E2019/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden. Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist syrischer Staatsangehöriger arabischer Volksgruppenzugehörigkeit und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Er stammt aus dem Gouvernement Al-Hasaka.
2. Am 17. November 2021 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheid vom 29. April 2022 im Hinblick auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abwies. Es erkannte dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr.
3. Die gegen die Abweisung des Antrages im Hinblick auf den Status des Asylberechtigten erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 17. Mai 2023 als unbegründet ab. Dies wird hinsichtlich der vom Beschwerdeführer behaupteten Gefahr einer Einberufung zum Wehrdienst im Wesentlichen damit begründet, dass der Beschwerdeführer erst 16 Jahre alt und damit noch nicht im wehrpflichtigen Alter sei.
4. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Erkenntnisses beantragt wird.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.
II. Erwägungen
1. Die
– zulässige – Beschwerde ist begründet:
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass dem Beschwerdeführer keine aktuelle Gefahr einer Einberufung zum Militärdienst durch die syrische Armee oder in der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien" drohe, weil der Beschwerdeführer im Entscheidungszeitpunkt 16 Jahre alt sei und die gesetzliche Verpflichtung zur Ableistung des Wehrdienstes in Syrien erst ab dem Alter von 18 Jahren bestehe. Der Beschwerdeführer sei also noch nicht im wehrpflichtfähigen Alter und habe daher mit keiner Zwangsrekrutierung zu rechnen. Es treffe zwar zu, dass Fälle von Zwangsrekrutierungen Minderjähriger zu den kurdischen Einheiten dokumentiert seien. Den Länderberichten könne jedoch zum einen nicht entnommen werden, dass eine systematische Zwangsrekrutierung Minderjähriger erfolge, und zum anderen betreffe ein Gutteil der dokumentierten Fälle Minderjährige, die in Lagern für interne Vertriebene leben würden und oft Waisen seien. Vor diesem Hintergrund sei nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer, dessen Eltern sich im Herkunftsort aufhalten würden, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit einer Zwangsrekrutierung zu rechnen habe.
Auf die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Gefahr einer Zwangsrekrutierung, weil er nach einer Rückkehr das wehrfähige Alter erreichen werde, geht das Bundesverwaltungsgericht mit Hinweis auf das derzeitige Alter des Beschwerdeführers nicht ein und unterlässt somit ausschließlich deshalb eine Prüfung anhand der in diesem Zusammenhang maßgeblichen Kriterien (vgl VfGH 27.2.2023, E3307/2022 sowie die EASO Country Guidance zu Syrien vom November 2021).
3.2. Die asylrelevante Verfolgungsgefahr muss aktuell sein und somit im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes vorliegen (vgl Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer , Asyl- und Fremdenrecht, 2016, §3, K61). Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den Konventionsgründen zu befürchten habe (siehe VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Nach den Länderberichten, auf die sich das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung bezieht, ist für männliche, syrische Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes verpflichtend. Dies gilt vom 1. Jänner des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird. Im Alter von 17 Jahren sind die jungen Männer dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Für den im Jänner 2007 geborenen Beschwerdeführer besteht somit in wenigen Monaten die im syrischen Recht verankerte Verpflichtung, die für den Wehrdienst vorbereitenden Tätigkeiten auszuführen, und in etwas über einem Jahr hat er den Wehrdienst anzutreten. Der Beschwerdeführer wird daher bei seiner Rückkehr mit Maßnahmen im Zusammenhang mit der Einberufung zum Wehrdienst konfrontiert sein. Vor diesem Hintergrund hätte das Bundesverwaltungsgericht nicht ohne weiteres die fehlende Aktualität der Verfolgung annehmen dürfen, sondern sich im Rahmen seiner Prognoseentscheidung mit einer etwaigen asylrelevanten Verfolgung im Zusammenhang mit der vorgebrachten Gefahr einer Einziehung zum Militärdienst in der syrischen Armee (bzw in der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien") auseinandersetzen müssen. Der Beschwerdeführer befindet sich mit knapp sechzehneinhalb Jahren in einem Alter, in dem eine mögliche Zwangsrekrutierung ab Erreichen des 18. Lebensjahres – auch angesichts der bereits ein Jahr davor einsetzenden staatlichen Vorbereitungsmaßnahmen – nicht allein mit dem Hinweis darauf, dass er derzeit das wehrfähige Alter von 18 Jahren noch nicht erreicht hat, als Verfolgungsgefahr ausgeschlossen werden kann (vgl VfGH 27.2.2023, E3307/2022).
3.3. Indem das Bundesverwaltungsgericht es somit unterlassen hat, die vorgebrachte Gefahr einer drohenden Einziehung zum Militärdienst in der syrischen Armee (bzw in der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien"), wenn der Beschwerdeführer das wehrfähige Alter erreicht, zu prüfen, mangelt es der angefochtenen Entscheidung an einer schlüssigen Begründung, warum diesbezüglich keine asylrelevante Verfolgung vorliegt, womit sie schon aus diesem Grund mit Willkür belastet ist.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §35 Abs1 VfGG iVm §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.