – und nicht etwa konkret bezogen auf ein abgegrenztes Sicherheitsquadrat oder einen eingerichteten einzelnen Militärstützpunkt – vorzunehmen sein.

In der Folge wäre aber fallbezogen auch die - zumindest hinreichend wahrscheinliche - Setzung von Sanktionen durch den syrischen Staat wegen der angeblichen Entziehung vom Wehrdienst bzw. Reflexverfolgung wegen seines älteren angeblich desertierten Bruders bei einer angenommener Wiederansiedlung nicht zu prognostizieren.

Bezüglich der hypothetischen Einreise nach Syrien ist darauf hinzuweisen, dass laut UN OCHA der Grenzübergang Semalka/Fesh Kabour seit Juni 2023 wieder vollständig geöffnet ist (Humanitarian Update Syrian Arab Republic - Issue 13 | June 2023 [EN/AR] - Syrian Arab Republic | ReliefWeb). Aus den festgestellten Länderinformationen und dem dort abgebildeten Kartenmaterial ergibt sich, dass die gesamte Region vom Grenzübergang Semalka selbst an bis zum Heimatort des Beschwerdeführers unter Kontrolle der SDF steht, sodass ihm eine Einreise und Weiterreise bis dorthin ohne Kontakt zum syrischen Regime möglich ist (USDOS 20.3.2023). Ihm ist es möglich, über den irakisch-syrischen Grenzübergang zwischen der Stadt Faysh Khabur im Irak und dem Ort Semalka im Distrikt Malikiya in Syrien, der auf irakischer Seite von der Demokratischen Partei Kurdistan (KDP) verwaltet und auf syrischer Seite von der SDF kontrolliert wird, nach Syrien einzureisen ohne vom syrischen Regime angehalten und kontrolliert zu werden. Den herangezogenen Länderberichten ist zu entnehmen, dass es Personen, die – wie der Beschwerdeführer – aus Gebieten unter Kontrolle der SDF/YPG stammen, gestattet ist, von außerhalb in die Region Nordostsyrien über den durch die SDF kontrollierten Grenzübergang einzureisen.

Das Gebiet zwischen dem Grenzübergang und dem Herkunftsort des Beschwerdeführers steht laut den vorliegenden Länderberichten und aktuellen Landkarten des Konfliktes in Syrien unter kurdischer Kontrolle, sodass es dem Beschwerdeführer möglich ist, vom Grenzübergang in seinen Herkunftsort zu reisen, ohne Gebiete durchqueren zu müssen, die sich im Einflussbereich des syrischen Regimes befinden. Vereinzelte Sicherheitsquadrate des syrischen Regimes sind bekannt und lassen sich umgehen, sodass kein maßgebliches Risiko für den Beschwerdeführer besteht, bei der Rückkehr in den Herkunftsort mit Vertretern des syrischen Regimes – etwa an Checkpoints – in Kontakt zu kommen. Der Beschwerdeführer könnte sich somit bis zum Erreichen seines Herkunftsortes innerhalb eines nicht von der Regierung kontrollierten Gebietes bewegen.

Hierbei wird auch nicht verkannt, dass es immer wieder zu Einschränkungen und Sperren bei Grenzübergängen kommen kann, wovon jedoch selbst der Flughafen Damaskus regelmäßig betroffen ist. Allfällige Einschränkungen und Sperren bei Grenzübergängen sowie Risikofaktoren auf den Reiserouten sind im Wesentlichen der allgemeinen (Bürgerkriegs-) Situation geschuldet. Dem Beschwerdeführer wäre es nach rechtskräftig negativem Abschluss des Verfahrens unter hypothetischer Annahme einer Einreise in den Irak auch grundsätzlich möglich, bei syrischen Vertretungsbehörden einen Reisepass und damit ein irakisches Visum zu erhalten bzw. bei Unzumutbarkeit sich als subsidiär Schutzberechtigter einen Fremdenpass nach § 88 FPG ausstellen zu lassen.

Zudem ergibt sich aus den Länderinformationen gerade kein Automatismus, dass jedem im Ausland lebenden Syrer im wehrpflichtigen Alter im Herkunftsstaat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden kann und deswegen eine unverhältnismäßige Bestrafung drohen würde. Danach wird Wehrdienstverweigerung nämlich, auch wenn Wehrdienstverweigerer zuweilen „inoffiziell als Verräter gesehen werden“, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt ihr Land zu verteidigen, nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. (vgl. Ra 2023/20/0520-6, vom 08.11.2023). Somit ist auch aus diesem Grund eine Verfolgung nicht hinreichend wahrscheinlich.

Ebenso wenig genügt eine Asylantragstellung in Österreich für die Asylzuerkennung, weil die Antragstellung den syrischen Behörden nicht bekannt ist, zumal es den österreichischen Behörden untersagt ist, diesbezüglich Daten an die syrischen Behörden weiterzuleiten. Aus den Länderinformationen geht zwar hervor, dass es nach wie vor willkürliche Verhaftungen und andere Repressionen gegenüber Rückkehrern gibt und verschiedene Quellen immer wieder von derartigen Einzelfällen berichten. Allerdings lässt sich den Länderberichten nicht entnehmen, dass Rückkehrer per se als politisch oppositionell angesehen würden oder der weitaus überwiegende Teil aller Rückkehrer systematischen Repressionen ausgesetzt wäre. Ebensowenig gilt dies generell für Personen, die aus oppositionellem Gebiet stammen. Der Beschwerdeführer zählt auch nicht zur Gruppe jener Personen, die eine besonders exponierte Stellung einnehmen, wie beispielsweise MenschenrechtsaktivistInnen, JournalistInnen oder Angehörige von Oppositionsparteien. Den Länderinformationen lässt sich auch nicht entnehmen, dass Rückkehrer in Gebieten, die unter Kontrolle der kurdischen Einheiten stehen, von diesen verübten systematischen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wären. Ein Eingriff in die psychische und/oder körperliche Unversehrtheit des Beschwerdeführers allein aufgrund seiner Ausreise und der Asylantragstellung im Ausland ist daher nicht hinreichend wahrscheinlich.

Lediglich oberflächlich gab der Beschwerdeführer vor der erkennenden Richterin an, das Regime sei verbrecherisch, er wolle ihm nicht dienen. Die Soldaten würden das Volk schlagen, plündern und demütigen. Bashar Al Assad habe in Manbij wahllose Luftangriffe ausgeübt und dabei mehr Zivilisten als Kämpfer der FSA getötet. Eine tatsächliche verinnerlichte oppositionelle Gesinnung gegen das Regime geht aus diesen allgemein gehaltenen Aussagen nicht hervor.

Gegen Ende der Verhandlung stellte der Beschwerdeführer zu seiner Rückkehrbefürchtung gefragt nur oberflächlich in den Raum, entweder die Kurden oder „die Türken“ oder das Regime würden ihn rekrutieren. Die Kurden kämpften gegen das Regime in Deir ez-Zor, aber sie kooperierten mit ihm in seiner Region. Die Kurden kämpften gegen die Türken, die Türken hätten Militärflugzeuge. Er wolle nicht gegen die Türkei kämpfen. Inwoefern ihm eine Rekrutierung durch „die Türken“ drohen sollte, konkretisierte er dabei nicht ansatzweise und ist dieses – grob gesteigert - behauptete Szenario auch vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen nicht hinreichend wahrscheinlich.

Erstmals gegen Ende der Verhandlung stellte der Beschwerdeführer nachgefragt, ob es irgendwelche Probleme mit irgendwelchen Gruppierungen gegeben hätte, vage und gesteigert in den Raum: „Im Dorf leben Kurden und Araber. Mein Cousin vs. hat einen Mann auf den Kopf mit einem Stock geschlagen. Die Familie dieses Mannes kam zu uns, stritt sich mit meiner Familie und will, dass meine Familie das Dorf verlässt. Es kam zu Racheakten, Sie wissen wie die arabischen Stämme sich verhalten.“ Konkreter wurde er dabei auch hier nicht und leben seine Eltern und einige Geschwister nach wie vor im Herkunftsort. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt noch ausdrücklich gröbere Probleme mit Privatpersonen (Blutfehden, Racheakte etc.) verneint und auch auf Nachfrage, ob seine Familie aktuell Probleme in Syrien habe, lediglich geantwortet hat, sie sei eine Fischerfamilie.

Festzuhalten ist auch, dass der Beschwerdeführer vor der Behörde ausdrücklich bestätigt hatte, in seinem Heimatland sei er weder politisch tätig oder Mitglied einer politischen Partei gewesen, noch habe er im Heimatland an bewaffneten oder gewalttätigen Auseinandersetzungen aktiv teilnommen. Er verneinte zudem irgendwelche Probleme wegen seines Religionsbekenntnisses bzw. seiner Volksgruppenzugehörigkeit und habe nie Probleme mit den Behörden gehabt.

Die Länderfeststellungen gründen auf den jeweils angeführten Länderberichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen. Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, sodass sie den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat zugrunde gelegt werden konnten. Die Feststellungen wurden dem Beschwerdeführer im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht unter Einräumung einer Stellungnahmemöglichkeit vorgehalten und es wurde ihnen nicht substantiiert entgegengetreten.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

In vorliegendem Fall ist in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen und obliegt somit in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 59 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft. Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 3 Bundesgesetz über die Einrichtung und Organisation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA-Einrichtungsgesetz - BFA-G) BGBl. I Nr. 87/2012 idgF obliegt dem Bundesamt die Vollziehung des BFA-VG (Z 1), die Vollziehung des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl.I Nr. 100 (Z 2), die Vollziehung des 7., 8. und 11. Hauptstückes des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr.100 (Z 3) und die Vollziehung des Grundversorgungsgesetzes - Bund 2005, BGBl.I Nr.100 (Z 4).

Zu A)

Spruchpunkt I.

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), droht.

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des VwGH die "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 21.09.2000, Zl. 2000/20/0286).

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (VwGH 24.11.1999, Zl. 99/01/0280). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 23.09.1998, Zl. 98/01/0224; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 06.10.1999, Zl. 99/01/0279 mwN; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131;

25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).

Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH 05.11.1992, Zl. 92/01/0792; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, Zl. 94/18/0263; 01.02.1995, Zl. 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht - diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann -, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256).

Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 22.10.2002, Zl. 2000/01/0322).

Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH 08.10.1980, VwSlg. 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog. "inländische Fluchtalternative" vor. Der Begriff "inländische Fluchtalternative" trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (VwGH 08.09.1999, Zl. 98/01/0503 und Zl. 98/01/0648).

Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße - möglicherweise vorübergehende - Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände iSd. Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH 21.01.1999, Zl. 98/20/0399; 03.05.2000, Zl. 99/01/0359).

Der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung kann asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen – wie etwa der Anwendung von Folter – jede Verhältnismäßigkeit fehlt (siehe VwGH 27.04.2011, 2008/23/0124; 23.01.2019, Ra 2019/19/0009; siehe auch VwGH 19.06.2019, Ra 2018/18/0548 sowie VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0274). Unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine „bloße“ Gefängnisstrafe eine asylrelevante Verfolgung darstellen (siehe dazu VwGH 25.03.2003, 2001/01/0009; VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0274, m.w.N.; EuGH 26.02.2015, C-472/13, Shepherd).

Der VwGH hat zur maßgeblichen Berichtslage festgehalten, dass sich aus den Länderberichten ein differenziertes Bild der Haltung des syrischen Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern ergibt und aus dieser Berichtslage nicht mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden kann, dass jedem den Militärdienst verweigernden Syrer eine oppositionelle Haltung unterstellt werde (vgl. VwGH 21.12.2023, Ra 2023/18/0077). Der VwGH hat ferner bereits ausgeführt, nach dieser Berichtslage lasse sich gerade kein Automatismus dahingehend als gegeben annehmen, dass jedem im Ausland lebenden Syrer, der seinen Wehrdienst nicht abgeleistet hat, im Herkunftsstaat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt und deswegen eine unverhältnismäßige Bestrafung drohen würde (vgl. VwGH 8.11.2023, Ra 2023/20/0520; in diesem Sinn auch VwGH 21.12.2023, Ra 2023/20/0173). Nichts anderes gilt für die Frage, ob ein den Militärdienst ableistender syrischer Staatsangehöriger sich dazu gezwungen sähe, zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen beizutragen. (VwGH 10.04.2024, Ra 2024/19/0134)

Wie beweiswürdigend ausgeführt, konnte der Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen, dass er bei einer Rückkehr in seine Herkunftsregion von einer Einberufung zum Wehrdienst beim syrischen Militär bedroht ist. Eine Einziehung zum Wehrdienst bei der syrischen Armee im Falle der Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsregion ist nicht glaubhaft, weil diese von kurdischen Kräften kontrolliert wird und das syrische Regime daher – wie beweiswürdigend näher ausgeführt - keinen Zugriff dort hat (vgl. VwGH 06.09.2018, Ra 2017/18/0055).

Den getroffenen Länderfeststellungen ist auch nicht zu entnehmen, dass jedem Rückkehrer, der im Ausland einen Asylantrag gestellt hat, eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird (vgl. dazu VwGH 11.11.2020, Ra 2020/18/0147, Rn. 15). Ebensowenig, dass dies für jede Person gilt, die aus oppositionellem Gebiet stammt.

Eine Gefährdung allein aufgrund der Asylantragstellung in Österreich ist auch deshalb nicht zu befürchten, weil den Behörden des Heimatstaates davon nichts bekannt ist. Wie in den Länderinformationen, im Speziellen im EASO-Bericht Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, näher ausgeführt (siehe insb. S. 18 f.; siehe auch ausführlich EUAA, Country Guidance: Syria 2023, S. 51 ff), hatte im Übrigen eine illegale Ausreise aus Syrien nur früher eine Haftstrafe und/oder eine Geldbuße zur Folge. Im Jahr 2019 wurden derartige Strafen aufgehoben. Eine illegale Ausreise zieht zwar ein förmliches Verfahren vor der Rückkehr nach Syrien nach sich. Allein daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung droht. Dem Bericht des Danish Immigration Services ist ebenso zu entnehmen, dass die Tatsache, einen Asylantrag gestellt zu haben, alleine nicht zu Misshandlungen führe. Vielmehr sei dem syrischen Regime bewusst, dass Syrer auch deshalb im Ausland um Asyl ansuchen, weil dies die einzige Möglichkeit ist, im Ausland einen legalen Status zu erreichen (vgl. DIS, Syria. Treatment upon return, S. 8).

Zwar ist laut Judikatur des VwGH auch eine Verfolgung beim Grenzübertritt asylrelevant (VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108), jedoch wäre es dem Beschwerdeführer im Falle einer hypothetischen Rückkehr möglich, ohne Kontakt zum syrischen Regime über den Grenzübergang Semalka einzureisen und in seine Herkunftsregion weiterzureisen (vgl. VwGH 26.09.2023, Ra 2023/18/0328-8, Rz 11,14). Ergänzend ist dazu auszuführen, dass es aus asylrechtlicher Sicht nicht darauf ankommen kann, ob die Einreise in einen verfolgungssicheren Landesteil aus der Sicht des potentiellen Verfolgers (hier: des syrischen Regimes) legal stattfindet, sondern nur, ob die den Grenzübergang beherrschenden Autoritäten eine Einreise in das sichere Gebiet zulassen. (VwGH 29.02.2024, Ra 2024/18/0043-8)

Soweit der Beschwerdeführer darüber behauptete, er habe Angst vor einer Zwangsrekrutierung durch die kurdischen Kräfte, ist auf die Rechtsprechung des VwGH zu verweisen, wonach von der - nicht asylrelevanten - Zwangsrekrutierung durch eine Bürgerkriegspartei jene Verfolgung zu unterscheiden ist, die an die tatsächliche oder nur unterstellte politische Gesinnung anknüpft, die in der Weigerung, sich den Rekrutierenden anzuschließen, gesehen wird. Auf das Auswahlkriterium für die Zwangsrekrutierung selbst kommt es in einem solchen Fall nicht an. Entscheidend ist daher, mit welchen Reaktionen durch die Milizen der Betroffene auf Grund seiner Weigerung, sich dem Willen der Rekrutierenden zu beugen, rechnen müsste und ob in seinem Verhalten eine - sei es auch nur unterstellte - politische oder religiöse oppositionelle Gesinnung erblickt wird (vgl. VwGH 19.04.2016, Ra 2015/01/0079, Rn. 15, mwN; VfGH 25.02.2019, E 4032/2018, Pkt. 3.3. betreffend Zwangsrekrutierung durch die Taliban in Afghanistan).

Unabhängig davon, dass die Bestimmung des Art. 9 Abs. 2 lit. e der Statusrichtlinie den staatlichen Wehrdienst vor Augen hat, können die in den Rn. 59 und 60 genannten Anhaltspunkte aus Sicht des erkennenden Gerichts – zumindest im Grundsatz – auch für die Beurteilung eines möglichen Zusammenhangs einer Zwangsrekrutierungsmaßnahme mit dem Asylgrund einer (wenn auch nur unterstellten) politischen Überzeugung herangezogen werden. Wesentlich ist nach der dargestellten Rechtsprechung, dass die Beurteilung anhand des allgemeinen Kontexts einer solchen Maßnahme im Herkunftsland, wobei dieser insbesondere aus dem zur Lage im Herkunftsland festzustellenden Tatsachensubstrat zu gewinnen sein wird, vorgenommen wird.

Dabei betont auch der UNHCR zur Thematik der Verknüpfung mit einem Asylgrund allgemein, dass auch die Weigerung, sich von nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen rekrutieren zu lassen, Ausdruck einer politischen Überzeugung sein kann (vgl. UNHCR, Richtlinien Nr. 10 zum internationalen Flüchtlingsschutz, Rn. 53). Die EUAA weist darauf hin, dass, neben anderen Gründen, die, im Einzelfall zu betrachtenden, Konsequenzen einer Dienstverweigerung, einen Nexus zu einem Asylgrund i.S.d. Art. 10 Statusrichtlinie herstellen können (vgl. EUAA Länderleitfaden, Abschnitt 2.6.).

Wie aus den Länderfeststellungen hervorgeht, dürften die Autonomiebehörden eine Verweigerung nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen und konnte dies auch nicht in der Stellungnahme vom 31.07.2024 entkräftet werden (vgl. auch VwGH 19.12.2023, Ra 2023/19/0073, Rz 10). Zudem erfolgen die Einsätze der Rekruten im Rahmen der "Selbstverteidigungspflicht" normalerweise in Bereichen wie Nachschub oder Objektschutz, sodass auch deswegen nicht von einer asylrelevanten Bedrohung auszugehen wäre.

Eine konkret und gezielt gegen den Beschwerdeführer gerichtete aktuelle Verfolgung von maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der GFK genannten Gründe hätte, liegt damit weder aufgrund des Vorbringens des Beschwerdeführers vor, noch ist sonst eine individuelle Bedrohung oder Verfolgung des Beschwerdeführers im Verfahren hervorgekommen.

Im gegenständlichen Fall sind somit die dargestellten Voraussetzungen, nämlich eine "begründete Furcht vor Verfolgung" im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK, nicht gegeben. Auch die Durchsicht der aktuellen Länderberichte erlaubt es nicht anzunehmen, dass gegenständlich sonstige mögliche Gründe für die Befürchtung einer entsprechenden Verfolgungsgefahr vorliegen. Die allgemeine Lage in Syrien ist nicht dergestalt, dass bereits jedem, der sich dort aufhält, der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werden müsste.

Das sonstige Vorbringen– insbesondere die allgemein schlechte Lage in Syrien aufgrund des Krieges und das damit verbundene Risiko willkürlicher Gewalt – betrifft nicht speziell den Beschwerdeführer, sondern die gesamte syrische Bevölkerung in gleicher Weise, und ist daher nicht asylrelevant.

Spruchpunkt II. - Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten

Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1), oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 offen steht.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 25.04.2022, Ra 2021/20/0448).

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung auch festgehalten, dass, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrscht, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vorliegen, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (vgl. VwGH 03.05.2021, Ra 2020/01/0485, mwN).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes obliegt es - abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde - grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Fall der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (vgl. VwGH 05.04.2022, Ra 2022/14/0001, mwN).

Unter realer Gefahr in diesem Sinne ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr ("a sufficiently real risk") möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (VwGH vom 19.02.2004, 99/20/0573).

Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können (VwGH vom 31.10.2019, Ra 2019/20/0309).

Der VwGH setzt sich mit seiner Entscheidung vom 25.06.2024, Ra 2024/18/0151-13, mit einer Rückkehr nach Syrien auseinanderund zeichnet durch die besonders ausführliche Exegese der zum jetzigen Zeitpunkt diesbezüglich noch aktuellen Länderberichte im Wesentlichen ein der Rückkehr von syrischen Asylwerbern im Lichte des Art. 3 EMRK entgegenstehendes Bild (in Bezug auf das ganze Land).

Die Rückverbringung des Beschwerdeführers nach Syrien steht daher nach dem Gesagten in Widerspruch zu § 8 Abs. 1 AsylG 2005. Dem Beschwerdeführer war daher nach den genannten Bestimmungen der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Syrien zuzuerkennen.

Spruchpunkt III.

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 ist einem Fremden, dem der Status des subsidiären Schutzberechtigten zuerkannt wird, vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt für ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.

Im gegenständlichen Fall hat daher das Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig mit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten dem Beschwerdeführer auch eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr zu erteilen.

Spruchpunkt IV.

Wegen der Erteilung subsidiären Schutzes waren die übrigen Spruchpunkte (III. bis VI.) des bekämpften Bescheides ersatzlos zu beheben.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Wie der oben dargelegten rechtlichen Beurteilung zu entnehmen ist, warf die Tatsachenlastigkeit des gegenständlichen Falles keine Auslegungsprobleme der anzuwendenden Normen auf, schon gar nicht waren - vor dem Hintergrund der bereits bestehenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes - Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu lösen. Die Revision war daher nicht zuzulassen.

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