Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. März 2021, W171 2239977 1/7E, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: L T, derzeit unbekannten Aufenthalts), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Der Mitbeteiligte, ein 1987 geborener georgischer Staatsangehöriger, reiste seinen Angaben zufolge im November 2020 in das Bundesgebiet ein. Er wurde am 19. Februar 2021 bei im Auftrag eines österreichischen Unternehmens durchgeführten Montagearbeiten betreten, wofür (unstrittig) keine arbeitsmarktrechtliche Bewilligung vorlag. Anschließend wurde der Mitbeteiligte, der keine Wohnsitzmeldung im Bundesgebiet aufwies und über keine familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte in Österreich verfügt, festgenommen, und es wurde sein Reisepass sichergestellt.
2 Mit Mandatsbescheid des Bundeamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 19. Februar 2021 wurde gegen den Mitbeteiligten nach dessen Einvernahme gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme angeordnet und sogleich in Vollzug gesetzt.
3 Mit Bescheid vom 23. Februar 2021 sprach das BFA dann aus, dass dem Mitbeteiligten ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (von Amts wegen) nicht erteilt werde, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und wegen dessen Mittellosigkeit ein dreijähriges Einreiseverbot. Ferner stellte es die Zulässigkeit der Abschiebung des Mitbeteiligten nach Georgien fest. Eine Frist für die freiwillige Ausreise wurde nicht gewährt und die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung aberkannt.
4 Einer gegen den Schubhaftbescheid vom 19. Februar 2021 und die darauf gegründete Anhaltung mit Schriftsatz vom 26. Februar 2021 erhobenen Beschwerde gab das BVwG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 3. März 2021 gemäß § 22a Abs. 1 Z 3 BFA VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG Folge, hob den angefochtenen Bescheid auf und erklärte die Anhaltung des Mitbeteiligten seit 19. Februar 2021 für rechtswidrig (Spruchpunkt A.I.). Unter einem stellte es gemäß § 22a Abs. 3 BFA VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG fest, dass zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorlägen (Spruchpunkt A.II.) und wies das Kostenersatzbegehren des BFA ab (Spruchpunkt A.III.). Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG schließlich aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
6 Die über den Mitbeteiligten gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme verhängte Schubhaft wurde vom BFA mit Mandatsbescheid vom 19. Februar 2021 auf die Verwirklichung der Fluchtgefahrtatbestände des § 76 Abs. 3 Z 1 und 9 FPG gestützt.
7 Den der Beschwerde Folge gebenden Spruchpunkt A.I. begründete das BVwG damit, dass es anders als das BFA bezogen auf den Zeitpunkt der Schubhaftverhängung nur den Tatbestand des § 76 Abs. 3 Z 9 FPG als „teilweise erfüllt“ ansah. Es seien nämlich keine Anhaltspunkte dafür hervorgekommen, dass der Mitbeteiligte vor Erlassung des Schubhaftbescheides (oder danach) im Sinne der Z 1 des § 76 Abs. 3 FPG an einem Verfahren nicht mitgewirkt oder seine Abschiebung behindert hätte. Er habe vielmehr bei seiner Einvernahme am 19. Februar 2021 mit der Behörde kooperiert, sei ausreisewillig und habe seiner Abschiebung zugestimmt. Es sei zwar richtig, dass der Mitbeteiligte bisher im Inland nicht gemeldet gewesen sei, er habe sich dadurch jedoch keinem behördlichen Verfahren, das damals noch nicht eingeleitet gewesen sei, entzogen. Er sei zwar bei der Verrichtung von Schwarzarbeit aufgegriffen worden und habe im Sinne der Z 9 des § 76 Abs. 3 FPG „naturgemäß“ im Inland weder einen gesicherten Wohnsitz noch sei er sozial bzw. familiär verankert. Dies wiege jedoch im Hinblick auf seine Kooperationsbereitschaft und seine gerichtliche Unbescholtenheit „verhältnismäßig weniger schwer“. Zudem sei der Mitbeteiligte in der Lage, aufgrund der vorhandenen und erlangbaren finanziellen Mittel seinen Aufenthalt bis zu der unmittelbar bevorstehenden (bereits für 7. März 2021 organisierten) Abschiebung zu finanzieren. Als weiteren „wesentlichen Grund“, nicht von hinreichender Fluchtgefahr auszugehen, führte das BVwG schließlich die Sicherstellung des Reisepasses des Mitbeteiligten durch das BFA ins Treffen. Deshalb sei es „wenig wahrscheinlich“, dass der Mitbeteiligte, der „zu Erwerbszwecken“ nach Österreich gekommen sei, ohne seinen Reisepass „unbemerkt wieder nach Georgien zurückreisen“ werde.
8 In Bezug auf den gemäß § 22a Abs. 3 BFA VG getroffenen (negativen) Fortsetzungsausspruch (Spruchpunkt A.II.) verwies das BVwG im Wesentlichen auf die Ausführungen zur Stattgebung der Schubhaftbeschwerde. Es berücksichtigte ergänzend, dass angesichts der mittlerweile ergangenen durchsetzbaren Rückkehrentscheidung zwar auch der Tatbestand der Z 3 des § 76 Abs. 3 FPG erfüllt sei, ging aber wegen der weiterhin bloß teilweisen Erfüllung der Z 9 des § 76 Abs. 3 FPG auch im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht vom Vorliegen einer (nur) durch Schubhaft zu sichernden Fluchtgefahr in Form des „Untertauchens“ aus.
9 Diesen Überlegungen tritt das BFA in der Amtsrevision unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG mit näherer Begründung entgegen. Das BVwG hätte so macht das BFA zusammengefasst vor allem geltend nicht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung von der (beweiswürdigenden) Einschätzung des BFA zur Frage des Vorliegens einer die Schubhaft rechtfertigenden Fluchtgefahr abweichen dürfen.
10 Damit erweist sich die Revision wie die nachstehenden Ausführungen zeigen entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und auch als berechtigt.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar schon wiederholt auch bei Amtsrevisionen des BFA darauf hingewiesen, dass die Frage, ob konkret von einem Sicherungsbedarf bzw. von Fluchtgefahr auszugehen ist, der nur durch Schubhaft und nicht auch durch gelindere Mittel begegnet werden könne, stets eine solche des Einzelfalles ist, die daher nicht generell zu klären und als einzelfallbezogene Beurteilung grundsätzlich nicht revisibel ist, wenn diese Beurteilung auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage in vertretbarer Weise vorgenommen wurde (vgl. etwa VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0188, Rn. 15, mwN, und darauf Bezug nehmend zuletzt VwGH 21.3.2024, Ra 2022/21/0010, Rn. 23). Das ist allerdings hier nicht der Fall.
12 Eine bestimmte Tatsache, welche die Annahme rechtfertigen kann, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung durch Flucht entziehen könnte, stellt gemäß der ersten Alternative des § 76 Abs. 3 Z 3 FPG der Umstand dar, dass eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme besteht. Das bringt zwar nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes per se noch nicht in tauglicher Weise „Fluchtgefahr“ zum Ausdruck. Der Existenz einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kommt jedoch im Rahmen der gebotenen einzelfallbezogenen Bewertung der Größe der auf Grund der Verwirklichung eines anderen tauglichen Tatbestandes des § 76 Abs. 3 FPG grundsätzlich anzunehmenden Fluchtgefahr Bedeutung zu. In diesem Sinn war es auch schon davor Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass sich bei typisierender Betrachtung mit Fortschreiten des Verfahrens (auf internationalen Schutz) aus der Sicht des Fremden die Wahrscheinlichkeit verdichten kann, letztlich abgeschoben zu werden, sodass sich dadurch die Fluchtgefahr erhöht (siehe grundlegend VwGH 11.5.2016, Ro 2016/21/0021, Rn. 30).
13 Das gilt im Besonderen auch für den vorliegenden Fall, in dem auch nach den Annahmen des BVwG einerseits schon infolge des Fehlens eines gesicherten Wohnsitzes und legaler Erwerbsmöglichkeiten der („taugliche“) Fluchtgefahrtatbestand der Z 9 des § 76 Abs. 3 FPG verwirklicht war und andererseits aufgrund der schon vier Tage nach der Schubhaftverhängung erlassenen durchsetzbaren Rückkehrentscheidung die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Georgien unmittelbar bevorstand. Schon deshalb hätte das BVwG fallbezogen im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses für den Fortsetzungsausspruch davon ausgehen müssen, dass Fluchtgefahr vorliegt, also dass der nach seinen Angaben über „keinen fixen Schlafplatz“ verfügende Mitbeteiligte im Fall seiner Enthaftung für die Effektuierung der Abschiebung nicht erreichbar sein werde. Daran ändert nichts, dass sich der Mitbeteiligte nach seiner Festnahme mit einer Abschiebung in den Herkunftsstaat einverstanden erklärt hatte, weil sich die Situation nach einer allfälligen Enthaftung des Mitbeteiligten davon grundlegend unterscheidet, würde doch dann voraussichtlich wieder der für die Einreise und den Aufenthalt in Österreich allein maßgebliche Grund, hier unentdeckt einer illegalen Erwerbstätigkeit nachzugehen, im Vordergrund stehen. Daran hätte ihn insoweit greift die diesbezügliche Folgerung des BVwG zu kurz auch die Sicherstellung seines Reisepasses nicht gehindert.
14 Dazu kommt die vom BFA im Schubhaftbescheid zu Recht berücksichtigte Tatsache, dass sich der Mitbeteiligte seit seiner Einreise in das Bundesgebiet über mehrere Monate unrechtmäßig und im Verborgenen aufgehalten und die melderechtlich gebotene Registrierung an seinem Aufenthaltsort offenbar unterlassen hatte, um sein fremdenrechtlich und arbeitsmarktrechtlich verpöntes Ziel erreichen zu können. Damit wurde zwar der Tatbestand der Z 1 des § 76 Abs. 3 FPG seinem Wortlaut nach, der auf die (mangelnde) Mitwirkung am Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme bzw. auf die Umgehung oder Behinderung der Rückkehr oder Abschiebung abstellt, nicht verwirklicht. So handelt es sich aber doch bei einem mehrmonatigen unangemeldeten Aufenthalt im Verborgenen, der einem behördlichen Einschreiten in einem geordneten Verfahren im vorliegenden Fall angesichts der Absicht zur (unentdeckten) Ausübung einer unerlaubten Beschäftigung evident entgegenwirken sollte, um ein annähernd gleichwertiges, ebenfalls das Vorliegen von Fluchtgefahr indizierendes Verhalten, das jedenfalls die Erfüllung des Fluchtgefahrtatbestandes des § 76 Abs. 3 Z 9 FPG von dessen Verwirklichung das BVwG ohnehin ausging verstärkt. Aus diesem Verhalten wäre fallbezogen somit insgesamt zu folgern gewesen, dass sich der Mitbeteiligte der Abschiebung auch künftig durch Flucht bzw. durch unbekannten Aufenthalt entziehen werde.
15 Angesichts dessen hätte nicht nur das BVwG bei seinem Fortsetzungsausspruch am 3. März 2021 unter zusätzlicher Einbeziehung der Z 3 des § 76 Abs. 3 FPG vom Vorliegen von die Aufrechterhaltung der Schubhaft (bis zur bereits gebuchten Abschiebung am 7. März 2021) rechtfertigender Fluchtgefahr ausgehen müssen, sondern von dieser Annahme durfte auch schon das BFA im Zeitpunkt der Erlassung des Schubhaftbescheides ausgehen, wobei es überdies für eine diesbezüglich abweichende Beurteilung durch das BVwG auch der Durchführung einer mündlichen Verhandlung samt Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vom Mitbeteiligten zur Prüfung der im Gegensatz zum BFA unterstellten Kooperationsbereitschaft bedurft hätte (vgl. VwGH 19.7.2021, Ra 2021/21/0033, Rn. 15).
16 Das macht auch die Amtsrevision im Ergebnis zutreffend geltend, weshalb das angefochtene Erkenntnis zur Gänze (vorrangig) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war.
Wien, am 23. Mai 2024
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