1Bs146/24s – OLG Graz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Graz hat durch den Richter Mag. Redtenbacher als Vorsitzenden und die Richterinnen Mag a . Schwingenschuh und Mag a. Haas in der Strafsache gegen A* B* und weitere Personen wegen des Vergehens des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 1 StGB über die Berufungen der Angeklagten A* B* und C* B* , der Privatbeteiligten D* und der Staatsanwaltschaft Klagenfurt gegen das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 3. Juli 2024, GZ **-52, in nichtöffentlicher Beratung zu Recht erkannt:
Spruch
Aus Anlass der Berufungen wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen .
Die Angeklagten, die Staatsanwaltschaft und die Privatbeteiligte werden mit ihren Berufungen auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurden A* B* (geboren am **) und C* B* (geboren am **) jeweils des Vergehens des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 1 StGB schuldig erkannt, hiefür nach dieser Bestimmung je zur gemäß § 43 Abs 1 StGB für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt und nach § 389 Abs 1 StPO zum Kostenersatz verpflichtet. Gemäß § 366 Abs 2 StPO wurde die Privatbeteiligte D* mit ihren Ansprüchen auf den Zivilrechtsweg verwiesen.
Demnach haben A* B* und C* B* in ** im Zeitraum zwischen Juli 2020 und Juli 2021 der am ** geborenen D*, welche das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte und ihrer Fürsorge und/oder Obhut unterstand, körperliche und seelische Qualen zugefügt, und zwar
I./ A* B* als im gemeinsamen Haushalt wohnender Lebensgefährte, indem er das Mädchen
II./ C* B* als im gemeinsamen Haus wohnende Mutter des Lebensgefährten der Kindesmutter, welche deren Kinder regelmäßig beaufsichtigte, indem sie das Mädchen
Gegen dieses Urteil richten sich die Berufungen der Angeklagten A* B* (ON 59) und C* B* (ON 61) wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe sowie wegen der Aussprüche über die Schuld und die Strafe. Sie streben – allenfalls nach Wiederholung des Beweisverfahrens – jeweils ihren Freispruch, in eventu die Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht (der Erstangeklagte allenfalls mit dem Auftrag, nach dem 11. Hauptstück der StPO vorzugehen), zumindest jedoch eine Reduktion der Strafen an.
Die Staatsanwaltschaft bekämpft das Urteil zum Nachteil der Angeklagten mit Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe und zielt auf die Anhebung der über sie verhängten (bedingt nachgesehenen) Freiheitsstrafen ab (ON 57).
Die Privatbeteiligte D* wendet sich mit ihrem Rechtsmittel gegen die auf § 366 Abs 2 StPO gestützte Verweisung auf den Zivilrechtsweg (ON 58).
Die Oberstaatsanwaltschaft Graz trat in ihrer Stellungnahme vom 12. November 2024 den Berufungen der Angeklagten entgegen, jenen der Staatsanwaltschaft und der Privatbeteiligen hingegen bei.
Rechtliche Beurteilung
Aus Anlass der Berufungen überzeugte sich das Berufungsgericht davon, dass dem Urteil zum Nachteil der Angeklagten wirkende, nicht geltend gemachte Rechtsfehler mangels Feststellungen anhaften, die von Amts wegen aufzugreifen sind (§§ 489 Abs 1, 471, 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall iVm § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO).
Der Tatbestand des § 92 Abs 1 StGB erfordert in objektiver Hinsicht u.a. das Zufügen körperlicher oder seelischer Qualen.
Körperliche oder seelische Qualen sind Schmerzen, Leiden oder Angstzustände, die wegen ihrer beträchtlichen Intensität oder weil sie einen gewissen Zeitraum andauern oder sich wiederholen, mit einer erheblichen Beeinträchtigung des physischen oder psychischen Wohlbefindens des Betroffenen verbunden sind (RIS-Justiz RS0093099, RS0093088). Maßgeblich sind die – opferbezogen zu beurteilende – Intensität der Schmerzen, Leiden oder Angstzustände sowie deren Dauer und Häufigkeit (vgl. Nimmervollin Leukauf/Steininger, StGB 4 § 92 Rz 7; Oberressl in WK 2StGB § 312 Rz 11 f; 12 Os 112/21v; 15 Os 38/22k). Im Fall von Schmerzen orientiert sich die Erheblichkeit der Beeinträchtigung des Wohlbefindens des Opfers am Ausmaß des Überschreitens der mit Misshandlungen gewöhnlich verbundenen Schmerzintensität oder -dauer (12 Os 112/21v). Darüber hinausgehende Tatfolgen, wie etwa eine Verletzung oder Gesundheitsschädigung (iS des § 83 Abs 1 StGB), werden nicht verlangt. Ebenso wenig muss es sich um „besondere“ Qualen (iS des § 84 Abs 5 Z 3 und § 99 Abs 2 StGB) handeln (erneut 12 Os 112/21v; RIS-Justiz RS0093099 [T1]).
In subjektiver Hinsicht muss sich der (zumindest bedingte) Vorsatz des Täters – soweit hier von Bedeutung – auf das erforderliche Verhältnis zum Schutzobjekt, dessen Alter bzw. Wehrlosigkeit sowie die grausame Wirkung der Tat (iS jener Umstände, die das Wesen körperlicher oder seelischer Qualen ausmachen) umfassen ( Nimmervollin Leukauf/Steininger, StGB 4 § 92 Rz 11).
Fallbezogen traf das Erstgericht auf US 3 f folgende Feststellungen:
Zu nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkten im Zeitraum zwischen Juli 2020 und Juli 2021 schlug A* B* D* zumindest einmal mit seinen Händen; riss sie an den Haaren; warf sie einmal bekleidet, obwohl er wusste, dass sie nicht schwimmen konnte, in einen ca. 16 Grad Celsius kalten rund 75 cm tiefen Teich; zog sie an den Ohren; schlug mit Brennnesseln auf unbekleidete Stellen ihres Körpers; stellte sie zumindest einmal unter die Dusche und brauste sie mit kalten Wasser ab und sperrte sie einmal im Winter in der Nacht mit unbekleideten Füßen vor die Haustüre.
Zu nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkten im Zeitraum zwischen Juli 2020 und Juli 2021 schlug C* B* D* wiederholt mit Brennnesseln an den Armen, am Oberkörper und/oder an den Beinen; schlug sie zumindest einmal mit ihren Händen auf den Arm; trug sie wiederholt (etwa zwei- bis viermal) in einen bei geschlossener Tür nur über zwei kleine Fenster spärlich mit Tageslicht beleuchteten und somit im Inneren als finster wahrzunehmenden Keller, verließ diesen und sperrte sie dort allein ein; riss sie an den Haaren; zog sie an den Ohren und stellte sie zumindest einmal unter die Dusche und brauste sie mit kaltem Wasser ab.
Durch die ihr von A* und C* B* zugefügten Handlungen erlitt D* massive Angstzustände. Durch das Schlagen mit Händen und Brennnesseln, durch das Reißen an den Haaren und durch das Ziehen an den Ohren erlitt sie auch körperliche Schmerzen.
Sämtliche dieser bewusst und gewollt gesetzten Handlungen nahmen A* und C* B* jeweils im Wissen, dass D* unter 18 Jahre alt war sowie darüber, dass sie jeweils persönlich zu den Tatzeitpunkten mit dem faktischen Schutz und der Betreuung des Mädchens betraut waren, vor, wobei sie diese Gegebenheiten auch billigend in Kauf nahmen. Es kam ihnen überdies gerade darauf an, dass D* durch ihre Sanktionierung massive Ängste bzw. Schmerzen verspürt, da sie ihr so eine Lektion erteilten wollten.
Auf Basis dessen ging das Erstgericht in Ansehung jedes der beiden Angeklagten vom Vorliegen jeweils einer tatbestandlichen Handlungseinheit nach § 92 Abs 1 StGB (zu dieser Rechtsfigur 13 Os 1/07g [verst Senat], RIS-Justiz RS0122006, RS0127374; Ratz in WK 2StGB Vor §§ 28–31 Rz 89 und 91; in Bezug auf § 92 StGB z.B. 11 Os 75/20v) aus (und erkannte folglich jeden der beiden Angeklagten eines – jeweils als Alleintäter begangenen – solchen Vergehens schuldig).
Fallbezogen trägt die Konstatierung, dass D* durch das Schlagen mit Händen und Brennnesseln, durch das Reißen an den Haaren und durch das Ziehen an den Ohren auch „körperliche Schmerzen“ erlitt (US 4 zweiter Absatz), mangels Aussagen (in tatsächlicher Hinsicht) zu Intensität, Dauer und Häufigkeit dieser Schmerzen – selbst unter Berücksichtigung des Alters des Kindes – die rechtliche Annahme des Zufügens von Qualen iS einer erheblichen Beeinträchtigung des physischen oder psychischen Wohlbefinden der Betroffenen (für sich genommen) bei keinem der beiden Angeklagten.
Eine solche tatbestandsmäßige Beeinträchtigung könnte sich daher nur aus den weiters konstatierten „massiven Angstzuständen“ der D* ergeben. Allerdings resultierten diese „massiven Angstzustände“ nach den Sachverhaltsannahmen des Erstgerichts (ebenfalls US 4 zweiter Absatz) auf den der Betroffenen durch A* und C* B* zugefügten Handlungen, also erst aus der Gesamtheitder von den Angeklagten (nicht im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter, sondern) jeweils als Alleintäter im Rahmen einer tatbestandlichen Handlungseinheit begangenen Einzelakten (vgl. zur tatbestandlichen Handlungseinheit bei Annäherung an den tatbestandsmäßigen Erfolg durch mehrerer Einzelakte RIS-Justiz RS0122006).
Demnach in subjektiver Hinsicht (auch) notwendige Konstatierungen dahin, dass die Angeklagten es jeweils (zumindest) zumindest ernstlich für möglich hielten und sich damit abfanden, E* durch ein Zusammenwirken ihre eigenen und der Tathandlungen des jeweils anderen in ihrer GesamtheitSchmerzen, Leiden oder (hier:) Angstzustände zuzufügen (RIS-Justiz RS0106270), die mit einer erheblichen Beeinträchtigung des psychischen oder physischen Wohlbefindens des Opfers verbunden sind, wurden allerdings nicht getroffen.
Diese Feststellungsdefizite führen daher bereits in nichtöffentlicher Beratung zur Kassation des gesamten Urteils und Verweisung an das Landesgericht Klagenfurt zu neuer Verhandlung und Entscheidung (§§ 489 Abs 1, 470 Z 3 StPO).
Die Angeklagten, die Staatsanwaltschaft und die Privatbeteiligte waren mit ihren Berufungen auf diese Entscheidung zu verweisen.
Infolge gänzlicher Aufhebung des Urteils hat kein Ausspruch nach § 390a StPO zu erfolgen ( Lendlin WK StPO § 390a Rz 7 aE).