JudikaturVwGH

Ra 2021/20/0487 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
11. November 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Stüger, über die Revisionen von 1. A P, 2. S H, 3. H P und 4. M P, alle in 1210 Wien, alle vertreten durch Dr. Thomas Boller, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Kärntner Straße 10, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16. November 2021, 1. W166 2189196 1/24E, 2. W166 2189197 1/20E, 3. W166 2189198 1/19E und 4. W166 21891991/22E, jeweils betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet und die Eltern des Dritt und des Viertrevisionswerbers. Sie alle sind Staatsangehörige von Afghanistan und Angehörige der Volksgruppe der Hazara. Der Erstrevisionswerber reiste bereits im Jahr 2016 gemeinsam mit dem Viertrevisionswerber ins Bundesgebiet ein. Sie stellten am 10. Juli 2016 Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 mit der Begründung, der Erstrevisionswerber habe den Iran verlassen müssen, weil ihm eine Zwangsrekrutierung durch iranische Behörden für den Krieg in Syrien oder eine Abschiebung nach Afghanistan gedroht habe. Am 13. Juni 2017 reisten die Zweitrevisionswerberin und der Drittrevisionswerber auf dem Luftweg von Griechenland kommend in Österreich ein und stellten ebenfalls Anträge auf internationalen Schutz. Die Zweitrevisionswerberin brachte vor, als Hazara aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit besonders gefährdet zu sein.

2 Mit Bescheiden je vom 20. Februar 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge ab, erteilte den Revisionswerbern keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie jeweils eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde jeweils mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3 Die Revisionswerber erhoben dagegen Beschwerden, in der die Zweitrevisionswerberin erstmals vorbrachte, sie sei „westlich orientiert“ und habe eine innere Überzeugung angenommen, die den Grundwerten der afghanischen Gesellschaft widerspreche.

Die gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung mit den angefochtenen Erkenntnissen als unbegründet ab. Es erkannte den Revisionswerbern allerdings jeweils den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Unter einem sprach es aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 Die Entscheidungen hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten begründete das Bundesverwaltungsgericht, soweit für die vorliegenden Revisionsverfahren von Relevanz, damit, dass im Verfahren keine Umstände hervorgekommen seien, wonach die Zweitrevisionswerberin in Österreich bereits in einem solche Maß eine westliche Lebensweise führe, dass dies einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstelle. Sie habe eine „westliche Orientierung“, der eine selbstbestimmte und selbstverantwortliche Lebensweise immanent sei, weder identitätsprägend verinnerlicht noch in ihrer alltäglichen Lebensführung verankert.

5 Gegen die Nichtgewährung von Asyl wenden sich die vorliegenden außerordentlichen Revisionen, die (auch) die Abweichung von näher genannter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der Voraussetzungen für die Asylgewährung an Frauen aus Afghanistan rügen.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revisionenin einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 15. Dezember 2022 die gegenständlichen (zulässigen) Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) in den dort zu den Zlen. C 608/22 und C 609/22 anhängigen Rechtssachen ausgesetzt.

8 Mit Urteil vom 4. Oktober 2024, C 608/22 und C 609/22, hat der EuGH die ihm zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt beantwortet:

„1. Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass unter den Begriff ‚Verfolgungshandlung‘ eine Kumulierung von Frauen diskriminierenden Maßnahmen fällt, die von einem ‚Akteur, von dem Verfolgung ausgeht‘, im Sinne von Art. 6 dieser Richtlinie getroffen oder geduldet werden und insbesondere im Fehlen jedes rechtlichen Schutzes vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie Zwangsverheiratungen, der Verpflichtung, ihren Körper vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen, der Beschränkung des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen sowie der Bewegungsfreiheit, dem Verbot oder der Beschränkung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, der Verwehrung des Zugangs zu Bildung, dem Verbot, Sport auszuüben, und der Verwehrung der Teilhabe am politischen Leben bestehen, da diese Maßnahmen durch ihre kumulative Wirkung die durch Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistete Wahrung der Menschenwürde beeinträchtigen.

2. Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 ist dahin auszulegen, dass er die zuständige nationale Behörde nicht verpflichtet, bei der Feststellung, ob angesichts der im Herkunftsland einer Frau zum Zeitpunkt der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz vorherrschenden Bedingungen diskriminierende Maßnahmen, denen sie in diesem Land ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie darstellen, im Rahmen der individuellen Prüfung dieses Antrags im Sinne von Art. 2 Buchst. h dieser Richtlinie andere Aspekte ihrer persönlichen Umstände als ihr Geschlecht oder ihre Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen.“

9Nach Erlassung dieses Urteils hat sich der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 23. Oktober 2024, Ra 2021/20/0425, und im Erkenntnis vom 23. Oktober 2024, Ra 2022/20/0028, ausführlich mit einem Vorbringen befasst, wie es auch hier erstattet wurde.

10Es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieser Erkenntnisse verwiesen.

11 Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass der Verwaltungsgerichtshof dort festgehalten hat, dass entsprechend der Ausführungen des EuGH im zitierten Urteil vom 4. Oktober 2024, im Fall einer Situation, wie sie im oben wiedergegebenen Spruchpunkt 1. des Urteilstenors geschildert wird, bereits deshalb von Verfolgungshandlungen gegen afghanische Frauen auszugehen ist, weil diese Maßnahmen aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu führen, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden, und diese Maßnahmen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation zeugen, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird.

12 Es ist nicht erforderlich zu prüfen, ob die Asylwerberin eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ aufweist, weil es angesichts dessen, dass im Herkunftsstaat eine Situation gegeben ist, die in ihrer Gesamtheit Frauen zwingt, dort ein Leben führen zu müssen, das mit der Menschenwürde unvereinbar ist, darauf nicht ankommt. Es ist vielmehr zur Bejahung einer Verfolgungshandlung im Einzelfall grundsätzlich bereits ausreichend, dass es eine Frau ablehnt, in einer Gesellschaft leben und sich Einschränkungen beugen zu müssen, in der die die Staatsgewalt ausübenden Akteure solche sanktionsbewehrten Regelungen aufstellen und Maßnahmen ergreifen (wie die im oben wiedergegebenen Spruchpunkt 1. des genannten Urteils des EuGH geschilderten), die in ihrer Gesamtheit die Menschenwürde durch die Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird, massiv beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht darauf an, ob eine Asylwerberin diesen Regelungen im Fall eines Aufenthaltes im Herkunftsstaat tatsächlich zuwiderhandeln oder sie sich angesichts der ihr im Fall des Zuwiderhandelns drohenden Konsequenzen diesen Regelungen fügen würde.

13 Es ist mithin grundsätzlich für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausreichend, im Rahmen der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin, die es ablehnt, sich einer solchen wie der hier in Rede stehenden Situation auszusetzen, und die daher um die Gewährung von Flüchtlingsschutz ansucht, festzustellen, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland, in dem solche Verhältnisse herrschen, tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, wenn die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage, die ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht betreffen, erwiesen sind.

14 Jedoch ist, wenngleich es im Regelfall weitergehender Feststellungen nicht bedürfen wird, diese Prüfung im Einzelfall in den Worten des EuGH „mit Wachsamkeit und Vorsicht“ vorzunehmen.

15 Ergibt sich anhand der sich sonst darbietenden Umstände des Einzelfalles, dass Gründe zur Annahme vorhanden sind, dass fallbezogen ein Bedürfnis nach Flüchtlingsschutz nicht besteht und die Antragstellung lediglich aus anderen (asylfremden) Motiven erfolgt ist, wird es bei der Prüfung, ob der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen ist, nicht sein Bewenden haben können, sich bloß auf die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat sowie der Staatsangehörigkeit und des Geschlechts der Asylwerberin zu beschränken.

16 In Verkennung dieser Rechtslage ist das Bundesverwaltungsgericht im gegenständlichen Fall davon ausgegangen, es sei für die Versagung der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten an die Erstrevisionswerberin hinreichend, ihr entgegenzuhalten, dass sie nicht habe darlegen können, einen „westlichen Lebensstil“ angenommen zu haben.

17Somit sind aus den in den oben erwähnten Erkenntnissen vom 23. Oktober 2024 genannten Gründen auch hier die angefochtenen Entscheidungen mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet. Die mit der Behebung der Entscheidung der Erstrevisionswerberin nach § 42 Abs. 3 VwGG einhergehenden Rechtswirkungen (infolge der dadurch bewirkten ex tuncWirkung) führen dazu, dass dieser Umstand im Hinblick auf § 34 AsylG 2005 auf die übrigen Familienmitglieder durchschlägt und zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen führt.

18Somit waren sämtliche der Anfechtung unterzogenen Erkenntnisse wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

19Die Zuerkennung von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 11. November 2024