JudikaturVfGH

E2533/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
27. November 2023

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden. Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein – am 1. Jänner 2007 geborener – syrischer Staatsangehöriger, der der Volksgruppe der Araber angehört und sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam bekennt. Er stammt aus dem Unterbezirk Al Busayrah im Gouvernement Deir ez Zor.

2. Mit Bescheid vom 27. März 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr (Spruchpunkt III.).

3. Die gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 27. Juni 2023 als unbegründet ab. Begründend führt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer 16 Jahre alt sei und sich sohin nicht im wehrfähigen Alter befinde. Auf Grund seines Alters laufe der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Syrien weder Gefahr durch kurdische Kräfte noch das syrische Regime zur Ableistung eines Militärdienstes einberufen zu werden. Rekrutierungen Minderjähriger durch die kurdischen Kräfte fänden zwar vereinzelt statt, allerdings lasse sich keine diesbezügliche Gefahr für den Beschwerdeführer erkennen, weil es sich nicht um die Regel handle und er auch keinerlei Vorbringen erstattet habe, dass es bereits in der Vergangenheit zu Rekrutierungsversuchen gekommen sei. Ferner habe der Beschwerdeführer auch nicht dargelegt, dass eine Einziehung nach Erreichen der Volljährigkeit mit einer asylrelevanten Gefährdung iSd §3 AsylG 2005 einhergehe, weil selbst eine Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes von den kurdischen Kräften nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Art3 EMRK verletzende Bestrafung nach sich ziehe. Eine Einberufung zum syrischen Wehrdienst sei schon deshalb auszuschließen, weil der Heimatort des Beschwerdeführers – wie dieser auch selbst bestätigt habe – unter kurdischer Kontrolle stehe, sodass das syrische Regime keinen Zugriff auf ihn habe. Zudem sei auch nicht davon auszugehen, dass die Ausreise dem damals 15 Jahre alten Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in asylrelevanter Weise vorgeworfen werden würde.

4. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet wird. Dazu führt der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, dass das Bundesverwaltungsgericht es – unter Verweis auf seine Minderjährigkeit – unterlassen habe, sich mit der Gefahr der Einberufung sowohl durch das syrische Regime als auch die kurdischen Kräfte auseinanderzusetzen. Der Beschwerdeführer vollende nämlich in wenigen Monaten das 17. Lebensjahr, weshalb eine Prognoseentscheidung im Hinblick auf die Gefahr der Zwangsrekrutierung anzustellen gewesen wäre. Außerdem dürfe die Prüfung, ob dem Beschwerdeführer eine asylrelevante Verfolgung drohe, nicht bloß auf seine Herkunftsregion beschränkt erfolgen, sondern habe sich auf den gesamten Herkunftsstaat zu beziehen, sodass die Bedrohung durch das syrische Regime – trotz der kurdischen Kontrolle über den Herkunftsort – nicht außer Acht bleiben dürfe, zumal sich die Gefahr für den Beschwerdeführer auch schon durch einen Kontakt im Zuge der Einreise realisieren könne. Die Entscheidung sei aber nicht nur willkürlich begründet, sondern widerspreche auch deshalb der Verfassung, weil das Bundesverwaltungsgericht durch das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung gegen Art47 Abs2 GRC verstoßen habe.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift – ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass in der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien" eine Pflicht zur Leistung eines Militärdienstes im Alter von 18 bis 24 Jahren bestehe. Der Beschwerdeführer wird davon nicht als betroffen erachtet, weil er diese (untere) Altersgrenze unterschreite. Laut der Berichtslage rekrutiere die kurdische SDF (Syrian Democratic Forces) allenfalls vereinzelt auch Minderjährige, jedoch stelle das weder die Regel dar, noch habe der Beschwerdeführer eine ihm konkret drohende Gefahr glaubhaft machen können. Er habe nämlich selbst angegeben, beim Verlassen Syriens auch am Checkpoint "von den Kurden" nicht mit einer Rekrutierung konfrontiert worden zu sein. Sein Vorbringen, dass nicht das Alter, sondern vielmehr das Aussehen ausschlaggebend sei und er bei seiner Rückkehr nun gefährdet sei, vermag schon deshalb keine Bedrohungslage aufzuzeigen, weil diese Behauptung vor dem Hintergrund der Länderberichte als unzutreffend anzusehen sei.

Zudem führt das Bundesverwaltungsgericht aus, dass dem Beschwerdeführer in den kurdisch kontrollierten Gebieten eine asylrelevante Gefährdung auch bei Erreichen der Volljährigkeit nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohe, weil den Länderinformationen nicht zu entnehmen sei, dass es im Falle der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes in der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien" zu einer Bestrafung komme, die einen Eingriff in unmittelbar nach Art3 EMRK geschützte Rechte darstelle.

3.2. Die asylrelevante Verfolgungsgefahr muss aktuell sein und somit im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes vorliegen (vgl Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer , Asyl und Fremdenrecht, 2016, §3 AsylG 2005, K 61). Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den Konventionsgründen zu befürchten habe (s VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

3.3. Nach den im angefochtenen Erkenntnis abgedruckten Länderberichten ist für Männer im Alter zwischen 18 und 24 Jahren die Ableistung eines "Wehrdienstes" in der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien" verpflichtend. Für den im Jänner 2007 geborenen Beschwerdeführer besteht somit im Entscheidungszeitpunkt in etwa eineinhalb Jahren die im "Dekret Nr 3 vom 4. September 2021" verankerte Verpflichtung, den Wehrdienst in der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien" für die SDF anzutreten (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien, Version 8, vom 29. Dezember 2022, S 214 f.). Der Beschwerdeführer befindet sich mit 16 Jahren in einem Alter, in dem eine mögliche Zwangsrekrutierung ab Erreichen des 18. Lebensjahres nicht allein mit den Hinweisen darauf, dass er derzeit das wehrfähige Alter von 18 Jahren noch nicht erreicht hat und die Gefahr der Rekrutierung als Minderjähriger nicht besteht, als reale Verfolgungsgefahr ausgeschlossen werden kann.

3.4. Soweit das Bundesverwaltungsgericht knapp auf das Erreichen der Volljährigkeit Bezug nimmt, verweist es darauf, dass selbst eine Rekrutierung durch die SDF bzw die Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes nicht asylrelevant sei. Allerdings finden sich im – vom Bundesverwaltungsgericht im Rahmen seiner Feststellungen miteinbezogenen – Länderinformationsblatt folgende Aussagen:

"Es kommt zu Überprüfungen von möglichen Wehrpflichtigen an Checkpoints und auch zu Ausforschungen (ÖB 29.9.2020). Laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen wird dieses Gesetz auch mit Gewalt durchgesetzt (AA 29.11.2021), während das Danish Immigration Service nur davon berichtet, dass Wehrpflichtige, welche versuchen dem Militärdienst zu entgehen, laut dem Gesetz zur Selbstverteidigungspflicht durch die Verlängerung der 'Wehrpflicht' um einen Monat bestraft würden - zwei Quellen zufolge auch in Verbindung mit vorhergehender Haft 'für eine Zeitspanne'. Dabei soll es sich oft um ein bis zwei Wochen handeln, um einen Einsatzort für den Betreffenden zu finden (DIS 6.2022). Im Fall von Verweigerung aus Gewissensgründen oder im Fall einer Verhaftung wegen Wehrdienstverweigerung erhöht sich der Wehrdienst laut EASO [Anm: inzwischen in European Union Asylum Agency, EUAA umbenannt] auf 15 Monate. Spät eintreffende Wehrdienstpflichtige müssen einen Monat länger Wehrdienst leisten (EASO 11.2021). Die ÖB Damaskus erwähnt auch Haftstrafen zusätzlich zur [Anm: zur nicht näher spezifizierten] Verlängerung des Wehrdiensts (ÖB 29.9.2020). Hingegen dürften die Autonomiebehörden eine Verweigerung nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen (ÖB 29.9.2020)."

Eine Auseinandersetzung mit dieser Berichtslage und Ausführungen, weshalb das Bundesverwaltungsgericht daraus schließt, dass dem Beschwerdeführer selbst im Fall der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes für die SDF keine asylrelevante Gefahr iSd §3 AsylG 2005 drohe, finden sich im angefochtenen Erkenntnis nicht. Vor dem Hintergrund der Feststellungen, aus denen die teilweise Durchsetzung der Pflicht zur Militärdienstleistung mit Gewalt hervorgehe, wäre das Bundesverwaltungsgericht aber gehalten gewesen, sich näher mit der Rekrutierungssituation und insbesondere den Folgen einer Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes für die SDF auseinanderzusetzen, um nachvollziehbar zum Ergebnis zu kommen, dass dem Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr keine asylrelevante Gefahr iSd §3 AsylG 2005 droht.

3.5. Indem das Bundesverwaltungsgericht es unterlassen hat, hinreichend zu prüfen, ob die vorgebrachte Gefahr einer – nach Erreichung der Altersgrenze – drohenden Zwangsrekrutierung durch die SDF sowie die allfällige Verweigerung der Ableistung dieses Militärdienstes, für den Beschwerdeführer eine asylrelevante Verfolgung darstellt, mangelt es der angefochtenen Entscheidung an einer schlüssigen Begründung, womit sie schon aus diesem Grund mit Willkür belastet ist (vgl VfGH 20.9.2022, E1138/2022; 27.2.2023, E3307/2022; 13.6.2023, E693/2023 ua; 18.9.2023, E2019/2023).

3.6. Aus den Länderberichten geht zudem hervor, dass das "Herausfiltern" von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints eine weit verbreitete Vorgehensweise des syrischen Regimes sei. Rekrutierungen fänden auch in Ämtern, an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen statt, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer hätten. Im fortgesetzten Verfahren wird daher auch zu prüfen sein, ob die (kurdisch kontrollierte) Herkunftsregion für den Beschwerdeführer erreichbar ist, ohne dass ihm am Weg dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung iSd §3 AsylG 2005 droht (vgl VfGH 29.6.2023, E3450/2022).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

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