6R280/25b – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Rekursgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Fabian als Vorsitzende sowie die Richterin Mag. Wieser und den Richter MMag. Klaus im Insolvenzverfahren der A* GmbH, FN **, ** (vormals B* GmbH, **), Masseverwalter Mag. Dr. C*, Rechtsanwalt in Wien, über den Rekurs der Schuldnerin gegen den Beschluss des Handelsgerichtes Wien vom 19.8.2025, **-1, in nicht öffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird als nichtig behoben, das daran anschließende Verfahren für nichtig erklärt und der Antrag der Österreichischen Gesundheitskasse vom 3.7.2025 zu ** des Handelsgerichtes Wien auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin zurückgewiesen.
Der Wert des Entscheidungsgegenstandes übersteigt EUR 30.000,--.
Der ordentliche Revisionsrekurs ist nicht zulässig.
Text
Begründung:
Die Schuldnerin ist zu FN ** im Firmenbuch eingetragen. Seit ihrer Errichtung am 28.10.2024 firmierte sie unter dem Namen B* GmbH und hatte ihren Sitz zunächst in ** mit der Geschäftsanschrift **.
Am 3.7.2025 beantragte die Österreichische Gesundheitskasse [ÖGK] beim Erstgericht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin, wobei sie sich auf eine offene Forderung in Höhe von EUR 92.525,98 sA laut vollstreckbarem Rückstandsausweis stützte (**).
Nach Durchführung von Erhebungen fasste das Erstgericht den angefochtenen Beschluss, mit dem es das Konkursverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnete und Mag. Dr. C* zum Masseverwalter bestellte. Begründend wurde ausgeführt, die Forderung der ÖGK sei durch den vollstreckbaren Rückstandsausweis in der genannten Höhe glaubhaft gemacht. Die Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin ergebe sich aus dem Zurückreichen der Beitragsrückstände bis Februar 2025. Es seien die Forderungen der ÖGK und der BUAK unbeglichen bzw ungeregelt. Der Gläubiger BUAK habe die Überweisung des Kostenvorschusses von EUR 4.000,-- zugesagt. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens gründe sich auf § 70 IO.
Das Unternehmen werde im Sprengel des Erstgerichtes betrieben; die örtliche Zuständigkeit liege gemäß § 63 IO vor. Das Erstgericht sei nach Art 3 Abs 1 EuInsVO zuständig, weil die Schuldnerin den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen (COMI) in Österreich habe.
Die Bekanntmachung der Konkurseröffnung in der Insolvenzdatei erfolgte am 19.8.2025, konkret erfolgte die Erfassung um 12:37 Uhr dieses Tages.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekursder Schuldnerin mit dem Antrag auf dessen ersatzlose Behebung. Sie macht geltend, infolge einer Sitzverlegung und eines beim Landesgericht St. Pölten gestellten Eigenantrags habe das Landesgericht St. Pölten mit Beschluss (ebenfalls) vom 19.8.2025, aber zeitlich früher als das Erstgericht, ein Sanierungsverfahren mit Eigenverwaltung über ihr Vermögen eröffnet. Gemäß § 63 Abs 3 IO entscheide bei Zuständigkeit mehrerer Gerichte das Zuvorkommen mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens.
Die ÖGK, die BUAK und der Masseverwalter erklärten, keine Rekursbeantwortung zu erheben.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist berechtigt .
1. Aus der Aktenlage ergibt sich folgender Sachverhalt:
Gemäß Firmenbucheintragung vom 5.8.2025 wurde die Firma der Schuldnerin auf „A* GmbH“ geändert, der Sitz der Schuldnerin von ** nach ** verlegt und ihre Geschäftsanschrift von **, in **, geändert (** des Landesgerichtes St. Pölten).
Am 6.8.2025, eingelangt am 8.8.2025, stellte die Schuldnerin beim Landesgericht St. Pölten den Antrag auf Eröffnung eines Sanierungsverfahrens mit Eigenverwaltung.
Sie gab darin insbesondere an, dass sie ab März 2025 die Ansprüche der Gläubiger nicht mehr habe befriedigen können und solcherart in die Zahlungsunfähigkeit verfallen sei. Konsequenz daraus sei gewesen, dass die Dienstverhältnisse zu sämtlichen Mitarbeitern Anfang Mai 2025 beendet worden seien und die Schuldnerin ihre Geschäftstätigkeit vorübergehend eingestellt habe. Eine Wiederaufnahme dieser Geschäftstätigkeit (in Form des Unternehmenszwecks der Personalüberlassung, allerdings nur an drei operative Gesellschaften der Unternehmensgruppe) sei beabsichtigt. Die zur Erfüllung des Sanierungsplans nötigen Mittel sollen durch Befriedigung offener Forderungen der Schuldnerin gegen ihre (konzernverbundenen) Auftraggeber in Höhe von EUR 388.636,16 aufgebracht werden.
Am 6.8.2025 richtete die Schuldnerin auch einen Schriftsatz an das Erstgericht zu **, mit dem sie dieses über die beim Landesgericht St. Pölten erfolgte Antragstellung informierte; angeschlossen war eine Kopie des Sanierungsplans. Laut Zustellnachweis langte die Mitteilung am 8.8.2025 beim Erstgericht ein.
Aus nicht mehr aufklärbaren Gründen wurde der Schriftsatz jedoch nicht in den elektronisch geführten Akt ** hochgeladen, die zuständige Richterin des Erstgerichtes erlangte davon keine Kenntnis (siehe Aktenvermerke vom 19.8.2025 zu **-11 und zu **-2).
Mit Beschluss vom 19.8.2025 eröffnete das Landesgericht St. Pölten zu seiner Geschäftszahl ** ein Sanierungsverfahren mit Eigenverwaltung über das Vermögen der Schuldnerin. Zum Sanierungsverwalter wurde Dr. D* bestellt. In der Begründung nahm es die örtliche Zuständigkeit als gegeben an, weil der Sitz des Unternehmens im Sprengel des Landesgerichtes St. Pölten liege.
Die Bekanntmachung dieser Insolvenzeröffnung in der Insolvenzdatei erfolgte am 19.8.2025, darin erfasst wurde der Beschluss um 10:38 Uhr.
2. In rechtlicher Hinsicht folgt daraus:
2.1.Gemäß § 63 Abs 1 IO ist für das Insolvenzverfahren der Gerichtshof erster Instanz (Insolvenzgericht) zuständig, in dessen Sprengel der Schuldner im Zeitpunkt der Antragstellung sein Unternehmen betreibt oder mangels eines solchen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
2.2.§ 63 Abs 1 IO stellt nicht auf den satzungsmäßigen Sitz, sondern ausschließlich auf den Ort des tatsächlichen Unternehmensbetriebes ab ( Schumacherin KLS² § 63 IO Rz 11). Im Fall der Einstellung bzw Abwicklung des Betriebes ist darauf zu achten, dass aus zuständigkeitsrechtlicher Sicht der Betrieb eines Unternehmens so lange nicht beendet ist, wie die mit der Auflösung des Betriebes zusammenhängenden Tätigkeiten noch nicht abgeschlossen sind. Die Verwertung eines Vermögens gehört zu den Abwicklungstätigkeiten, die noch als „Betreiben des Unternehmens“ zu beurteilen sind ( Schumacher aaO Rz 15).
Wenn auch derzeit kein operativer Geschäftsbetrieb der Schuldnerin stattfindet, so ergibt sich aus ihren Antragsangaben zweifellos, dass eine Betriebsauflösung nicht beabsichtigt ist, sondern die Stilllegung nur vorübergehend sein soll. Ferner beruft sich die Schuldnerin auf beträchtliche offene Forderungen, die noch einzutreiben sind. Es besteht kein Grund, zu bezweifeln, dass dieser noch verbliebene Unternehmensbetrieb bis zum 5.8.2025 am damaligen Unternehmenssitz in ** und seither am neuen Sitz in ** stattfindet (vgl zur diesbezüglichen Nachforschungspflicht nur bei begründeten Zweifeln Schumacher aaO Rz 38).
2.3.Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Zuständigkeit ist jener der Antragstellung, nachträgliche Änderungen der die Zuständigkeit bestimmenden Umstände sind grundsätzlich unbeachtlich. Das Gericht, das bei Einbringung des Insolvenzantrags für diesen zuständig war, bleibt ungeachtet einer späteren Sachverhaltsänderung gemäß § 29 JN für das weitere Verfahren zuständig (perpetuatio fori; Mohr, IO 11 § 63 E 3, 4).
2.4. Fraglich ist, welcher Zeitpunkt maßgeblich ist, wenn wie hier mehrere Anträge bei verschiedenen Gerichten gestellt werden. Im Insolvenzverfahren ist nicht explizit ein Zeitpunkt der „Streitanhängigkeit“ iS eines Verfahrenshindernisses vorgesehen, sodass bei verschiedenen Gerichten ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt werden kann, ohne dass der zweite Antrag sofort wegen des Hindernisses des anhängigen Eröffnungsverfahrens zurückzuweisen ist. In dieser Situation kommt zuständigkeitsändernden Umständen insofern Bedeutung zu, als das später angerufene Gericht nach dem Zeitpunkt der Antragstellung bei diesem Gericht die Zuständigkeit beurteilen muss ( Schneider in Konecny/Schubert, InsG § 63 IO Rz 140; Schumacher in Bartsch/Pollak/Buchegger , InsR 4 § 63 KO Rz 47 f; aA OLG Linz 2 R 241/95 = ZIK 1996, 100 = Mohr, IO 11 E 6).
Auch der Oberste Gerichtshof nimmt ein der Streitanhängigkeit vergleichbares Verfahrensstadium erst mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens an (8 Ob 20/02b; SchneideraaO Rz 163). Zudem besteht mit § 63 Abs 3 IO eine ausdrückliche Bestimmung für den Fall, dass bei verschiedenen, aber zuständigen Gerichten die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt wird: Die Zuständigkeitskonkurrenz ist diesfalls nach dem Grundsatz des Zuvorkommens (Prävention) zu entscheiden ( Schumacher in Bartsch/Pollak/Buchegger , InsR 4 § 63 KO Rz 48).
Zusammengefasst ist somit bei mehreren Anträgen bei verschiedenen Gerichten der Zeitpunkt der jeweiligen Antragstellung maßgeblich ( Schneider aaO Rz 141).
2.5.In weiterer Folge gelangt in einem solchen Fall § 63 Abs 3 IO zur Anwendung, wonach bei Zuständigkeit mehrerer Gerichte das Zuvorkommen mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entscheidet. Zuständig ist demgemäß jenes Gericht, welches das Insolvenzverfahren zuerst eröffnet. Dabei kann – je nach Dauer des Eröffnungsverfahrens – auch ein späterer Antrag maßgeblich sein, wenn dieser zur früheren Eröffnung des Verfahrens geführt hat ( Schneider aaO Rz 175). Auf die Rechtskraft des Eröffnungsbeschlusses kommt es dabei nicht an. Das später eröffnende Gericht hat seine Zuständigkeit bereits mit der Eröffnung des Verfahrens beim zuvorkommenden Gericht verloren, sein Verfahren ist daher für nichtig zu erklären und der Antrag zurückzuweisen ( SchumacheraaO Rz 48; derselbe in KLS² § 63 IO Rz 35).
Hingegen wird bei gleichzeitiger Eröffnung von zwei Insolvenzverfahren ein positiver Kompetenzkonflikt begründet, der vom gemeinsamen übergeordneten Gericht zu entscheiden ist ( Schneider aaO Rz 128, 174).
2.6. Nun wurden im vorliegenden Fall die beiden Beschlüsse auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens am selben Tag gefasst. Aufgrund der im VJ-Register erfassten Daten steht aber fest, dass die Eingabe des vom Landesgericht St. Pölten gefassten Beschlusses in die Insolvenzdatei zu einem früheren Zeitpunkt, nämlich bereits um 10:38 Uhr des 19.8.2025, erfolgte als der erst um 12:37 Uhr in die Insolvenzdatei geschaltete Beschluss des Handelsgerichtes Wien.
Da sich die oben dargestellte Präventionswirkung bereits an die Eingabe des Insolvenzeröffnungsbeschlusses in die Insolvenzdatei (§ 416 Abs 2 ZPO, § 252 IO) knüpft ( Schumacher in Bartsch/Pollak/Buchegger , InsR 4 § 63 KO Rz 48), ist auf diese Zeitpunkte abzustellen. Zum Zeitpunkt der Erfassung des angefochtenen Beschlusses lag bereits die in der Insolvenzdatei erfasste Beschlussfassung über Eröffnung eines Sanierungsverfahrens des Landesgerichtes St. Pölten vor, wodurch das Erstgericht – wie ausgeführt – seine Zuständigkeit verlor.
2.7. Der angefochtene Beschluss und das im Anschluss an diesen geführte Verfahren des Erstgerichtes waren daher als nichtig zu beheben und der diesem zugrunde liegende Antrag der ÖGK zurückzuweisen ( Schumacherin KLS² § 63 IO Rz 35).
3. Ergänzt sei, dass auch unter der Annahme, die Insolvenzeröffnung durch die beiden Gerichte wäre angesichts des übereinstimmenden Datums der Beschlussfassungen „gleichzeitig“ erfolgt, mit einer Aufhebung des angefochtenen Beschlusses vorzugehen wäre:
Der diesfalls anzunehmende positive Kompetenzkonflikt wäre durch das Rekursgericht (diesfalls als zuständiges gemeinsames übergeordnetes Gericht iSd § 47 JN) dahin zu lösen, dass das Landesgericht St. Pölten als das für die Führung des Insolvenzverfahrens zuständige Gericht zu bestimmen wäre. Dies einerseits, weil der aktuelle Sitz der Schuldnerin in dessen Sprengel liegt und somit für das abzuwickelnde Insolvenzverfahren eine größere Nähe zum Landesgericht St. Pölten besteht (vgl SchneideraaO Rz 102). Andererseits kommt dem von der Schuldnerin beim Landesgericht St. Pölten initiierten Sanierungsverfahren nach § 167 IO, das bei Vorliegen der Voraussetzungen zwingend einzuleiten ist, der Vorrang gegenüber einem Konkursverfahren zu (vgl Lentschin KLS² § 167 IO Rz 12). Somit ist jedenfalls diesem Gericht der Vorzug zu geben.
4.Der Ausspruch über den Wert des Entscheidungsgegenstandes beruht auf §§ 500 Abs 2, 526 Abs 3 ZPO iVm § 252 IO.
Der ordentliche Revisionsrekurs war nicht zuzulassen, weil eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 528 Abs 1 ZPO (hier iVm § 252 IO) nicht vorlag.