JudikaturOGH

10ObS67/25p – OGH Entscheidung

Entscheidung
16. September 2025

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hargassner als Vorsitzenden sowie den Vizepräsidenten Hon. Prof. PD Dr. Rassi, den Hofrat Dr. Annerl und die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Dr. Martin Neuwirth und Dr. Alexander Neurauter, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 24. April 2025, GZ 9 Rs 37/25i 53, mit dem das Urteil des Arbeits und Sozialgerichts Wien vom 23. April 2024, GZ 35 Cgs 86/23b 30, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1] Der * 1972 geborene Kläger war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 10. 2022) nicht in zumindest 90 Versicherungsmonaten in einem erlernten oder angelernten Beruf oder als Angestellter tätig.

[2] Der Kläger ist nach dem im Ersturteil näher festgestellten Leistungskalkül in seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt.

[3] Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind dem Kläger noch bestimmte, im Ersturteil (auch hinsichtlich des Anforderungsprofils) näher festgestellte Hilfsarbeitertätigkeiten zumutbar, die in ausreichender Anzahl (mehr als 100 Stellen) vorhanden sind.

[4] Mit Bescheid vom 9. 5. 2023 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 21. 9. 2022 auf Invaliditätspension ab. Weiters wurde ausgesprochen, dass auch keine vorübergehende Invalidität im Ausmaß von zumindest sechs Monaten vorliege und kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung sowie auf medizinische oder berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe.

[5] Der (im Verfahren erster Instanz unvertretene) Kläger begehrte erkennbar die Zuerkennung einer Invaliditätspension ab Antragstellung unter Hinweis auf seine Krankheiten und seinen andauernden Krankenstand.

[6] Die Beklagte bestritt.

[7] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Kläger sei ausgehend vom festgestellten Leistungskalkül noch in der Lage, die mit über 100 Dienstposten ausgestatteten Verweisungstätigkeiten durchzuführen. Es bestehe daher weder dauerhafte noch vorübergehende Invalidität.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es bestätigte das angefochtene Urteil mit der Maßgabe, dass es um folgende Aussprüche zu ergänzen ist: „Vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten liegt nicht vor. Es besteht kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung. Es besteht kein Anspruch auf medizinische oder berufliche Maßnahmen der Rehabilitation.“ Das Berufungsgericht verneinte das Vorliegen von Nichtigkeitsgründen und Verfahrensmängeln. Hinsichtlich des geltend gemachten Berufsschutzes verneinte es das Vorliegen von sekundären Feststellungsmängeln unter Hinweis auf die getroffenen Feststellungen. Zur Krankenstandsprognose – wozu das Erstgericht keine Feststellungen traf – führte es aus, dass die begehrte Feststellung nicht erkennen lasse, ob der Kläger diese Schwelle erreiche. Außerdem sei dieser Aspekt des Leistungskalküls von allen medizinischen Sachverständigen dahin beurteilt worden, dass Krankenstände in der Zukunft nicht zu erwarten oder nicht zu prognostizieren seien. Da es für die Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit ausreichend sei, das Leistungskalkül des Klägers in seinen Einschränkungen, somit im Vergleich zu einem uneingeschränkten Versicherten darzustellen, habe „vor dem Hintergrund der übereinstimmenden Gutachten“ nicht ausdrücklich auf die Krankenstandprognose eingegangen werden müssen.

[9] Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu.

[10] In der außerordentlichen Revision beantragt der Kläger die Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinn einer Stattgabe des Klagebegehrens; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[11] Die Beklagte hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die Revision ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

[13] 1. Der Kläger rügt in der Revision zunächst, dass keine Feststellungen darüber vorliegen, welchen Beruf er erlernt und in welchen Beschäftigungsverhältnissen er gearbeitet habe.

[14] 1.1.Dem hielt bereits das Berufungsgericht die erstgerichtlichen Feststellungen entgegen, wonach der Kläger seit 2001 ungelernte Arbeiten ausgeübt habe und nicht 90 Pflichtversicherungsmonate in einem erlernten oder angelernten Beruf oder als Angestellter erworben habe. Diesen Feststellungen lässt sich entnehmen, dass der Kläger in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag weder in erlernten noch angelernten Berufen tätig war. Entgegen der Behauptung des Klägers in der Revision liegen daher auch Feststellungen vor, die die Beurteilung der (nicht erfolgten) Anlernung eines Berufes im Sinn des § 255 Abs 1 ASVG ermöglichen. Wenn zu einem bestimmten Thema Tatsachenfeststellungen getroffen wurden, mögen diese auch von den Vorstellungen des Rechtsmittelwerbers abweichen, können diesbezüglich auch keine rechtlichen Feststellungsmängel erfolgreich geltend gemacht werden ( RS0053317 [T1]).

[15] 1.2. Da ein Berufsschutz schon aufgrund der getroffenen Feststellungen nicht in Betracht kommt, ist die in der Revision weiters aufgeworfene Frage, in welchen Beschäftigungsverhältnissen der Kläger gearbeitet hat, für die rechtliche Beurteilung nicht wesentlich, sodass auch diesbezüglich kein sekundärer Feststellungsmangel zu erkennen ist ( RS0053317 ).

[16] 2. Der Kläger macht in der Revision überdies geltend, dass sich den Feststellungen des Erstgerichts keine Krankenstandsprognose entnehmen lasse. Zum Zeitpunkt seiner Antragstellung habe er sich seit sieben Monaten in Krankenstand befunden und er sei auch noch bei Einbringung der Klage im Krankenstand gewesen, sodass das Erstgericht allein aufgrund dieses Umstands dazu verpflichtet gewesen wäre, Feststellungen zu einer Krankenstandsprognose zu treffen. Das Berufungsgericht habe die Frage eines Ausschlusses vom Arbeitsmarkt aufgrund der festgestellten Einschränkungen des Leistungskalküls unrichtig als abschließend beurteilt angesehen.

[17] 2.1. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Versicherter vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, wenn in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit und trotz zumutbarer Krankenbehandlung leidensbedingte Krankenstände in einer Dauer von sieben Wochen und darüber im Jahr zu erwarten sind ( RS0113471 ). Für die Beurteilung der Frage, ob der Versicherte – wie der Kläger im Verfahren erster Instanz erkennbar behauptete – vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist, ist daher (auch) die Krankenstandsprognose maßgebend (vgl RS0084429 [T16]). Grundsätzlich sind somit klare Feststellungen über die wirkliche Dauer von mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartender Krankenstände zu treffen ( RS0084429 [T22]).

[18] 2.2. Den Ausführungen des Berufungsgerichts lässt sich in diesem Punkt nicht deutlich entnehmen, ob es dem Kläger vorhielt, dass er die von ihm in diesem Zusammenhang begehrten Feststellungen in der Berufung nicht bezeichnet habe, oder ob es die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen (zu den Einschränkungen des Leistungskalküls) so verstand, dass darin auch die in der Berufung vermisste Krankenstandsprognose enthalten sei. Darauf kommt es aber nicht entscheidend an.

[19] 2.2.1. Eine Beurteilung des Berufungsgerichts, dass es auf eine in der Berufung begehrte Feststellung ankäme, wäre schon grundsätzlich verfehlt. Der Kläger machte in der Berufung – unter Hinweis auf die oben referierte Rechtsprechung – geltend, dass aufgrund seiner Erkrankungen damit zu rechnen sei, dass es zu länger dauernden Krankenständen kommen könne, das Erstgericht dazu keine Feststellungen getroffen habe und es zu einem Ausschluss vom Arbeitsmarkt gekommen wäre, wenn es die Feststellung getroffen hätte, dass mit Krankenständen von mehr als sieben Wochen zu rechnen sei. Damit machte er einen sekundären Feststellungsmangel geltend, der der Rechtsrüge zuzuordnen ist ( RS0042319 [T1]) und vom Berufungsgericht bei Vorliegen einer gesetzmäßig ausgeführten Rechtsrüge (in diesem Punkt) sogar von Amts wegen wahrzunehmen gewesen wäre ( RS0114379 ). Dass das Berufungsgericht die Rechtsrüge der Berufung in irgendeiner Hinsicht als nicht gesetzmäßig ausgeführt ansah, lässt sich der Begründung des Berufungsgerichts (zutreffend) nicht entnehmen. Hier bedurfte es daher – anders als im Fall einer Beweisrüge ( RS0041835 ) – keiner Bezeichnung der (anstelle einer nicht getroffenen) „begehrten Feststellung“. Unabhängig davon ließe sich der Berufung mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, dass der Kläger die Feststellung von zu erwartenden Krankenständen von mehr als sieben Wochen pro Jahr anstrebt.

[20] 2.2.2.Bei der Auffassung des Berufungsgerichts, dass die festgestellten Einschränkungen des Leistungskalküls auch eine Krankenstandsprognose enthielten und daher nicht ausdrücklich auf die zu erwartenden Krankenstände einzugehen gewesen wäre, würde es sich zwar um eine Auslegung der Urteilsfeststellungen durch das Berufungsgericht handeln, die wegen ihrer Einzelfallbezogenheit regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO darstellt ( RS0118891 ). Dies gilt allerdings nur, solange keine unvertretbare Fehlbeurteilung vorliegt ( RS0118891 [T5, T10]). Die geschilderte Auffassung des Berufungsgerichts würde jedoch eine derartige unvertretbare Fehlbeurteilung darstellen, weil sich aus den Feststellungen, welche Tätigkeiten der Kläger mit welchen Einschränkungen vornehmen kann, schlicht nicht ergibt, ob und gegebenenfalls in welcher Dauer – bei Einhaltung dieses Leistungskalküls – mit leidensbedingten Krankenständen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu rechnen ist. Die hier nach der Beurteilung des Berufungsgerichts zu den zu erwartenden Krankenständen vorhandenen Beweisergebnisse (die gutachterlichen Stellungnahmen dazu) könnten allenfalls bei der Auslegung unklarer Feststellungen berücksichtigt werden, die hier schlechthin fehlenden Feststellungen (das Ersturteil enthält – bis auf die Wiedergabe des diesbezüglichen erstinstanzlichen Vorbringens des Klägers – keinerlei Ausführungen zu Krankenständen) aber nicht ersetzen.

[21] 2.3. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, es habe keine Veranlassung dazu bestanden, die vom Kläger vermissten Feststellungen über die zu erwartenden leidensbedingten Krankenstände zu treffen, beruht daher – wie der Kläger in der Revision zutreffend geltend macht – jedenfalls auf einer wesentlichen Verkennung der Rechtslage die zur Wahrung der Rechtssicherheit aufzugreifen ist ( RS0042769 ). Tatsächlich sind zur abschließenden Beurteilung der Berechtigung des Klagebegehrens Feststellungen über die bei Einhaltung des festgestellten Leistungskalküls zu erwartenden leidensbedingten Krankenstände erforderlich.

[22] 3.1. Infolge der genannten sekundären Feststellungsmängel ist die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen unvermeidlich. Ob das Erstgericht das Verfahren vor Fassung einer neuerlichen Entscheidung ergänzt oder die zur Krankenstandsprognose vorhandenen Beweisergebnisse (vgl ON 6 Seite 7, ON 9 Seite 4, ON 15 Seite 3, ON 23 Seite 11) als ausreichend ansieht, obliegt seiner Beurteilung.

[23] 3.2.Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.