E3904/2023 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe wird im beantragten Umfang stattgegeben.
II. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
III. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführer – der Erstbeschwerdeführer ist Vater des minderjährigen Zweit- und des minderjährigen Drittbeschwerdeführers – sind türkische Staatsangehörige kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit und stellten am 9. Oktober 2022 Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer brachte im Wesentlichen vor, dass er von 2004 bis 2009 eine Freiheitsstrafe wegen Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verbüßt habe. Nach seiner Enthaftung hätte der türkische Geheimdienst MIT wiederholt versucht, ihn als Informanten anzuwerben. Er hätte die Zusammenarbeit stets verweigert, da er als Kurde und Anhänger der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Opposition zur türkischen Regierung stehe. Deshalb sei er mit dem Tod bedroht worden. Im Übrigen hätten der Zweit- und der Drittbeschwerdeführer in der Türkei keine Zukunft, da ihr Vater vorbestraft sei.
2. Mit Bescheiden vom 7. Juni 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführer sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Türkei zulässig sei, und legte eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise fest.
3. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. In der mündlichen Verhandlung am 9. Oktober 2023 brachten sie vor, dass während des Beschwerdeverfahrens am 13. Juni 2023 eine Hausdurchsuchung in der Wohnung des Erstbeschwerdeführers in Gaziantep durchgeführt worden sei. Außerdem sei gegen den Erstbeschwerdeführer in der Türkei am 23. Juni 2023 ein Haftbefehl erlassen worden. Dem Erstbeschwerdeführer werde die Unterstützung einer bewaffneten Terrororganisation vorgeworfen, wobei dieses Strafverfahren politisch motiviert und willkürlich eingeleitet worden sei, weil der Erstbeschwerdeführer Anhänger und Aktivist der oppositionellen HDP sei.
4. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde als unbegründet ab. Eine abschließende Beurteilung des drohenden Strafrahmens sei ohne nähere Kenntnis der Tatvorwürfe und der vom türkischen Staat zur Anwendung gebrachten Rechtsgrundlagen kaum möglich. Dies verlange aber der erforderliche Beweismaßstab nicht. Als erwiesen werde festgestellt, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von der Legitimität des in der Türkei gegen den Erstbeschwerdeführer geführten Ermittlungsverfahrens auszugehen sei. Es könne zwar nicht ausgeschlossen werden, dass über den Erstbeschwerdeführer im Fall der Rückkehr in die Türkei eine Freiheitsstrafe verhängt werde. Die von ihm dargelegten staatlichen Maßnahmen und die ihm drohende Strafe seien jedoch weder unverhältnismäßig noch diskriminierend und stellten sohin keinen Grund für die Anerkennung als Flüchtling dar. Im Übrigen sei das Fluchtvorbringen des Erstbeschwerdeführers nicht glaubhaft.
5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).
3. Ein solcher in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Bei Behauptung einer asylrelevanten Verfolgung durch die staatliche Strafjustiz ist bei der Prüfung nach §3 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005) zu klären, ob rechtsstaatlich legitime strafrechtliche Verfolgung ("prosecution") vorliegt oder es sich um Verfolgung aus einem der Gründe des Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ("persecution") handelt. Dabei kommt es entscheidend auf die angewendeten Rechtsvorschriften, aber auch auf die tatsächlichen Umstände ihrer Anwendung sowie die Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe an (s VfGH 25.6.2014, U433/2013; 8.6.2021, E4123/2020; vgl auch VwGH 29.8.2022, Ra 2022/18/0110, mwN). Für die Beurteilung der Asylrelevanz einer staatlichen Strafverfolgung ist festzustellen, welches tatsächliche Verhalten vom Strafgericht als erwiesen angenommen wurde, welche Straftatbestände (einschließlich ihrer Strafdrohung) auf Grund dieses Verhaltens als erfüllt angesehen wurden und welche Sanktion dafür jeweils verhängt wurde. Erst diese Feststellungen bilden die Grundlage für die Beurteilung, ob die verhängten Sanktionen für die als erfüllt angesehenen Straftatbestände verhältnismäßig sind (s VfGH 8.6.2021, E4123/2020; vgl auch VwGH 29.8.2022, Ra 2022/18/0110, mwN).
3.2. Im vorliegenden Fall lag dem Bundesverwaltungsgericht noch kein Urteil eines türkischen Strafgerichtes gegen den Beschwerdeführer vor. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass gegen den Erstbeschwerdeführer auch noch keine Anklage erhoben worden sei, aber strafrechtliche Ermittlungen wegen Unterstützung einer bewaffneten Terrororganisation stattfänden, ein Haftbefehl gegen ihn erlassen und eine Hausdurchsuchung an seinem vormaligen Wohnsitz durchgeführt worden seien.
3.3. Wie der Verfassungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen hat, ist eine bereits erlittene Verfolgung keine Voraussetzung für die Asylgewährung. Maßgeblich ist vielmehr die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht im Rahmen einer Prognoseentscheidung (vgl VfGH 18.9.2023, E944/2023; sowie jeweils vom selben Tag, E1167/2023 und E2019/2023; 27.2.2024, E3802/2023). Entscheidend ist, ob die betroffene Person vor dem Hintergrund der zu treffenden aktuellen Länderfeststellungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (s zB VfGH 18.9.2023, E944/2023, mwN). Ohne zu prüfen, womit der Erstbeschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Türkei voraussichtlich rechnen müsste, kann daher von der noch nicht erfolgten Anklage nicht auf eine fehlende Verfolgungsgefahr geschlossen werden.
3.4. Seine Feststellung, dass der Erstbeschwerdeführer keinen illegitimen Verfolgungshandlungen seitens der türkischen Behörden ausgesetzt sei, begründet das Bundesverwaltungsgericht mit einer 2004 erfolgten, einschlägigen Verurteilung des Erstbeschwerdeführers und seiner fehlenden persönlichen Glaubwürdigkeit. Zur Frage der Achtung wesentlicher Verfahrensgrundsätze und Beschuldigtenrechte durch die türkischen Strafverfolgungsbehörden hält das Bundesverwaltungsgericht lediglich fest, dass "objektiv betrachtet […] keinesfalls jeglichem Verwaltungs- oder Justizhandeln türkischer Hoheitsträger von vornherein die Rechtskonformität abgesprochen werden" könne. Weder aktuelle Länderinformationen noch die persönlichen Erfahrungen des erkennenden Richters ließen den Schluss zu, dass in der Türkei eine Scheinjustiz bestehe, sodass der Erstbeschwerdeführer "– sollte es überhaupt zu einer Anklage kommen – im Zuge eines Strafverfahrens die Gelegenheit haben [werde], seinen Rechtsstandpunkt gegenüber einem türkischen Gericht zu verteidigen."
3.5. Hinweise auf die mangelnde Glaubwürdigkeit des Erstbeschwerdeführers betreffend die Fluchtgeschichte und eine länger zurückliegende Verurteilung entbinden das Verwaltungsgericht jedoch nicht davon, den Tatvorwürfen der türkischen Strafverfolgungsbehörden nachzugehen und sich mit der aktuellen Verfolgungsgefahr auf Grund der dem Erstbeschwerdeführer vorgeworfenen Taten auseinandersetzen. Dies erfordert, die konkreten Tatvorwürfe festzustellen.
3.6. Entgegen der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes lässt sich die Annahme, dass gegen den Erstbeschwerdeführer in der Türkei ein in rechtsstaatlicher Hinsicht unbedenkliches Verfahren geführt werde, nicht mit Hinweis auf die festgestellten Länderberichte begründen. Diese Annahme steht vielmehr in offenem Widerspruch zu den Berichten. Den Länderberichten ist zu entnehmen – worauf auch der Verwaltungsgerichtshof bereits ausdrücklich hingewiesen hat (s VwGH 29.8.2022, Ra 2022/18/0110) – dass "massive Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit von Strafverfahren in der Türkei" bestehen, mit denen sich das Bundesverwaltungsgericht vor dem Hintergrund des gegen den Erstbeschwerdeführer erlassenen Haftbefehls hätte auseinandersetzen müssen.
4. Indem es das Bundesverwaltungsgericht unterlassen hat, die konkreten Tatvorwürfe festzustellen und somit eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob die konkreten Gründe für die Strafverfolgung in einem Konnex zu einem der in Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Konventionsgründe stehen, unterblieben ist, hat es sein Erkenntnis mit Willkür belastet.
III. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführer sind somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe ist im beantragten Umfang (§64 Abs1 Z1 lita ZPO) stattzugeben.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.