19Ob3/25t – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Brenn als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Weixelbraun Mohr sowie die Anwaltsrichter Dr. Buresch und Mag. Stolz als weitere Richter in der Rechtssache der Antragstellerin Dr. K* P*, Deutschland, und *, vertreten durch Dr. Johannes P. Willheim, Rechtsanwalt in 1140 Wien, *, und c/o Jones Day, *, Deutschland, wegen Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter, über die Berufung der Antragstellerin gegen den Bescheid des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Wien (Plenum) vom 6. September 2022, AZ 1843/2022, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
I. Das mit Beschluss vom 16. Oktober 2023, 19 Ob 3/23i, gemäß § 90a GOG ausgesetzte Berufungsverfahren wird fortgesetzt.
II. Der Berufung wird Folge gegeben. Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben und die Rechtssache an den Ausschuss der Rechtsanwaltskammer Wien (Plenum) zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.
Text
Begründung:
Zu I.:
[1]Mit Beschluss vom 16. Oktober 2023, 19 Ob 3/23i, legte der Senat die hier klärungsbedürftige Frage zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer dem Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: EuGH) zur Vorabentscheidung vor und setzte das Berufungsverfahren bis zum Einlangen der Vorabentscheidung aus. Mit Urteil vom 3. April 2025 hat der EuGH die Vorabentscheidung getroffen. Das Berufungsverfahren ist daher nunmehr fortzusetzen.
Zu II.:
1. Sachverhalt und bisheriges Verfahren:
[2] Die Berufungswerberin stellte am 14. Jänner 2022 bei der Rechtsanwaltskammer Wien (im Folgenden: RAK Wien) den Antrag auf Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter und auf Ausstellung einer Legitimationsurkunde. Zusammengefasst brachte sie vor, dass sie im Frankfurter Büro einer Rechtsanwaltskanzlei nach dem Recht des US-Bundesstaats Ohio mit Sitz in Cleveland tätig sei. Ihr Ausbildungsanwalt sei ein österreichischer Rechtsanwalt. Ihre Tätigkeit beziehe sich ausschließlich auf österreichisches Recht einschließlich europäischer Rechtsquellen. Ihr Ausbildungsanwalt berate österreichische und ausländische Mandanten im österreichischen Recht und vertrete diese vor österreichischen Behörden und Gerichten. Sie habe durchschnittlich mehrmals wöchentlich Kontakt mit österreichischen Behörden und Gerichten zur Vertretung der Mandanten ihres Ausbildungsanwalts.
[3] Mit Bescheid vom 14. Juni 2022 wies die Abteilung IIades Ausschusses der RAK Wien die Anträge auf Eintragung der Berufungswerberin in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter und auf Erteilung einer Legitimationsurkunde ab. Zwar enthalte § 30 Abs 1 RAO keine örtlichen Vorgaben für die Voraussetzungen zur Eintragung als Rechtsanwaltsanwärter. Allerdings verweise diese Bestimmung auf § 2 Abs 2 RAO, die von einer Tätigkeit als Rechtsanwaltswärter bei einem Rechtsanwalt im Inland ausgehe.
[4] Der dagegen erhobenen Vorstellung gab der Ausschussder RAK Wien (Plenum) mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 6. September 2022 keine Folge und wies den Antrag auf Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter und auf Erteilung der kleinen Legitimationsurkunde gemäß § 15 Abs 3 RAO ab. Die Berufungswerberin erfülle die persönlichen Voraussetzungen für die Eintragung als Rechtsanwaltsanwärterin gemäß § 30 Abs 1 RAO (Studium des Rechts iSd § 3 RAO sowie Staatsbürgerschaftserfordernis). Es lägen auch keine Verweigerungsgründe gemäß § 30 Abs 3 RAO vor. Ihre Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter sei aber abzulehnen, weil Voraussetzung dafür eine Tätigkeit bei einem Rechtsanwalt im Inland sei.
[5] Gegen diesen abweisenden Bescheid des Ausschusses der RAK Wien (Plenum) vom 6. September 2022 richtet sich die rechtzeitige Berufungder Berufungswerberin mit den Anträgen, dem EuGH die Vorlagefrage vorzulegen, ob die Art 45, 49 und 56 AEUV nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die vorsehen, dass Voraussetzung für die Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter die Tätigkeit bei einem Rechtsanwalt im Inland ist, weiters den angefochtenen Bescheid als rechtswidrig aufzuheben und der RAK Wien aufzutragen, die Berufungswerberin rückwirkend für den Zeitraum vom 14. Jänner 2022 bis 31. August 2022 in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter einzutragen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
2. Vorabentscheidungsverfahren zu C 807/23 des EuGH:
[6]Mit Beschluss vom 16. Oktober 2023, 19 Ob 3/23i (AnwBl 2024, 330, [ Buresch ]), ersuchte der Senat den EuGH um Vorabentscheidung folgender Frage:
„Ist Art 45 AEUV über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer dahin auszulegen, dass diese Bestimmung nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, wonach als Voraussetzung für die Eintragung in die Liste der österreichischen Rechtsanwaltsanwärter ein Teil der praktischen Verwendung (Ausbildungszeit) eines Berufsanwärters zwingend als Rechtsanwaltsanwärter bei einem Rechtsanwalt in Österreich, also im Inland, zu verbringen ist ('Kernzeit'), während für diesen Teil der praktischen Verwendung (Ausbildungszeit) eine Tätigkeit bei einem Rechtsanwalt in einem anderen EU-Mitgliedstaat nicht ausreichend ist, auch wenn diese Tätigkeit dort unter der Aufsicht eines in Österreich zugelassenen Rechtsanwalts im Bereich des österreichischen Rechts erfolgt? “
[7] Mit Urteil vom 3. April 2025, C 807/23, Jones Day , beantwortete der EuGH die Vorlagefrage wie folgt:
„Art 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein bestimmter Teil einer praktischen Verwendung, die für den Zugang zum Rechtsanwaltsberuf erforderlich ist und während derer der Rechtsanwaltsanwärter über eine gewisse Vertretungsbefugnis vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats verfügt, bei einem in diesem Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt zu absolvieren ist und nach der die Absolvierung dieser praktischen Verwendung bei einem in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt auch dann ausgeschlossen ist, wenn dieser Rechtsanwalt in ersterem Mitgliedstaat zugelassen ist und die im Rahmen der praktischen Verwendung ausgeübten Tätigkeiten das Recht des ersteren Mitgliedstaats betreffen, so dass es den betroffenen Juristen somit auch nicht erlaubt ist, diesen Teil der praktischen Verwendung in einem anderen Mitgliedstaat unter der Bedingung zu absolvieren, dass sie den zuständigen nationalen Behörden gegenüber nachweisen, dass dieser Teil der Verwendung, so wie er absolviert wird, ihnen eine Ausbildung und Erfahrung bieten kann, die mit jener Ausbildung und Erfahrung vergleichbar ist, die eine praktische Verwendung bei einem in ersterem Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt bietet. “
[8]Aus der Entscheidung des EuGH folgt, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats, nach der ein bestimmter Teil der für den Zugang zum Rechtsanwaltsberuf erforderlichen praktischen Verwendung bei einem in diesem Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt absolviert werden muss, eine Beschränkung der durch Art 45 AEUV garantierten Arbeitnehmerfreizügigkeit bewirkt, zumal sie geeignet ist, die Ausübung dieser Freizügigkeit zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, indem sie für diese Unionsbürger die Möglichkeit beschränkt, ihre berufliche Tätigkeit als Rechtsanwaltsanwärter bei einem in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt auszuüben (Rn 33). Der EuGH anerkennt zwar, dass die in Rede stehende Regelung die Ziele des Schutzes der Empfänger juristischer Dienstleistungen und einer geordneten Rechtspflege verfolgt und diese Ziele als zwingende Gründe des Allgemeininteresses angesehen werden und eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit rechtfertigen können (Rn 36). Er vertritt jedoch die Auffassung, dass die Voraussetzung, wonach ein Jurist einen bestimmten Teil der praktischen Verwendung bei einem im betreffenden Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt zu absolvieren hat, über das hinausgeht, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist (Rn 39). Als weniger einschneidende Maßnahme zur Erreichung dieser Ziele komme nämlich in Betracht, den zuständigen nationalen Behörden gegenüber nachzuweisen, dass die praktische Verwendung von Juristen bei einem in Österreich eingetragenen, aber in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt vergleichbare Erfahrungen ermöglicht wie eine praktische Verwendung bei einem Rechtsanwalt in Österreich (Rn 40). Die Rechtsanwaltskammern könnten zur Überprüfung zunächst den Rechtsanwaltsanwärter und seinen Ausbildungsanwalt vorladen, um Erläuterungen zur Durchführung der praktischen Verwendung einzuholen; gegebenenfalls können sie auch die Unterbrechung der praktischen Verwendung anordnen oder ihre Anrechnung versagen, sollte der Vorladung keine Folge geleistet werden (Rn 43).
3. Rechtliche Beurteilung:
Der Oberste Gerichtshof hat über die Berufung erwogen:
Rechtliche Beurteilung
[9] Aufgrund der (Vorab )Entscheidung des EuGH steht der Berufungswerberin der Beweis offen, dass ihre Ausbildung bei einem (auch) in Österreich eingetragenen Rechtsanwalt, der im Ausland (konkret in Deutschland) seinen Sitz bzw seine Niederlassung hat, ihr vergleichbare Erfahrungen vermittelt hat wie eine praktische Verwendung bei einem Rechtsanwalt in Österreich. Sie hat dazu im Eintragungsverfahren vor der RAK Wien zwar eine Aufstellung über die von ihr in der Kanzlei ihres in Deutschland niedergelassenen Ausbildungsanwalts geleisteten Tätigkeiten vorgelegt (ON 66). Nach Auffassung des erkennenden Senats bietet diese Aufstellung aber keine ausreichende Grundlage für die erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen zur Vergleichbarkeit der Ausbildung und der erworbenen Berufserfahrungen.
[10] Es wird daher Sache des Ausschusses sein, im fortgesetzten Verfahren anhand geeigneter Nachweise die Richtigkeit und Vollständigkeit der zugrunde liegenden Behauptungen der Berufungswerberin zu überprüfen, etwa durch den Auftrag zur Vorlage von der Berufungswerberin für ihren ehemaligen Ausbildungsanwalt ausgearbeiteter Recherchen, Verträge, Schriftsätze, Besprechungsnotizen und/oder Korrespondenz sowie allenfalls durch neuerliche Einvernahme der Berufungswerberin und ihres ehemaligen Ausbildungsanwalts. Aufgrund der gewonnen Beweisergebnisse wird der Ausschuss Feststellungen über Gegenstand und Umfang der absolvierten Ausbildung der Berufungswerberin im österreichischen Recht zu treffen und auf dieser Grundlage zu beurteilen haben, ob die Berufungswerberin durch diese Ausbildung vergleichbare Erfahrungen erworben hat, wie dies durch die praktische Verwendung bei einem Rechtsanwalt im Inland der Fall gewesen wäre.
[11]Da für die weitere Erledigung die Durchführung eines Ermittlungsverfahrens erforderlich ist, wird diese vom Ausschuss (Plenum) und nicht von einer Abteilung des Ausschusses der RAK Wien zu erfolgen haben (§ 26 Abs 2 Satz 2, letzter Halbsatz RAO; vgl VfGH 10. 3.2020, G 151/2019, VfSlg 20377; VwGH 13. 3. 2024, Ra 2022/03/0285) .
4. Zum Verfahrensgegenstand:
[12] Die Berufungswerberin hat am 1. September 2022 der RAK Wien ihren Austritt aus der Kanzlei ihres Ausbildungsanwalts mit Ablauf des 31. August 2022 angezeigt. Gegenstand des weiteren Verfahrens wird daher nur mehr die Frage sein, ob die Voraussetzungen für ihre Eintragung als Rechtsanwaltsanwärterin (und damit für die Anerkennung als Kernzeit) im Zeitraum zwischen 14. Jänner 2022 und 31. August 2022 vorlagen.
[13] Der Antrag der Berufungswerberin auf Ausstellung einer Legitimationsurkunde ist mangels eines entsprechenden Berufungsantrags nicht mehr Gegenstand des Verfahrens, wobeidie Frage der Verweigerung der Ausstellung einer Legitimationsurkunde vor dem Obersten Gerichtshof auch nicht aufgreifbar wäre (vgl OBDK 10. 6. 1991, Bkv 2/91 [taxative Aufzählung des § 30 Abs 4 RAO]; B. Fink in Murko/Nunner-Krautgasser[Hrsg], Anwaltliches und notarielles Berufsrecht, § 31 RAO Rz 4 [Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht]; 19 Ob 1/23w).