JudikaturOGH

19Ob3/23i – OGH Entscheidung

Entscheidung
16. Oktober 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Weixelbraun Mohr sowie die Anwaltsrichter Dr. Buresch und Dr. Klaar als weitere Richter in der Rechtssache der 1. Dr. K* P*, vertreten durch Dr. J* W*, Rechtsanwalt, *, und 2. Dr. J* W*, Rechtsanwalt, *, wegen Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter und Erteilung der kleinen Legitimationsurkunde, über deren Berufungen gegen den Bescheid des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Wien (Plenum) vom 6. September 2022, AZ 1843/2022, nach öffentlicher mündlicher Verhandlung folgenden

Beschluss

gefasst:

Spruch

1. Die Berufung des Zweitberufungswerbers wird zurückgewiesen.

2. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art 45 AEUV über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer dahin auszulegen, dass diese Bestimmung nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, wonach als Voraussetzung für die Eintragung in die Liste der österreichischen Rechtsanwaltsanwärter ein Teil der praktischen Verwendung (Ausbildungszeit) eines Berufsanwärters zwingend als Rechtsanwaltsanwärter bei einem Rechtsanwalt in Österreich, also im Inland, zu verbringen ist („Kernzeit“), während für diesen Teil der praktischen Verwendung (Ausbildungszeit) eine Tätigkeit bei einem Rechtsanwalt in einem anderen EU-Mitgliedstaat nicht ausreichend ist, auch wenn diese Tätigkeit dort unter der Aufsicht eines in Österreich zugelassenen Rechtsanwalts im Bereich des österreichischen Rechts erfolgt?

3. Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof über die Berufung der Erstberufungswerberin wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.

Text

Begründung:

I. Sachverhalt und bisheriges Verfahren:

[1] Die Erstberufungswerberin stellte mit E Mail vom 14. Jänner 2022 bei der Rechtsanwaltskammer (RAK) Wien den Antrag auf Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter sowie auf Ausstellung einer kleinen Legitimationsurkunde gemäß § 15 Abs 3 RAO. Beigeschlossen war ein vom Zweitberufungswerber als Ausbildungsanwalt unterfertigtes Antragsformular.

[2] Über Aufforderung der RAK Wien teilte die Erstberufungswerberin dieser mit Schreiben vom 7. März 2022 unter anderem Folgendes mit:

- Ihr Dienstgeber sei J* D*.

- Ihr Ausbildungsanwalt, der Zweitberufungswerber, sei österreichischer Rechtsanwalt und Partner bei J* D* in deren Frankfurter Büro. Er sei für ihre Ausbildung zuständig und zu diesem Zweck bezüglich österreich rechtlicher Erledigungen alleine weisungsberechtigt.

- Ihre Tätigkeit beziehe sich ausschließlich auf österreichisches Recht (inklusive europäischer Rechtsquellen). Ihr Ausbildungsanwalt berate österreichische und ausländische Mandanten von J* D* im österreichischen Recht und vertrete diese vor österreichischen Behörden sowie Gerichten. Sie habe durchschnittlich mehrmals wöchentlich Kontakt mit österreichischen Behörden und Gerichten zur Vertretung der Mandanten ihres Ausbildungsanwalts.

[3] Übermittelt wurde auch ihr Anstellungsvertrag mit J* D*. Danach ist ihr Arbeitsort Frankfurt am Main; dieser unterliegt den Bestimmungen des deutschen BGB und der deutschen BRAO.

[4] Mit Schreiben vom 20. April 2022 legte der Zweitberufungswerber unter anderem eine Übersichtsliste über die im Zeitraum vom 1. Jänner bis 14. April 2022 von der Erstberufungswerberin geleisteten Arbeiten auf dem Gebiet des österreichischen Rechts vor.

[5] Am 21. April 2022 fand im Wege einer Videokonferenz eine Anhörung des Zweitberufungswerbers vor der zuständigen Abteilung der RAK Wien statt, bei welcher der Zweitberufungswerber die Umstände seiner Übersiedlung von Wien nach Frankfurt am Main darlegte und insbesondere erläuterte, dass von ihm über Empfehlung der damaligen Abteilungsleiterin der Mitgliederverwaltung der RAK Wien eine Abwesenheitsmeldung nach § 14 RAO erstattet wurde.

[6] Mit Bescheid vom 14. Juni 2022 wies die zuständige Abteilung der RAK Wien die Anträge auf Eintragung der Erstberufungswerberin in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter und auf Erteilung der „großen Legitimationsurkunde gemäß § 15 RAO“ (richtig: der kleinen Legitimationsurkunde gemäß § 15 Abs 3 RAO) ab. Zwar enthalte § 30 Abs 1 RAO keine örtlichen Vorgaben über die Voraussetzungen der Eintragung als Rechtsanwaltsanwärter. Allerdings verweise die Bestimmung auf § 2 Abs 2 RAO, welche von einer Tätigkeit als Rechtsanwaltswärter bei einem Rechtsanwalt im Inland ausgehe.

[7] Der dagegen erhobenen Vorstellung gab der Ausschuss der RAK Wien (Plenum) mit dem angefochtenen Bescheid vom 6. September 2022 keine Folge und wies den Antrag auf Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter und auf Erteilung der kleinen Legitimationsurkunde gemäß § 15 Abs 3 RAO ab.

[8] Schon zuvor, am 1. September 2022, zeigte der Zweitberufungswerber namens J* D* der RAK Wien den Austritt der Erstberufungswerberin mit Ablauf des 31. August 2022 an.

[9] Nach den (insoweit unbekämpften) Feststellungen dieses Bescheids sei der Zweitberufungswerber Partner von J* D*, einer unbeschränkten Partnerschaft nach dem Recht des US Bundesstaats Ohio mit dem Sitz in Cleveland. Er sei Prüfungskommissär für die Rechtsanwaltsprüfung aus dem Stand der Rechtsanwälte und leiste auch Verfahrenshilfen. Neben seinem Tätigkeitsort in Frankfurt am Main befinde sich sein derzeitiger Kanzleisitz in Wien. Seit 15. November 2016 sei er aufgrund eines dauerhaften Auslandsaufenthalts als abwesend gemeldet und habe eine andere österreichische Rechtsanwältin als Substitutin gemäß § 14 RAO namhaft gemacht.

[10] Die Erstberufungswerberin erfülle die persönlichen Voraussetzungen für die Eintragung als Rechtsanwaltsanwärterin gemäß § 30 Abs 1 RAO (Studium des Rechts iSd § 3 RAO sowie Staatsbürgerschaftserfordernis). Es lägen auch keine Verweigerungsgründe gemäß § 30 Abs 3 RAO vor.

[11] Ihr Dienstverhältnis bestehe nicht mit dem Zweitberufungswerber, sondern mit J* D* in Frankfurt am Main.

[12] Ihre Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter wurde abgelehnt, weil Voraussetzung dafür eine Tätigkeit bei einem Rechtsanwalt im Inland sei.

Rechtliche Beurteilung

[13] Gegen den abweisenden Bescheid des Ausschusses der RAK Wien (Plenum) vom 6. September 2022 richtet sich die rechtzeitig eingebrachte Berufung der Berufungswerber, welche diesen Bescheid „zur Gänze“ anfechten, verbunden mit den Anträgen, dem EuGH die Vorlagefrage vorzulegen, ob die Art 45, 49 und 56 AEUV nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die vorsehen, dass Voraussetzung für die Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter die Tätigkeit bei einem Rechtsanwalt im Inland ist, weiters den Bescheid als rechtswidrig aufzuheben und der RAK Wien aufzutragen, die „Erstvorstellungswerberin“ rückwirkend für den Zeitraum vom 14. Jänner 2022 bis 31. August 2022 in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter einzutragen. Hilfsweise wird der Antrag gestellt, der RAK Wien aufzutragen, ergänzende Feststellungen zu treffen. Schließlich wird beantragt, der RAK Wien den Ersatz der Eingabengebühr aufzutragen.

[14] Geltend gemacht werden fehlende entscheidungswesentliche Sachverhaltsfeststellungen, die unrichtige rechtliche Beurteilung der Eintragungsvoraussetzungen gemäß § 30 RAO, Verstöße gegen Unionsrecht (Arbeitnehmerfreizügigkeit, in eventu Niederlassungsfreiheit der Erstberufungswerberin, Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit des Zweitberufungswerbers) sowie Verstöße gegen das Verfassungsrecht (gegen die verfassungsrechtlich gewährleistete Erwerbsfreiheit sowie gegen den Gleichheitsgrundsatz).

II. Rechtliche Beurteilung:

Der Oberste Gerichtshof hat über die Berufung erwogen:

1. Zum Verfahrensgegenstand:

[15] Gegenstand des Verfahrens vor dem Ausschuss waren der Antrag auf Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter und der Antrag auf Ausstellung einer Legitimationsurkunde. Zwar fechten die Berufungswerber den abweisenden Bescheid vom 6. September 2022 „zur Gänze“ an, allerdings zielt ihr Berufungsantrag nur mehr auf die „rückwirkende Eintragung der Erstberufungswerberin für den Zeitraum vom 14. Jänner 2022 bis 31. August 2022 in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter“ ab. Der Oberste Gerichtshof hat daher den angefochtenen Bescheid nur im Rahmen dieses Berufungsantrags zu überprüfen.

[16] Die Legitimationsurkunde gemäß § 15 Abs 4 RAO dient als Nachweis für die Substitutionsberechtigung vor Gerichten und Behörden ( B. Fink in Murko/ Nunner Krautgasser [Hrsg], Anwaltliches und notarielles Berufsrecht, § 15 RAO Rz 5). Die Erstberufungswerberin ist per 31. August 2022 aus der Kanzlei J* D* ausgetreten. Damit hätte eine ihr ausgestellte Legitimationsurkunde ihre Geltung verloren (§ 31 RAO). Die Erstberufungswerberin hätte somit ab 1. September 2022 keinesfalls mehr als substitutionsberechtigte Rechtsanwaltsanwärterin des Zweitberufungswerbers einschreiten können. Daher hatten auch weder die Erstberufungswerberin noch der Zweitberufungswerber ab diesem Zeitpunkt ein rechtliches Interesse an der Ausstellung einer Legitimationsurkunde. Auf die Frage, ob wegen der Verweigerung der Ausstellung einer Legitimationsurkunde durch den Ausschuss Berufung an den Obersten Gerichtshof erhoben werden kann (dies verneinend Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission [OBDK] 10. 6. 1991, Bkv 2/91 mit der Begründung, § 30 Abs 4 RAO, der eine taxative Aufzählung enthalte, sehe dies nicht vor) oder ob dagegen Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht zulässig ist (so B. Fink in Murko/Nunner Krautgasser [Hrsg], Anwaltliches und notarielles Berufsrecht, § 31 RAO Rz 4), ist daher nicht einzugehen.

2. Zur Berufung des Zweitberufungswerbers:

[17] 2.1. Nach der Judikatur der OBDK hat grundsätzlich auch der Rechtsanwalt ein rechtliches Interesse an der Ausstellung einer Legitimationsurkunde für den bei ihm beschäftigten Rechtsanwaltsanwärter. Diese Parteistellung kann aber nur für einen gegenwärtigen und künftigen Zeitraum denkmöglich sein, sich aber nicht auf ein die Vergangenheit betreffendes Vertretungsrecht und die Ausstellung einer hierfür erforderlichen Urkunde beziehen (vgl RIS Justiz RS0112898; OBDK 11. 6. 2007, Bkv 1/07), was beim Obersten Gerichtshof – zutreffend – auch nicht mehr Verfahrensgegenstand ist (s Punkt 1).

[18] 2.2. Ein eigenständiges Interesse an der Eintragung eines auszubildenden Juristen in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter hat der Rechtsanwalt nicht. Eine rückwirkende Anerkennung von Praxiszeiten eines Rechtsanwaltsanwärters als Voraussetzung für dessen Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte ist für den Rechtsanwalt weder rechtlich noch wirtschaftlich von Bedeutung. Mangels eines rechtlichen Interesses des Zweitberufungswerbers an einer Eintragung der Erstberufungswerberin für den bereits vergangenen Zeitraum vom 14. Jänner 2022 bis 31. August 2022 ist der Zweitberufungswerber insoweit nicht beschwert, weshalb sein Rechtsmittel insgesamt als unzulässig zurückzuweisen ist.

[19] 2.3. Für die vom Zweitberufungswerber behaupteten, vermeintlich ihn betreffenden Verstöße gegen die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit, insbesondere deshalb, weil es ihm als österreichischer Rechtsanwalt in Frankfurt am Main unmöglich sei, dort österreichische Rechtsanwaltsanwärter auszubilden, kommt die Einholung einer Vorabentscheidung nicht in Betracht. Diese Fragen sind im Hinblick auf die Zurückweisung des Rechtsmittels des Zweitberufungswerbers nicht entscheidungsrelevant.

3. Zur Berufung der Erstberufungswerberin:

3.1. Zur begehrten rückwirkenden Eintragung:

[20] 3.1.1. Die Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter ist für das Entstehen der Vertretungsbefugnis gemäß § 15 Abs 3 RAO konstitutiv ( B. Fink in Murko/Nunner Krautgasser [Hrsg], Anwaltliches und notarielles Berufsrecht, § 30 RAO Rz 4; OGH 2. 10. 2014, 24 Os 6/14h unter Hinweis auf Ratz , WK StPO § 281 Rz 146 und Achammer , WK StPO § 58 Rz 27). Der Rechtsanwaltsanwärter kann erst dann vor Gerichten und Behörden vertreten, wenn die Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter erfolgt ist ( B. Fink aaO, Rz 5). Die in § 30 Abs 1 letzter Satz RAO erwähnte „Rückwirkung“ auf den Tag des Einlangens der Anzeige bezieht sich nur auf die Anrechnung der Praxiszeit, nicht aber auf das Entstehen der Vertretungsbefugnis ( B. Fink aaO, Rz 4; OGH 2. 10. 2014, 24 Os 6/14h; kritisch zur damaligen Praxis der Ausstellung einer befristeten „Präsentationsrubrik“ OBDK 26. 7. 1999, Bkv 4/99 AnwBl 1999, 788 [ Strigl ]).

[21] 3.1.2. Wird das Vertretungsrecht gemäß § 15 Abs 3 RAO erst ex nunc durch die Eintragung begründet und bezieht sich § 30 Abs 1 letzter Satz RAO nur auf die Anrechnung der Dauer der Praxiszeit, ist dann, wenn der Eintragungswerber zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits wieder aus der Kanzlei ausgetreten ist, für eine rückwirkende Eintragung kein Raum. In dieser Konstellation ist aber das rechtliche Interesse des Eintragungswerbers an der Feststellung anzuerkennen, dass die Voraussetzungen für die Eintragung vorgelegen sind, dies wiederum als Voraussetzung für die Anrechenbarkeit der Praxiszeit (so auch schon OBDK 25. 10. 1993, Bkv 7/92 AnwBl 1994, 531 und 30. 10. 1998, Bkv 5/98 AnwBl 1999, 175). In diesem Fall ist daher nicht auf eine rückwirkende Eintragung zu erkennen, sondern auszusprechen, ob und gegebenenfalls in welchem Zeitraum die Voraussetzungen für die Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter vorgelegen sind.

3.2. Zum Erfordernis der Tätigkeit bei einem Rechtsanwalt im Inland:

[22] 3.2.1. Die Voraussetzungen für die Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter sind in § 30 Abs 1 RAO wie folgt geregelt:

„Um die Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter zu erwirken, ist beim Eintritt in die Praxis bei einem Rechtsanwalt die Anzeige an den Ausschuss unter Nachweis der österreichischen Staatsbürgerschaft […] und dem Nachweis des Abschlusses eines Studiums des österreichischen Rechts (§ 3) zu erstatten. Die Zeit der praktischen Verwendung bei einem Rechtsanwalt (§ 2 Abs 2) wird erst von dem Tag des Einlangens dieser Anzeige angerechnet.“

[23] 3.2.2. Zwar fehlt in § 30 Abs 1 erster Satz RAO eine ausdrückliche Bestimmung, dass der Eintritt in die Praxis bei einem Rechtsanwalt „im Inland“ erfolgen muss. Allerdings wird das Erfordernis einer Tätigkeit im Inland durch den im nachfolgenden letzten Satz des § 30 Abs 1 RAO enthaltenen Verweis auf § 2 Abs 2 RAO hinreichend deutlich klargestellt, der (als Voraussetzung für die Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte) Folgendes bestimmt:

„Die praktische Verwendung im Sinn des Abs 1 hat fünf Jahre zu dauern. Hievon sind im Inland mindestens sieben Monate bei Gericht oder einer Staatsanwaltschaft und mindestens drei Jahre bei einem Rechtsanwalt zu verbringen.“

[24] 3.2.3. Diese im Inland zu verbringende Zeit der praktischen Verwendung wird auch als „Kernzeit“ bezeichnet. Daneben sieht § 2 Abs 3 RAO die Möglichkeit sogenannter „Ersatzzeiten“ vor, nämlich von Verwendungszeiten, die nicht zwingend bei Gericht, einer Staatsanwaltschaft oder einem Rechtsanwalt im Inland zu verbringen sind:

„Auf die Dauer der praktischen Verwendung, die nicht zwingend bei Gericht, einer Staatsanwaltschaft oder einem Rechtsanwalt im Inland zu verbringen ist, sind auch anzurechnen:

1. Zeiten einer an ein Studium des österreichischen Rechts (§ 3) anschließenden universitären Ausbildung bis zum Höchstausmaß von sechs Monaten, wenn damit im Zusammenhang ein weiterer rechtswissenschaftlicher akademischer Grad erlangt wurde;

2. eine im Sinn des Abs 1 gleichartige praktische Verwendung im Ausland, wenn diese Tätigkeit für die Ausübung der Rechtsanwaltschaft dienlich gewesen ist;

3. eine sonstige praktische rechtsberufliche Tätigkeit im In- oder Ausland, wenn diese Tätigkeit für die Ausübung der Rechtsanwaltschaft dienlich gewesen ist und sie unter der Verantwortung einer entsprechend qualifizierten Person oder Stelle erfolgt ist.“

[25] 3.2.4. Die Möglichkeit zur Verbringung von Ersatzzeiten im Ausland wurde mit der RAO Novelle 1973 (BGBl 1973/570) durch Einfügung von § 2 Abs 3 RAO (mit dem im Wesentlichen selben Wortlaut wie der nunmehrige § 2 Abs 3 Z 2 RAO) geschaffen (gleichzeitig mit der Verkürzung der praktischen Verwendungszeit von sieben auf fünf Jahre). Bis dahin konnte die erforderliche Praxiszeit nur bei einem Rechtsanwalt im Inland geleistet werden. Der in § 30 Abs 1 RAO erwähnte „Eintritt in die Praxis bei einem Rechtsanwalt“ konnte sich daher nur auf eine im Inland gelegene Rechtsanwaltspraxis beziehen.

[26] 3.2.5. 1973 wurde nur § 2 RAO, nicht aber § 30 RAO geändert. Insbesondere wurde keine Regelung geschaffen, dass der „Eintritt in die Praxis bei einem Rechtsanwalt im Ausland“ ebenfalls die Möglichkeit der Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte bieten sollte. Daraus ergibt sich aber, dass eine Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte weiterhin nur bei Eintritt in eine im Inland gelegene Rechtsanwaltspraxis möglich ist. Mit anderen Worten: Die Tätigkeit bei einem Rechtsanwalt im Ausland konnte schon seit 1973 nur als Ersatzzeit angerechnet werden, wenn diese Verwendung für die Ausübung der Rechtsanwaltschaft dienlich gewesen ist.

[27] 3.2.6. Außerdem ist unter dem noch auf die Advocatenordnung 1868 zurückgehenden Begriff „Praxis“ nach maßgeblichen Auslegungsregeln (§ 6 ABGB) eine Arbeitsstätte zu verstehen. Anders als nach der von der Erstberufungswerberin gewünschten Lesart der Verbringung der Praxiszeit bei einem „inländischen Rechtsanwalt“ (wo immer dieser auch seine Arbeitsstätte haben mag) wird dadurch ein geographischer Inlandsbezug zum Ausdruck gebracht.

[28] 3.2.7. Im vorliegenden Fall war Dienstgeberin der Erstberufungswerberin eine Rechtsanwalts-Gesellschaft nach dem Recht des US Bundesstaats Ohio, die über eine Niederlassung in Frankfurt am Main verfügt, wo auch der Dienstort der Erstberufungswerberin war. Die Erstberufungswerberin ist daher in eine Praxis in Deutschland eingetreten. Auf ihren Dienstvertrag waren deutsches Arbeitsrecht und die Bestimmungen der deutschen BRAO anwendbar. In dieser Konstellation kann daher nach Ansicht des erkennenden Senats nicht von einer praktischen Verwendung im Inland die Rede sein und zwar selbst dann nicht, wenn die Erstberufungswerberin dort ausschließlich unter Anleitung eines österreichischen Rechtsanwalts im Bereich des österreichischen Rechts tätig war.

[29] Eine solche Tätigkeit von Frankfurt am Main aus kann auch unter Berücksichtigung der modernen Kommunikationsmöglichkeiten nicht jenen Grad an Intensität von Gerichts- und Behördenkontakten ersetzen, den eine Ausbildung in einer Rechtsanwaltspraxis mit dem Sitz in Österreich gewährleistet. Auch erscheint es wenig lebensnah, dass die Erstberufungswerberin zur Verrichtung von Verhandlungen vor österreichischen Gerichten und Behörden eigens von Frankfurt am Main anreist, dies insbesondere unter dem Aspekt, dass die von ihr angestrebte „kleine“ Legitimationsurkunde nur ein sehr eingeschränktes Vertretungsrecht (im Zivilverfahren im Wesentlichen vor den Bezirksgerichten) gewährt.

[30] Zwar besteht für den Bereich des österreichischen Schiedsverfahrensrechts, in welchem der Zweitberufungswerber nach seinen Ausführungen überwiegend tätig ist, keine Anwaltspflicht, sodass dort grundsätzlich eine Vertretung mit „kleiner“ Legitimationsurkunde möglich ist ( Rohregger in Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek , RAO 10 § 15 Rz 23). Dabei handelt es sich allerdings nur um einen kleinen, sehr spezifischen Teil des Spektrums anwaltlicher Tätigkeiten, der die von § 21b Abs 1 RAO geforderte umfassende Ausbildung entsprechend dem Berufsbild des Rechtsanwalts nicht zu vermitteln vermag.

[31] 3.2.8. Nach der ab 1. Jänner 2016 geltenden Neuregelung des § 2 Abs 3 RAO hat der Ausschuss Leitlinien dazu zu beschließen, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Ausmaß praktische Verwendungen im Sinn der Z 2 und 3 des § 2 Abs 3 RAO (somit auch Tätigkeiten im Ausland) angerechnet werden. Dies dient dazu, den Betroffenen die bessere Planbarkeit ihrer praktischen Ausbildung zu gewährleisten (OGH 14. 2. 2017, 19 Ob 4/16a AnwBl 2017, 460 [ Buresch ]). Dementsprechend hält die RAK Wien seit dem Jahr 2016 auf ihrer Website https://www.rakwien.at/userfiles/file/Formulare/Kriterienkatalog_A_B(2).pdf einen Kriterien-katalog für die Anerkennung von Berufspraktika bereit, dessen Punkt 2. zu entnehmen ist, dass ein Berufspraktikum, das nicht im Inland bei einem österreichischen Rechtsanwalt absolviert wird, nur auf Ersatzzeiten angerechnet werden kann. Die Praxis der RAK Wien musste daher den Berufungswerbern bekannt sein. Die von der Erstberufungswerberin im Zeitraum vom 14. Jänner 2022 bis 31. August 2022 beim Zweitberufungswerber verbrachte Zeit der praktischen Verwendung erfüllt daher zweifellos und im Verfahren auch unstrittig die Voraussetzungen der Anrechnung auf eine Ersatzzeit im Sinne des § 2 Abs 3 Z 2 RAO, nicht aber auf die Kernzeit.

[32] 3.2.9. Die Auslegung, dass nur die bei einem Rechtsanwalt im Inland verbrachte Dauer der praktischen Verwendung auf die Kernzeit anzurechnen ist und dass die bei einem inländischen Rechtsanwalt mit dem Kanzleisitz im Ausland verbrachte Verwendungszeit dafür nicht ausreichend ist, erscheint dem erkennenden Senat auch deshalb sachgerecht, weil sich sonst unlösbare Fragen stellen würden, in welchem ausländischen Staat der Ausbildungsanwalt seinen Kanzleisitz haben und der Dienstort des Rechtsanwaltsanwärters gelegen sein darf. Beispielsweise wäre etwa sachlich nicht überzeugend differenzierbar, ob dafür nur das deutschsprachige Ausland, die Nachbarländer Österreichs, der Bereich der Europäischen Union, der europäische Kontinent oder ein Kanzleisitz/Dienstort weltweit in Frage käme.

[33] 3.2.10. Letztgenannte Überlegung unterstreicht überdies, dass am Erfordernis des Eintritts in eine im Inland gelegene Rechtsanwaltspraxis auch aus Gründen der Berufsüberwachung festzuhalten ist:

[34] Der Wirkungsbereich der RAK erstreckt sich auf das Bundesland, für das sie errichtet wurde, sowie auf alle Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter, die in die Listen dieser RAK eingetragen sind (§ 23 Abs 1 RAO). Nach § 23 Abs 2 RAO hat die RAK innerhalb ihres Wirkungskreises Aufsichts- und Überwachungspflichten gegenüber ihren Mitgliedern. Dies umfasst auch Überprüfungen, ob die geforderte fachliche und insbesondere standesrechtliche Berufsausbildung gewährleistet ist ( Vitek in Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek , RAO 10 § 30 Rz 3).

[35] Nach § 21b Abs 1 RAO hat der Rechtsanwalt für eine umfassende Ausbildung des Rechtsanwaltsanwärters entsprechend dem Berufsbild des Rechtsanwalts Sorge zu tragen. § 21b Abs 2 RAO verpflichtet den Rechtsanwalt insbesondere dazu, den Rechtsanwaltsanwärter durch geeignete Maßnahmen, die in einem angemessenen Verhältnis zu seiner konkreten Geschäftstätigkeit und Art und Größe seiner Kanzlei stehen, mit den Bestimmungen, die der Verhinderung oder der Bekämpfung der Geldwäscherei oder der Terrorismusfinanzierung dienen, vertraut zu machen.

[36] Die Aufsichts- und Überwachungspflicht der Rechtsanwaltskammer umfasst auch Überprüfungshandlungen unmittelbar beim Rechtsanwalt (§ 23 Abs 2 RAO), der den Überprüfungsorganen des Ausschusses Zutritt zur Kanzlei zu gewähren hat ( Gartner in Murko/Nunner Krautgasser [Hrsg], Anwaltliches und notarielles Berufsrecht, § 1 DSt Rz 186).

[37] Bei einem Dienstort eines Rechtsanwalts-anwärters im Ausland müsste die Wahrnehmung dieser Aufsichts- und Überwachungspflichten aber schon an den territorialen Grenzen des Wirkungsbereichs einer österreichischen RAK scheitern und wäre überdies auch praktisch entscheidend erschwert.

[38] Aus dem Umstand, dass der Ausschuss dem Eintragungsantrag eines anderen beim Zweitberufungswerber beschäftigten Mitarbeiters in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter früher stattgegeben und das Gesetz möglicherweise unrichtig angewendet hat, kann die Zweitberufungswerberin keine Rechte ableiten.

3.3. Zu den behaupteten sekundären Feststellungsmängeln:

[39] Aus den oben dargelegten rechtlichen Gründen erweisen sich die von der Erstberufungswerberin geltend gemachten fehlenden Sachverhaltsfeststellungen, nämlich zur Tätigkeit der Erstberufungswerberin ausschließlich im österreichischen Recht, zur Erteilung von Arbeitsaufträgen ausschließlich durch den Zweitberufungswerber, der alleine gegenüber der Erstberufungswerberin weisungsbefugt war, zur Bezahlung aller Kammerumlagen durch den Zweitberufungswerber, zu dessen früheren Zugehörigkeit zum Disziplinarrat, zur Durchführung der Abwesenheitsmeldung nach Rücksprache mit der RAK, als nicht entscheidungswesentlich.

3.4. Keine verfassungsrechtlichen Bedenken:

[40] 3.4.1. Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hatte in seinem Erkenntnis vom 16. Dezember 1998, B 261/97, keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 2 RAO, soweit daraus die Ablehnung der Anrechnung von Tätigkeiten bei Anwaltskanzleien in New York und Frankfurt am Main auf die Kernzeit abgeleitet wurde.

[41] 3.4.2. Zuletzt sprach der VfGH in seinem Erkenntnis vom 24. Juni 2010, B 538/09, im Zusammenhang mit einem Antrag auf Zulassung zur Rechtsanwaltsprüfung eines nicht in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter eingetragenen italienischen und deutschen Staatsbürgers mit einem in Österreich abgeschlossenen Studium der Rechtswissenschaften aus, dass es dem Gesetzgeber freistehe, für bestimmte Berufe Vorgaben für die Ausbildung festzulegen. Es bestünden keine Zweifel, dass der innerstaatliche Gesetzgeber berechtigt sei, als Voraussetzung für die Zulassung zur Rechtsanwaltsprüfung ein Minimum an praktischer Verwendung bei einem Rechtsanwalt im Inland und die Eintragung in eine Liste der Rechtsanwaltsanwärter zu normieren. Auch unter dem Gesichtspunkt der Niederlassungsfreiheit stimme die in der RAO und im RAPG geforderte praktische Verwendung in ihrer Ausgestaltung mit dem Unionsrecht überein („acte clair“), sodass keine Vorlagepflicht bestehe.

[42] 3.4.3. Im Lichte dieser Rechtsprechung hat der erkennende Senat keine Bedenken dahin, dass es nicht im gestaltungspolitischen Spielraum des Gesetzgebers liegen solle, im Rahmen der Festlegung von Ausbildungsvorgaben eine Mindestdauer für die Ausbildung im Inland zu bestimmen. Der Erstberufungswerberin ist es nicht verwehrt, einen Teil ihrer praktischen Verwendungszeit im Ausland zu verbringen (§ 2 Abs 3 Z 2 RAO), die als „Ersatzzeit“ angerechnet werden kann. Die vom Gesetzgeber vorgenommene Differenzierung, dass die „Kernzeit“ hingegen im Inland verbracht werden muss, erscheint dem erkennenden Senat nicht unsachlich. Es bestehen folglich auch keine Zweifel, dass der vom Ausschuss der RAK Wien beschlossene Kriterienkatalog für die Anerkennung von Berufspraktika gesetzmäßig ist.

III. Begründung der Vorlage:

[43] 1. Die Erstberufungswerberin sieht sich in ihrer Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkt, weil es ihr durch ihre bloße physische Anwesenheit in Deutschland trotz ausschließlicher Beschäftigung mit österreichischem Recht verwehrt sei, für einen österreichischen Rechtsanwalt als Rechtsanwaltsanwärterin tätig zu werden. Da es für diese Beschränkung auch keine Rechtfertigung gebe, liege eine Verletzung von Art 45 AEUV ( in eventu: Art 49 AEUV) vor. Die Erstberufungswerberin beruft sich dabei insbesondere auf das Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, C 218/19, Onofrei .

[44] 2. Die Entscheidung dieser Frage und damit die Beurteilung der Berufung der Erstberufungswerberin hängt entscheidend davon ab, ob die von § 2 RAO angeordnete Differenzierung, wonach ein Teil der praktischen Ausbildungszeit eines Berufsanwärters zwingend im Inland zu verbringen ist („Kernzeit“), auch dann gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit verstößt, wenn ein anderer Teil der praktischen Ausbildungszeit als „Ersatzzeit“ ohnedies im Ausland verbracht werden kann.

[45] 3.1. Vorauszuschicken ist, dass dem Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020, C 218/19, Onofrei , nicht der Fall einer Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter, sondern die Zulassung als Rechtsanwalt und die Eintragung in eine französische Anwaltskammer zugrundelag. Nach den anwendbaren französischen Rechtsvorschriften sind von der theoretischen und praktischen Ausbildung sowie vom Befähigungsnachweis für den Rechtsanwaltsberuf Beamte und ehemalige Beamte […] befreit, die in dieser Eigenschaft mindestens acht Jahre lang juristische Tätigkeiten in einer Verwaltung, im öffentlichen Dienst oder in einer internationalen Organisation ausgeübt haben. Frau Onofrei war hingegen als Beamtin der Europäischen Kommission im Bereich des Unionsrechts tätig gewesen und hatte nationales Recht nicht praktiziert.

[46] 3.2. Der Gerichtshof hat in dieser Entscheidung ausgesprochen, dass die Voraussetzungen für den Zugang zum Rechtsanwaltsberuf von Personen, die in keinem Mitgliedstaat zur Ausübung dieses Berufs zugelassen sind, bisher nicht auf Unionsebene harmonisiert sind, sodass die Mitgliedstaaten weiterhin für die Festlegung dieser Voraussetzungen zuständig sind. Daraus folgt, dass das Unionsrecht der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die den Zugang zum Rechtsanwaltsberuf vom Besitz der für notwendig erachteten Kenntnisse und Fähigkeiten abhängig macht. Diese Befugnisse der Mitgliedstaaten sind jedoch unter Beachtung der durch den AEU Vertrag garantierten Grundfreiheiten auszuüben.

[47] 3.3. Der Gerichtshof hatte schon in seinem Urteil vom 30. 11. 1995, C 55/94, Gebhard , ausgesprochen, dass innerstaatliche Regelungen, die den Berufsantritt beschränken, grundsätzlich zulässig sind, aber in nichtdiskriminierender Weise angewendet werden müssen (Rn 35 ff). Dabei ging es um einen deutschen Staatsangehörigen, der in Deutschland als Rechtsanwalt eingetragen war, in Bürogemeinschaft in Italien praktizierte und sich dort eintragen lassen wollte. In dieser Entscheidung hat der Gerichtshof unter dem Gesichtspunkt der Niederlassungsfreiheit (Art 49 AEUV) herausgearbeitet, dass die nationalen Maßnahmen vier Voraussetzungen erfüllen müssen:

[48] 3.4. In dem schon erwähnten Urteil vom 17. 12. 2020, C 218/19, Onofrei , hat der Gerichtshof anerkannt, dass zum einen der Schutz der Verbraucher, ua der Empfänger juristischer, von Organen der Rechtspflege erbrachter Dienstleistungen, und zum anderen eine geordnete Rechtspflege Ziele darstellen, die als zwingende Gründe des Allgemeininteresses angesehen werden können und mit denen sich eine Beschränkung sowohl des freien Dienstleistungsverkehrs als auch der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen lässt (Rn 34).

[49] 3.5. Hingegen ist aus der Entscheidung des Gerichtshofs vom 17. 3. 2005, C 109/04, Kranemann , für den vorliegenden Fall nichts zu gewinnen: Dabei ging es darum, dass einem deutschen Referendar, der seine Vorbereitungszeit in England ableistete und diesem dafür keine höheren Fahrtkosten bezahlt wurden als innerhalb Deutschlands. Dies verstieß nach Auffassung des Gerichtshofs gegen den Grundsatz der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 45 AEUV).

[50] 4.1. Im vorliegenden Fall geht es aber weder um finanzielle Ansprüche noch um den Nachweis bestimmter Kenntnisse und Fähigkeiten als Eintragungsvoraussetzung. Präjudiziell ist die Frage, ob eine innerstaatliche Bestimmung, wonach ein Teil der praktischen Ausbildungszeit eines Berufsanwärters zwingend im Inland zu verbringen ist („Kernzeit“), gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit verstößt, wenn ein anderer Teil der praktischen Ausbildungszeit („Ersatzzeit“) ohnedies im Ausland verbracht werden kann (siehe III.2.).

[51] 4.2. Diese von § 2 RAO angeordnete Differenzierung scheint dem erkennenden Senat aus den folgenden Überlegungen sachgerecht und in Übereinstimmung mit den Wertungen des Unionsrechts zu stehen:

[52] 4.2.1. Die Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde („Rechtsanwalts-Niederlassungsrichtlinie“) regelt, unter welchen Voraussetzungen sich ein ausländischer Rechtsanwalt im Inland ständig niederlassen darf. Nach ihren Erwägungsgründen (3) und (14) darf nach dreijähriger effektiver und regelmäßiger Tätigkeit im Aufnahmestaat angenommen werden, dass der betreffende Rechtsanwalt die erforderliche Eignung erworben hat, um sich voll in den Berufsstand des Aufnahmestaats zu integrieren. Demgemäß wird gemäß Art 10 Abs 1 der Rechtsanwalts- Niederlassungsrichtlinie der Rechtsanwalt, der unter seiner ursprünglichen Berufsbezeichnung tätig ist und eine mindestens dreijährige effektive und regelmäßige Tätigkeit im Aufnahmestaat im Recht dieses Mitgliedstaats nachweist, von den in Art 4 Abs 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/48/EWG vorgesehenen Voraussetzungen freigestellt.

[53] 4.2.2. Diese unionsrechtliche Vorgabe wurde durch § 18 Abs 1 EIRAG in Österreich umgesetzt. Nach dieser Bestimmung ist in die Liste der Rechtsanwälte einzutragen, wer eine mindestens dreijährige effektive und regelmäßige Tätigkeit als niedergelassener europäischer Rechtsanwalt in Österreich auf dem Gebiet des österreichischen Rechts, einschließlich des Gemeinschaftsrechts, nachweist.

[54] 4.2.3. Das Unionsrecht fordert daher nicht nur Kenntnisse des lokalen Rechts, sondern auch eine lokale Tätigkeit. Durch eine bloße Tätigkeit im Bereich des österreichischen Rechts vom Ausland aus wird diesem Erfordernis nicht entsprochen. Hintergrund der geforderten mindestens dreijährigen effektiven und regelmäßigen Tätigkeit in Österreich ist ganz offensichtlich die Überlegung, dass nur so die erforderlichen praktischen Erfahrungen für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs im Inland gewonnen werden können. Wenn diese Überlegungen schon auf Rechtsanwälte zutreffen, die in ihrem Herkunftsland schon über eine Berufsbefugnis verfügen und dort schon praktisch tätig waren, muss dies umso mehr für noch in Ausbildung befindliche Berufsanwärter gelten, die noch über keine praktische Berufserfahrung verfügen.

[55] 4.2.4. Schließlich ist nochmals auf die Problematik zu verwiesen, dass einer österreichischen RAK eine effiziente Wahrnehmung der sie treffenden Berufsüberwachungspflichten im Ausland nicht möglich ist (siehe dazu II.3.2.10.) und damit ihre Befugnisse als Selbstverwaltungskörper beschnitten würden.

[56] 5. Wenngleich also der erkennende Senat die unionsrechtlichen Bedenken der Erstberufungswerberin nicht teilt, so scheint zur präjudiziellen Rechtsfrage (siehe III.2.) doch kein „acte clair“ vorzuliegen. Es erscheint daher im Interesse einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts geboten, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.

IV. Verfahrensaussetzung:

[57] Der Ausspruch über die Aussetzung des Verfahrens betreffend die Erstberufungswerberin gründet auf § 90a Abs 1 GOG.

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