Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Mag. Dr. Wurdinger als Vorsitzenden sowie die Hofrätin und die Hofräte Dr. Steger, Mag. Wessely Kristöfel, Dr. Parzmayr und Dr. Vollmaier als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Dr. Alois Schneider, Rechtsanwalt in Rattenberg, gegen die beklagte Partei S*, Deutschland, vertreten durch Dr. Stefan Gloyer, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 30.992,73 EUR sA und Feststellung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 12. Juni 2025, GZ 5 R 68/25y 80, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Landeck vom 10. Februar 2025, GZ 2 C 774/23v 73, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts einschließlich der Kostenentscheidung unter Einschluss seines in Rechtskraft erwachsenen Teils mit der Maßgabe wiederhergestellt wird, dass es anstatt des im Spruch in Punkt 1 und 3a genannten Betrags von 28.9 7 2,73 EUR jeweils 28.9 9 2,73 EUR zu lauten hat.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 6.689,22 EUR (darin 801,87 EUR USt und 1.878 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens zweiter und dritter Instanz zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Am 20. 4. 2023 stieß die Klägerin beim Schifahren im Schigebiet „S*“ auf der blau markierten Piste Nr 2 mit dem Beklagten (beide sind gute Schifahrer) zusammen. Die Kollisionsstelle liegt in einem unfallträchtigen („neuralgischen“) Bereich, in dem die Piste Nr 2 – auf der dort zu den Talstationen von zwei Bergbahnen (F*- und I*bahn) zugefahren werden kann – stark frequentiert ist. Oberhalb der Piste Nr 2 befinden sich in diesem Bereich die Bergstationen von zwei anderen Bahnen (S*- und F*bahn) sowie ein Restaurant. Von einer dort gelegenen Geländekante fahren zahlreiche Schifahrer los, die dann auf die Piste Nr 2 gelangen und von dort entweder in Richtung der Talstationen der F*- oder I*bahn einbiegen oder die Piste Nr 2 kreuzen, um Richtung H* zu fahren. Der Zusammenstoß der Parteien ereignete sich im Bereich des Pistenabschnitts unterhalb dieser Geländekante.
[2] Die Unfallörtlichkeit stellte sich wie folgt dar (ohne Absperrnetz):

Erklärungen:
1 = Fahrtrichtung der Klägerin
2 = Fahrtrichtung des Beklagten
3 = Piste Nr. 2 in Richtung H*
4 = Talstation F*bahn
5 = I*bahn
6 = H*bahn
[3] Die Klägerin fuhr auf der Piste Nr 2 in Richtung Talstation der F*bahn in gerader Linie mit einer Geschwindigkeit von etwa 25 bis 30 km/h. Nachdem sie den Beklagten bei einem bergseitigen Blick nach rechts erstmals knapp unterhalb der Geländekante und noch in gefahrloser Distanz oberhalb von ihr wahrgenommen hatte, achtete sie in der Folge nicht mehr auf ihn, sondern bemerkte ihn erst wieder unmittelbar vor der Kollision, die sie nicht mehr verhindern konnte. Der Beklagte fuhr von der Geländekante ab, machte zunächst – um einem anderen Schifahrer auszuweichen – einen Rechtsschwung, dann einen Linksschwung und setzte seine Fahrt anschließend nahezu in Falllinie des Hanges Richtung H* fort. Er blickte dabei zuletzt aber nicht (in seiner Fahrtrichtung) geradeaus, sondern nach links in Richtung jenes Schifahrers, dem er zuvor ausgewichen war, sodass er die unter bzw vor ihm fahrende Klägerin übersah und mit dieser – mit merklich höherer Geschwindigkeit – „reaktionslos“ zusammenstieß, wodurch beide Parteien stürzten und sich verletzten.
[4] Die Klägerin begehrt die Zahlung von 30.992,73 EUR sA als Ersatz für ihre durch den Unfall verursachten Schäden sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für daraus resultierende künftige Nachteile. Diesen treffe das alleinige Verschulden am Zusammenstoß, weil er sich von oben mit höherer Geschwindigkeit als die Klägerin an sie angenähert habe und ihr leicht ausweichen hätte können.
[5] Der Beklagte wendet ein, sich bei seiner Fahrt ausreichend davon überzeugt zu haben, dass sein Fahrbereich frei sei. Die Klägerin habe sich ihm mit höherer Geschwindigkeit genähert und durch ihre Unachtsamkeit die Kollision verursacht. Ihrem Zahlungsbegehren hielt er auch eine aus dem Unfall resultierende Ersatzforderung von „zumindest“ 8.000 EUR entgegen.
[6] Das Erstgericht sprach aus, dass das Klagebegehren mit 28.972,73 EUR (richtigerweise gemeint: 28.9 9 2,73 EUR) und die Gegenforderung nicht zu Recht bestehe, verpflichtete den Beklagten zur Zahlung dieses Betrags samt Anhang, wies das Mehrbegehren von 2.000 EUR sA und einen Teil des Zinsenbegehrens (rechtskräftig) ab und gab dem Feststellungsbegehren statt.
[7] Den Beklagten treffe das Alleinverschulden am Unfall. Die Klägerin sei mit angepasster Geschwindigkeit „quasi dem Hauptverkehrsstrom“ zur Talstation der F*bahn gefolgt und daher nicht verpflichtet gewesen, auf von oben kommende Schifahrer zu achten. Demgegenüber habe der von oben abfahrende Beklagte diesen „Hauptverkehrsstrom“ gekreuzt, weshalb er verpflichtet gewesen wäre, dort befindliche Schifahrer – wie die Klägerin – ständig zu beachten und seine Fahrweise an diese anzupassen. Dies habe er schuldhaft unterlassen.
[8] Das Berufungsgericht änderte die erstinstanzliche Entscheidung ab. Es sprach aus, dass die Klageforderung mit 14.486,37 EUR und die Gegenforderung mit 900 EUR zu Recht bestehe und verpflichtete den Beklagten zur Zahlung von 13.586,37 EUR sA, wies das Mehrbegehren von 17.406,36 EUR sA ab, gab dem Feststellungsbegehren zur Hälfte Folge und wies dieses im darüber hinausgehenden Umfang ab.
[9] Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteige, und ließ die ordentliche Revision mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zu.
[10] Entgegen der Beurteilung des Erstgerichts sei die Klägerin nicht in einem bevorrangten „Hauptverkehrsstrom“ gefahren, vielmehr habe sich die Kollision in einem Kreuzungsbereich zweier Pisten ereignet, in dem beide Parteien gleichermaßen zur Vorsicht und zur Beobachtung „entgegenkommender“ Schifahrer verpflichtet gewesen wären. Da auch die Klägerin nicht auf den in diesen Bereich einfahrenden Beklagten geachtet habe, treffe sie ein 50%iges Mitverschulden.
[11] Die dagegen erhobene außerordentliche Revision der Klägerin ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Berufungsgerichts zulässig , weil dieses zu Unrecht ein ins Gewicht fallendes Mitverschulden der Klägerin annahm. Das Rechtsmittel ist aus diesem Grund auch berechtigt .
[12] 1. Die Anwendung österreichischen Sachrechts gemäß Art 4 Abs 1 Rom IIVO wird von den Parteien zu Recht nicht in Zweifel gezogen (vgl 1 Ob 59/19m [Pkt 3.]; 3 Ob 226/19k [Pkt 1.]; 5 Ob 230/23v [Rz 6]).
[13] 2. Die FIS Regelnsind zwar keine gültigen Rechtsnormen, insbesondere kein Gewohnheitsrecht. Als Zusammenfassung der Sorgfaltspflichten, die bei der Ausübung des alpinen Schisports im Interesse aller Beteiligten zu beachten sind, und bei der Anwendung des allgemeinen Grundsatzes, dass sich jeder so verhalten muss, dass er keinen anderen gefährdet, kommt ihnen jedoch erhebliche Bedeutung zu (RS0023793; RS0023410 [T2]).
[14] Nach der FIS Regel 1 (Rücksichtnahme auf die anderen Schifahrer und Snowboarder) und schon nach allgemeinen Grundsätzen muss sich jeder Schifahrer stets so verhalten, dass er keinen anderen gefährdet oder schädigt. Dieser Grundsatz wird durch die weiteren FISRegeln präzisiert (8 Ob 125/24a [Rz 4]). Nach FIS Regel 2 (Beherrschung der Geschwindigkeit und der Fahrweise) muss jeder Schifahrer auf Sicht fahren und seine Geschwindigkeit und seine Fahrweise seinem Können und den Gelände-, Schnee- und Witterungsverhältnissen sowie der Verkehrsdichte anpassen. Nach FIS Regel 3 (Wahl der Fahrspur) muss der von hinten kommende Schifahrer seine Fahrspur so wählen, dass er vor ihm fahrende Schifahrer nicht gefährdet.
[15] 3. Entgegen der Argumentation der Klägerinkam ihr, als sie auf der Piste Nr 2 in Richtung der Talstationen der F*- und I*bahn fuhr, nicht schon deshalb ein Vorrang vor jenen Schifahrern zu, die – wie der Beklagte – von der oberhalb gelegenen Geländekante auf diese Piste einfuhren oder diese kreuzten, weil es sich bei der Piste Nr 2 in diesem Bereich um die alleinige Zufahrt zu dieser Talstation handle. Da nach den Feststellungen auch von dieser Geländekante zahlreiche Schifahrer auf die Piste Nr 2 einfahren bzw diese kreuzen, kann entgegen ihrem Standpunkt auch von keinem „Hauptverkehrsstrom“ auf der Piste Nr 2 ausgegangen werden, sodass dahingestellt bleiben kann, ob sich aus dem Fahren in einem „Hauptverkehrsstrom“ per se ein Vorrang gegenüber anderen – nicht dort fahrenden – Schifahrern ergäbe. Auch auf ihr Argument, wonach hier ein dem Verhältnis zwischen Haupt- und Nebenfahrbahn im Straßenverkehr vergleichbares Vorrangverhältnis zu beurteilen wäre, muss daher nicht eingegangen werden (vgl im Übrigen 1 Ob 16/12b, wonach die Vorrangregeln der StVO für Schipisten grundsätzlich nicht gelten).
[16] 4. Die Klägerin trifft kein zu einer Schadensteilung führendes Mitverschulden am Unfall.
[17]4.1. Nach ständiger Rechtsprechung ist der Vorrang des vorderen und langsameren Schifahrers gegenüber dem hinteren, schnelleren Schifahrer eine klar erkennbare, der Natur des Schilaufs entsprechende und allgemein anerkannte Verhaltensregel (RS0023404). Wer eine Piste nicht quert (sondern – auch in Schwüngen – talwärts fährt), ist daher nicht verpflichtet die Piste nach oben zu beobachten und auf von dort kommende Schiläufer Rücksicht zu nehmen (8 Ob 125/24a [Rz 5]). Da der Vertrauensgrundsatz auch beim Schifahren gilt (RS0023645), darf der voranfahrende Schifahrer davon ausgehen, dass nachfolgende Schifahrer seinen Vorrang beachten und ihm für alle seine Bewegungen genügend Raum lassen (8 Ob 125/24a [Rz 8]). Der von oben kommende Schifahrer muss nach der FISRegel 3 seine Fahrspur und seine Geschwindigkeit so wählen, dass er den vor ihm Fahrenden nicht gefährdet (6 Ob 269/00b).
[18] 4.2. Hier hat der Beklagte die Klägerin zwar nicht auf derselben Piste von oben überholt. Er näherte sich ihr aber, worauf sie in ihrer Revision zutreffend hinweist, von einer oberhalb der von ihr benutzten Piste gelegenen Stelle (auf einer in diese einmündenden bzw diese kreuzenden anderen Piste) mit merklich höherer Geschwindigkeit. Es wäre daher primär an ihm gelegen, seine Fahrweise so anzupassen, dass er mit der weiter unten und deutlich langsamer fahrenden Klägerin nicht zusammenstößt. Nach den erstinstanzlichen Feststellungen blickte er bei seiner Annäherung an die weiter unten gelegene und von der Klägerin benutzte Piste, die er in Richtung H* queren wollte, aber nicht (in seine Fahrtrichtung gesehen) nach vorne (und unten), sondern seitlich in Richtung eines anderen Schifahrers, dem er zuvor ausgewichen war. Aus diesem Grund kollidierte er – ohne dass er zuvor eine (Ausweich )Reaktion gesetzt hätte – mit der Klägerin. Indem er den Verkehr auf jener Piste, die er (von seitlich oben kommend) kreuzen wollte, vor der Kollision mit der Klägerin gar nicht beobachtet hat, sodass er auf den drohenden Zusammenstoß mit dieser auch nicht mehr reagieren konnte, ist ihm ein erheblicher Sorgfaltsverstoß anzulasten.
[19] 4.3. Auch die Klägerinwar bei Annäherung an die besonders unfallträchtige („neuralgische“) Kreuzung der Piste Nr 2 mit der von der oberhalb gelegenen Geländekante herführenden Piste grundsätzlich zur Vorsicht gehalten, handelt es sich bei Pistenkreuzungen doch generell um Bereiche, bei denen die Gefahr eines Schiunfalls größer ist als im sonstigen Pistenverlauf (1 Ob 219/05w). Sie blickte (im Bereich dieser Pistenkreuzung) aber ohnehin nach oben in Richtung jener Geländekante, von welcher der Beklagte losfuhr, und nahm diesen auch (kurz nach seinem Losfahren noch in gefahrloser Distanz) wahr. Danach bemerkte sie ihn erst wieder (von der Seite kommend) unmittelbar vor der Kollision „aus dem Augenwinkel“. Dass sie den von oben – von der steileren Piste mit höherer Geschwindigkeit und aufgrund seiner Rechts- und Linksschwünge mit mehreren Richtungswechseln – auf sie zufahrenden Beklagten nicht ständig im Blick behielt, könnte ihr aber auch im Hinblick auf die im Kreuzungsbereich gesteigerten Sorgfaltsanforderungen nur als ganz geringfügiger Sorgfaltsverstoß angelastet werden.
[20] 4.4. Für die Verschuldensabwägungkommt es vor allem auf die Größe und Wahrscheinlichkeit der durch das schuldhafte Verhalten bewirkten Gefahren, auf die Wichtigkeit der verletzten Vorschrift für die Sicherheit des Verkehrs sowie auf den Grad der Fahrlässigkeit der Verkehrsteilnehmer an (RS0027466; RS0027389), wobei auch zu berücksichtigen ist, welcher Teil das primär unfallauslösende Verhalten setzte (RS0027466 [T5]). Nach ständiger Rechtsprechung hebt ein weit überwiegendes Verschulden des Schädigers die Haftung des anderen Teils gänzlich auf (RS0027202).
[21] Im vorliegenden Fall wiegt der Aufmerksamkeitsfehler des deutlich schneller und von oben (von einer steileren Piste) kommenden Beklagten, der seinen Blick bei dem von ihm beabsichtigten Kreuzen der von der Klägerin benutzten (flacheren) Piste lediglich in Fahrtrichtung geradeaus richten hätte müssen, um diese wahrzunehmen und eine Kollision mit ihr zu verhindern, und der mit seiner schnelleren und aufgrund mehrfacher Richtungswechsel schwerer abzuschätzenden Fahrweise das primär unfallauslösende Verhalten gesetzt hat, wesentlich schwerer, als ein allfälliger – bloß geringfügiger – Aufmerksamkeitsfehler der Klägerin, die ohnehin auf die seitlich oberhalb (von der Geländekante) in ihre Richtung abfahrenden Schifahrer achtete und es lediglich unterließ, laufend in diese (seitliche) Richtung zu blicken. Entgegen der Beurteilung des Berufungsgerichts kann ihr daher kein ins Gewicht fallendes Mitverschulden am Unfall vorgeworfen werden.
5. Ergebnis
[22] 5.1. Davon ausgehend ist der Revision der Klägerin Folge zu geben und die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass das Urteil des Erstgerichts – das im Umfang der Abweisung eines Teils des Zahlungsbegehrens in Rechtskraft erwuchs und hinsichtlich der Höhe des Zahlungszuspruchs (auch hinsichtlich der Zinsen) unbekämpft blieb – einschließlich seiner Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.
[23] 5.2. Dem Erstgericht unterlief in seinem Urteilsspruch allerdings insoweit ein – wie sich aus der Urteilsbegründung ergibt – offenbarer Schreibfehler, als es dort in Punkt 1 und 3a anstatt (irrtümlich) 28.9 7 2,73 EUR richtigerweise 28.9 92,73 EUR zu lauten hat. Dies ist auch in höherer Instanz von Amts wegen zu berichtigen (RS0041527).
[24]6. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens sowie des Berufungsverfahrens, für das die Kostenentscheidung neu zu fassen ist, beruht auf § 41 iVm § 50 Abs 1 ZPO.
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