Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick und die Hofrätin Mag. Hainz Sator und den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision der Bezirkshauptmannschaft Kufstein gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom 19. November 2021, Zl. LVwG 2020/31/1788 7, betreffend Entziehung der Lenkberechtigung (mitbeteiligte Partei: H K in L, vertreten durch Föger Pall Rechtsanwälte in 6300 Wörgl, Josef Speckbacher Straße 8), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird soweit es die Entziehung der Lenkberechtigung und die Anordnungen gemäß § 24 Abs. 3 FSG betrifft wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Mit Mandatsbescheid vom 3. März 2020 entzog die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht und nunmehrige Revisionswerberin dem Mitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 1 Z 2, § 7 Abs. 3 Z 3, § 24 Abs. 1 Z 1 und § 26 Abs. 2a Führerscheingesetz (FSG) die Lenkberechtigung für alle Klassen für die Dauer von sechs Monaten, gerechnet ab Zustellung des Bescheides, welche am 9. März 2020 erfolgte, und ordnete eine Nachschulung sowie die Beibringung eines amtsärztlichen Gutachtens über die gesundheitliche Eignung an. Unter einem entzog die belangte Behörde dem Mitbeteiligten gemäß §§ 13 und 15 der Betriebsordnung für den nichtlinienmäßigen Personenverkehr den Taxiausweis und den Schülertransportausweis.
2 Begründend führte die belangte Behörde aus, aus einer im Akt der belangten Behörde einliegenden Anzeige der Landesverkehrsabteilung Tirol ergebe sich, dass der Mitbeteiligte an einem näher bestimmten Zeitpunkt auf der Autobahn A12 ein bestimmtes Kraftfahrzeug gelenkt und dabei den zeitlichen Sicherheitsabstand beim Hintereinanderfahren von 0,2 Sekunden unterschritten habe. Der Mitbeteiligte habe dadurch die „Verwaltungsübertretung“ des § 7 Abs. 3 Z 3 FSG verwirklicht und gelte daher als nicht mehr verkehrszuverlässig. Im Fall der erstmaligen Begehung einer solchen Übertretung habe die Entziehungsdauer gemäß § 26 Abs. 2a FSG mindestens sechs Monate zu betragen.
3 Mit Bescheid vom 16. Juli 2020 gab die belangte Behörde der dagegen erhobenen Vorstellung keine Folge, sprach aus, dass der Taxiausweis und der Schülertransportausweis für die Dauer von fünf Jahren entzogen würden, und schloss die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde aus.
4 Begründend führte die belangte Behörde hinsichtlich der Entziehung der Lenkberechtigung aus, der Mitbeteiligte sei mit dem zugleich erlassenen Straferkenntnis vom selben Tag u.a. wegen Übertretung des § 18 Abs. 1 iVm. § 99 Abs. 2 lit. c StVO 1960 bestraft worden. Die Kraftfahrbehörde gelange „zum selben Ergebnis“ wie die Strafbehörde. Wesentlich sei somit, dass der Sicherheitsabstand beim Hintereinanderfahren eine Zeitdauer von 0,2 Sekunden unterschritten habe und dies mit einem technischen Messgerät festgestellt worden sei.
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Landesverwaltungsgericht Tirol der dagegen vom Mitbeteiligten erhobenen Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung Folge und hob den bekämpften Bescheid auf. Das Verwaltungsgericht sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
6 Nach Darstellung des Verfahrensgangs führte das Verwaltungsgericht begründend aus, die Führerscheinbehörden seien „an rechtskräftige Entscheidungen der Strafbehörden“ gebunden (Hinweis auf VwGH 24.9.2015, Ra 2015/02/0132). Auf Grund dieser Bindungswirkung sei davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte die ihm zur Last gelegte Verwaltungsübertretung „nicht begangen“ habe, da mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichts vom 4. November 2021 seiner Beschwerde gegen die ihm zur Last gelegte Verwaltungsübertretung Folge gegeben, das Straferkenntnis behoben und das Strafverfahren eingestellt worden sei. Dies sei damit begründet worden, im Ermittlungsverfahren hätte sich ergeben, dass der vorgeworfene Tatort des zur Last gelegten Delikts mehr als 300 Meter vom tatsächlich Tatort entfernt sei. Eine entsprechende Präzisierung der Tatvorwürfe sei dem Verwaltungsgericht verwehrt gewesen, zumal die Berichtigung von Tatbestandsmerkmalen durch das Verwaltungsgericht voraussetze, dass innerhalb der Verfolgungsverjährungsfrist des § 31 Abs. 3 VStG eine entsprechende Verfolgungshandlung hinsichtlich der wesentlichen Tatbestandsmerkmale (hier: richtiger Tatortkilometer) erfolge, was hier nicht der Fall gewesen sei.
7 „Gründend auf der Aufhebung dieses Tatvorwurfes“ sei daher davon auszugehen gewesen, dass der Mitbeteiligte keine bestimmte Tatsache iSd. § 7 Abs. 3 Z 3 FSG gesetzt habe, weswegen die Rechtsgrundlage der Entziehung der Lenkberechtigung (nachträglich) weggefallen sei.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision der belangten Behörde. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.
9 Insoweit die Revision sich gegen die Aufhebung der Entziehung des Taxiausweises und des Schülertransportausweises richtet, ist sie hg. zu Ra 2022/03/0203 protokolliert.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat über die Revision, insoweit sie sich gegen die Aufhebung der Entziehung der Lenkberechtigung richtet, erwogen:
10 Die hier maßgeblichen Bestimmungen des Führerscheingesetzes FSG, BGBl. I Nr. 120/1997, in der Fassung BGBl. I Nr. 154/2021, lauten (auszugsweise):
„Verkehrszuverlässigkeit
(1) Als verkehrszuverlässig gilt eine Person, wenn nicht auf Grund erwiesener bestimmter Tatsachen (Abs. 3) und ihrer Wertung (Abs. 4) angenommen werden muss, dass sie wegen ihrer Sinnesart beim Lenken von Kraftfahrzeugen
1. die Verkehrssicherheit insbesondere durch rücksichtsloses Verhalten im Straßenverkehr oder durch Trunkenheit oder einen durch Suchtmittel oder durch Medikamente beeinträchtigten Zustand gefährden wird, oder
...
(3) Als bestimmte Tatsache im Sinn des Abs. 1 hat insbesondere zu gelten, wenn jemand:
...
3. als Lenker eines Kraftfahrzeuges durch Übertretung von Verkehrsvorschriften ein Verhalten setzt, das an sich geeignet ist, besonders gefährliche Verhältnisse herbeizuführen, oder mit besonderer Rücksichtslosigkeit gegen die für das Lenken eines Kraftfahrzeuges maßgebenden Verkehrsvorschriften verstoßen hat; als Verhalten, das geeignet ist, besonders gefährliche Verhältnisse herbeizuführen, gelten insbesondere
...
b. das Nichteinhalten des zeitlichen Sicherheitsabstandes beim Hintereinanderfahren, sofern der zeitliche Sicherheitsabstand eine Zeitdauer von 0,2 Sekunden unterschritten hat und diese Übertretungen mit technischen Messgeräten festgestellt wurden,
...
Allgemeines
(1) Besitzern einer Lenkberechtigung, bei denen die Voraussetzungen für die Erteilung der Lenkberechtigung (§ 3 Abs. 1 Z 2 bis 4) nicht mehr gegeben sind, ist von der Behörde entsprechend den Erfordernissen der Verkehrssicherheit
1. die Lenkberechtigung zu entziehen oder
...
Sonderfälle der Entziehung
...
(2a) Im Falle der erstmaligen Begehung einer in § 7 Abs. 3 Z 3 genannten Übertretung hat die Entziehungsdauer mindestens sechs Monate zu betragen, sofern nicht gemäß Abs. 2 eine längere Entziehungsdauer auszusprechen ist. Eine nach Ablauf von vier Jahren seit der letzten Übertretung begangene derartige Übertretung gilt als erstmalig begangen.
...“
11 Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend vorbringt, das Verwaltungsgericht sei von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, nach welcher keine Bindung an eine Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens aus formalen Gründen, wie sie auch im vorliegenden Fall vorliege, gegeben sei.
12 Die Revision ist auch begründet:
13 Für die Verwirklichung des Entziehungstatbestandes des § 26 Abs. 2a FSG ist anders als etwa in den in § 26 Abs. 4 FSG genannten Fällen eine Bestrafung nicht erforderlich. Liegt eine solche jedoch vor, sind die Führerscheinbehörden daran gebunden (vgl. VwGH 31.8.2015, Ro 2015/11/0012 [Slg. Nr. 19.178A]; 2.11.2021, Ra 2021/11/0146; jeweils mwN).
14 Liegt hingegen im Zeitpunkt der Entscheidung der mit der Entziehung der Lenkberechtigung befassten Behörde (noch) keine sie bindende, rechtskräftige, über die Begehung der als Grundlage der Entziehung angenommenen, eine bestimmte Tatsache darstellenden Übertretung absprechende Strafentscheidung vor, hat sie die Frage, ob das in Rede stehende Delikt begangen wurde, als Vorfrage nach § 38 AVG selbständig zu prüfen und rechtlich zu beurteilen. Nichts anderes gilt für das im Beschwerdeweg angerufene und deshalb zur Sachentscheidung berufene Verwaltungsgericht (vgl. VwGH 26.7.2018, Ra 2018/11/0085, mwN).
15 Dabei besteht auch keine Bindung an eine Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens aus formalen Gründen (vgl. VwGH 18.11.1997, 97/11/0173, zu einer Einstellung wegen Verfolgungsverjährung; 23.4.2002, 2000/11/0025, zu einer Einstellung wegen Strafbarkeitsverjährung; 27.9.2007, 2006/11/0027, zu einer Einstellung wegen Außerkrafttretens des Straferkenntnisses gemäß § 51 Abs. 7 VStG; vgl. auch VwGH 26.4.2013, 2013/11/0015).
16 Im Revisionsfall wurde der Mitbeteiligte mit Straferkenntnis der Revisionswerberin vom 16. Juli 2020 ua. einer Übertretung des § 18 Abs. 1 StVO 1960 schuldig erkannt, wobei mittels Videomessung ein zeitlicher Abstand von unter 0,2 Sekunden, nämlich 0,164 festgestellt worden sei. Mit aktenkundigem Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom 4. November 2021 wurde der dagegen vom Mitbeteiligten erhobenen Beschwerde Folge gegeben, das Straferkenntnis aufgehoben und das Verwaltungsstrafverfahren eingestellt. Das Verwaltungsgericht stellte zu dem hier einschlägigen Tatvorwurf fest, der Mitbeteiligte habe zu dem im Straferkenntnis genannten Zeitpunkt auf der Autobahn A12 auf der Überholspur fahrend zu einem vor ihm fahrenden Fahrzeug nicht einen solchen Abstand gehalten, dass ein rechtzeitiges Anhalten möglich gewesen wäre, wenn das vordere Fahrzeug plötzlich abbremsen würde, was mittels Videomessung festgestellt worden sei. Der Tatort liege jedoch um mehr als 300 Meter von dem dem Mitbeteiligten vorgeworfenen Tatort entfernt. Eine entsprechende Präzisierung des Tatvorwurfes sei dem Landesverwaltungsgericht allerdings infolge eingetretener Verfolgungsverjährung iSd. § 31 Abs. 3 VStG verwehrt.
17 Das Verwaltungsgericht hob die Entziehung der Lenkberechtigung deshalb auf, weil es erkennbar von einer Bindung an dieses im Verwaltungsstrafverfahren ergangene Erkenntnis dahin ausging, dass der Mitbeteiligte die ihm angelastete Verwaltungsübertretung nicht begangen hätte.
18 Ein solcher Inhalt kann dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichts vom 4. November 2021 aber nicht zugemessen werden. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht das Strafverfahren über die dem Mitbeteiligten angelastete Übertretung des § 18 Abs. 1 StVO 1960 wegen Eintritts der Verfolgungsverjährung, somit gemäß § 45 Abs. 1 Z 3 VStG und demnach aus bloß formalen Gründen (im Sinn der dargestellten Judikatur) eingestellt.
19 Davon ausgehend bestand aber keine Bindung im Führerscheinverfahren dahin, dass der Mitbeteiligte die in § 7 Abs. 3 Z 3 lit. b FSG genannte Übertretung nicht begangen hätte (vgl. VwGH 18.11.1997, 97/11/0173).
20 Vielmehr hätte das Verwaltungsgericht diese Frage aus eigenem zu beurteilen gehabt.
21 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 26. August 2022