E546/2024 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist ein am 1. Jänner 2008 geborener, minderjähriger syrischer Staatsangehöriger. Er stammt aus der Ortschaft Al Meran im Distrikt Al Bab, Gouvernement Aleppo und ist im Kindesalter mit seiner Familie aus Syrien in die Türkei gereist. Nach seiner Einreise in das Bundesgebiet stellte der Beschwerdeführer am 30. September 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Mit Bescheid vom 6. September 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr (Spruchpunkt III.).
3. Die dagegen erhobene Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages im Hinblick auf den Status des Asylberechtigten wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 5. Jänner 2024 als unbegründet ab. Begründend führt das Bundesverwaltungsgericht aus, dass dem 16 jährigen Beschwerdeführer auf Grund seines Alters gegenwärtig mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine Einberufung oder Einziehung durch das syrische Regime drohe. Auch eine sonstige asylrelevante Verfolgung liege nicht vor. Dem Beschwerdeführer sei es nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete, aktuelle Verfolgung glaubhaft zu machen.
4. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber – wie auch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – abgesehen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass dem Beschwerdeführer keine aktuelle Gefahr einer Einberufung zum Militärdienst in der syrischen Armee drohe, da dieser im Entscheidungszeitpunkt 16 Jahre alt sei und die gesetzliche Verpflichtung zur Ableistung des Wehrdienstes in Syrien erst ab dem Alter von 18 Jahren bestehe. Da der Beschwerdeführer noch nicht das wehrpflichtige Alter erreicht habe, bestehe keine aktuelle asylrelevante Gefährdung im Hinblick auf eine drohende Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee. Die Feststellung einer Verfolgungsgefahr "in zwei bis drei Jahren" widerspreche der höchstgerichtlichen Rechtsprechung.
3.2. Bei dieser Beurteilung stützt sich das Bundesverwaltungsgericht auf das aktuellste Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien, Version 9, vom 10. Juli 2023, welches auszugsweise im angefochtenen Erkenntnis abgedruckt wird. Nach diesen Länderberichten ist für männliche, syrische Staatsangehörige im Alter zwischen 18 und 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes verpflichtend. Dies gilt ab dem 1. Jänner des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird. Weiters sind junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen.
3.3. Der Verfassungsgerichtshof hat in vergleichbaren Fällen betreffend minderjährige Staatsangehörige Syriens festgehalten, dass die asylrelevante Verfolgungsgefahr aktuell sein und somit im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes vorliegen muss (vgl Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer , Asyl- und Fremdenrecht, 2016, §3, K 61). Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylsuchende mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den Konventionsgründen zu befürchten habe (siehe VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
3.4. Das Bundesverwaltungsgericht setzt sich zwar mit der Gefahr einer möglichen Zwangsrekrutierung des Beschwerdeführers als Minderjähriger auseinander, auf die Gefahr einer Zwangsrekrutierung bzw Einziehung zum Militärdienst, weil er nach einer Rückkehr das "wehrfähige" Alter von 18 Jahren erreichen wird, geht das Bundesverwaltungsgericht jedoch nicht ein. Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt damit eine Prüfung anhand der in diesem Zusammenhang maßgeblichen Kriterien (siehe das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien, Version 9, 10. Juli 2023).
Vor dem Hintergrund des konkreten Falles hätte das Bundesverwaltungsgericht daher nicht ohne weiteres die fehlende Aktualität der Verfolgung annehmen dürfen, sondern sich im Rahmen seiner Prognoseentscheidung mit einer etwaigen asylrelevanten Verfolgung im Zusammenhang mit der vorgebrachten Gefahr einer Einziehung zum Militärdienst bzw einer Zwangsrekrutierung auseinandersetzen müssen. Der Beschwerdeführer befand sich im Zeitpunkt der Entscheidung in einem Alter von 16 Jahren und damit in einem Alter, in dem eine mögliche Zwangs-rekrutierung ab Erreichen des 18. Lebensjahres – auch angesichts der bereits ein Jahr davor einsetzenden staatlichen Vorbereitungsmaßnahmen – nicht allein mit dem Hinweis darauf, dass er derzeit das wehrfähige Alter von 18 Jahren noch nicht erreicht hat, als Verfolgungsgefahr ausgeschlossen werden kann (vgl VfGH 27.2.2023, E3307/2022; 13.6.2023, E693 699/2023; 13.6.2023, E2987/2022; 18.9.2023, E2019/2023; 18.9.2023, E1167/2023; 19.9.2023, E1089/2023; 28.11.2023, E46/2023; 28.11.2023, E1106/2023; 26.2.2024, E2721/2023).
4. Indem das Bundesverwaltungsgericht es unterlässt, sich mit der individuellen Situation des minderjährigen Beschwerdeführers und der vorgebrachten Gefahr einer drohenden Einziehung zum Militärdienst, wenn der Beschwerdeführer das wehrfähige Alter erreicht, auseinanderzusetzen, mangelt es der angefochtenen Entscheidung an einer schlüssigen Begründung, warum diesbezüglich keine asylrelevante Verfolgung vorliegt. Das Erkenntnis ist daher mit Willkür belastet.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973 verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.